Von der Emigration zur Immigration
Tausende von Schweizern mussten in der Vergangenheit die Heimat verlassen, um im Ausland Arbeit zu suchen. Heute ist die Situation umgekehrt: Ausländerinnen und Ausländer suchen in der Schweiz Asyl, Arbeit und eine neue Heimat.
Eine Ausstellung in Lausanne stellt Schweizer Emigration und Immigration einander gegenüber.
«Es ist viel schwieriger auszuwandern als im eigenen Heimatland zu bleiben.» Oder: «Ich rate niemandem, das Abenteuer der Emigration einzugehen; es sei denn, die jeweilige Person hat einen starken Willen und hohes Selbstvertrauen.»
Dies sind Zitate von Migranten – Auswanderern von einst und heute. Es sind Menschen, die vor mehr als 100 Jahren eine strapaziöse und gefährliche Reise auf sich nahmen, um in Amerika ihr Glück zu suchen. Heute suchen Personen aus aller Welt, die in der Schweiz nach einem besseren Leben.
Die Ausstellung «Zwischen zwei Welten: 1803-2003», die bis zum 2. November im Historischen Museum von Lausanne zu sehen ist, stellt die diversen Auswanderer-Epochen einander gegenüber. Die Unterschiede von einst und heute, so die Botschaft der Ausstellung, sind gar nicht so gross.
Schmerz und Hoffnung bei der Suche nach dem Glück
Die Ausstellung verläuft in Spiralen-Form. In einem Ausstellungssaal des Museums sind die Informationen als Wandzeitung angeordnet, die sich wie ein Patchwork vom Boden zur Decke zieht. Dokumente, Bilder und Texte sind verwoben.
Die grosse Emigration beginnt in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Verlaufe weniger Jahre machen sich mehr als eine halbe Million Frauen, Männer und Kinder auf den langen Weg nach Übersee. Die Ziele sind Argentinien, USA und Kanada. Es ist ein Aufbruch in Richtung unbekannt, auf der Suche nach einem neuen Leben.
Entlang der «Ausstellungsspirale» gibt es immer wieder kleine, dunkle Räume, in die man sich zurückziehen kann. Hier lassen sich Briefe von Auswanderern an ihre zu Hause gebliebenen Verwandten hören – vorgelesen und aufgezeichnet von professionellen Schauspielern.
So hört man vom Hunger und der Kälte auf den transatlantischen Schiffen. Es geht um die Gefühlslage in einem Land, deren Sprache und Kultur man nicht versteht, und den Schmerz, von Frau und Familie getrennt zu sein. Hoffnungen auf eine baldige Rückkehr stehen im Kontrakt zur Gewissheit, noch lange im Ausland bleiben zu müssen.
Traumdestination Amerika
Allein aus dem Tessin emigrierten zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts und Mitte des 20. Jahrhunderts rund 17 Prozent der Bevölkerung. Es ist nur ein kleiner Teil der gesamteuropäischen Auswandererwelle. In 100 Jahren sind rund 55 Millionen Menschen emigriert. Nur ein Viertel kehrte in die Heimat zurück.
Die Ausstellung zeigt auch düstere Seiten der Schweizer Emigration auf: Beispielsweise die Politik einiger Innerschweizer Gemeinden, die ihren armen Mitbürgern die Reise nach Amerika bezahlten, nur um sie los zu werden. Man sieht Fotos von abgemagerten Gesichtern mit leeren Blicken.
Bilder zeigen auch Ellis Island in New York, das Tor der Hoffnung, der Eingang nach Amerika. Da sehen wir schliesslich auch die vielen helvetischen Verbände, die in der neuen Heimat entstanden sind. Eine Unzahl von Namen und Bildern von Menschen voller Hoffnung. Da sind Orte, die in der Erinnerung an die Heimat Bern, Lausanne und Genf getauft werden, sich aber doch in Kansas, Louisiana und Florida befinden.
Die heutige Realität in der Schweiz
Ganz analog und doch unter anderen Vorzeichen präsentiert sich heute die Situation für Flüchtlinge aus Afrika oder dem Fernen Osten, die ihr Glück in der Schweiz suchen, welche inzwischen zu einem der reichsten Länder der Erde geworden ist. Wir sehen Bilder von Flüchtlingen, die der Fotograf Erling Mandelmann vielleicht auf etwas allzu schönem Hochglanzpapier realisiert hat.
Aber wir hören ihre unverfälschten Stimmen – erbarmungslose Interviews, wie das von Hacène aus Algerien: «Wenn ich richtig verstanden habe, funktioniert die Integration bei Euch mittels Arbeit. Wenn wir uns für die Arbeit aufopfern, werden wir gut akzeptiert, auch wenn wir von diesem Land nichts lernen. Es ist wichtig Arbeit zu verrichten, die kein Schweizer mehr machen will, vor allem gut zu putzen. Und wenn wir keine Gegenleistung vom Staat verlangen, werden wir natürlich gut akzeptiert.»
Schweigen der Wände
Die Wissenschafter Marina Marengo und Claude Muret , die die Ausstellung betreut haben, waren beeindruckt „von der Ähnlichkeit der Erfahrungen der Emigranten von einst und Immigranten von heute.“
Und doch fällt ein grosser Unterschied ins Auge. Den Wandzeitungen, die in Hülle und Fülle über die Erfahrungen der Schweizer Auswanderer in ihrer neuen Heimat berichten, steht kein aktuelles Pendant gegenüber. Die Statistiken zur jüngsten Immigration fehlen. Recherchen und Dokumente von Flüchtlingshilfs-Organisationen sind nicht reproduziert.
Am Ende der Ausstellung berührt aber ein Satz: «Die Schweiz teilt die Welt in zwei ungleiche Teile: Europa und den Rest der Welt. Nicht-europäische Flüchtlinge haben noch die Möglichkeiten: Asyl oder Abtauchen.» Oder einen dritten Weg, den eine am Ausgang aufgelegte Broschüre des Bundesamtes für Flüchtlinge propagiert.
Dieser Weg heisst «SwissRepat, Rückkehrunterstützung des Bundes.» Es ist eine Dienstleistung der Schweiz, um «unerwünschte Personen» abzuschieben. Es handelt sich um eine schweizerische Spezialität, für die die Eidgenossenschaft im Jahresbericht 2003 von Amnesty International erwähnt wurde.
swissinfo, Serena Tinari, Lausanne
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
Zwischen 1850 und 1950 emigrierten:
55 Millionen Europäer
500’000 Schweizer
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch