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Die heimliche Revolution in den Glarner Alpen

Politisiert durch Stimmrecht 16: Pascal Vuichard auf dem Glarner Zaunplatz, wo die Bürgerinnen und Bürger an der Landsgemeinde vor zehn Jahren zwei historische Entscheide fällten. Cora Pfafferott

So mutig können Schweizer Bergler sein: Vor zehn Jahren senkten die Stimmbürger von Glarus das Stimmrechtsalter für kantonale Vorlagen von 18 auf 16 Jahre. Diese Ausweitung der Demokratie blieb bis heute einzigartig in der Schweiz. Ein Resultat davon: Umtriebige Jung-Politiker, die nicht nur die Glarner Politlandschaft prägen, sondern auch auf der nationalen Bühne mitmischen.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.

Selbstbewusst schiebt Leana Meier ihr Moped an diesem nasskalten Apriltag über die Zaunstrasse von Glarus, dem Hauptort des gleichnamigen Kantons im Osten der Schweiz. Den Führerschein hat die 14-Jährige vor einem Monat gemacht.

Für das Abstimmen und Wählen muss Leana aber noch zwei Jahre warten. Dafür wird es dann etwas Besonderes sein. Denn nur im Kanton Glarus können innerhalb der Schweiz bereits 16-Jährige politisch mitentscheiden. Und das seit dem 6. Mai 2007.

Anders sieht es für Laura aus, die ich im Jugendhaus Glarus treffe, wo sie sich mit Freundin Lucia ein Duell in Tischfussball liefert: Die Oberschülerin, eben 16 Jahre alt geworden, steht vor ihrer Feuertaufe als Stimmbürgerin. «Das Stimmrecht zu erhalten, bedeutet Vertrauen zu bekommen. Es ist ein Privileg, aber auch eine grosse Verantwortung», sagt Laura.

Die Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters wird heute weltweit diskutiert. Dabei ist der Impuls von einem Schweizer Kanton ausgegangen, der die direkte Demokratie auch heute noch in seiner vormodernen Form der Versammlungsdemokratie praktiziert, der so genannten Landsgemeinde. 

Was hat sich aber in Glarus seit dem äusserst knappen Volksentscheid von 2007 verändert? Beteiligen sich mehr junge Menschen an den politischen Entscheiden? Sind die Volksentscheide mutiger geworden?

Pascal Vuichard verkörpert das, worauf sich die Schweizer Jungsozialisten bezogen, als sie 2005 eine Initiative zur Einführung des Stimmrechtalters 16 lancierten: Damit sollten die interessierten und engagierten Jugendlichen für eine aktive Teilnahme am politischen Geschehen gewonnen werden.

Die neue Generation Stimmrecht 16: Laura (links) und Lucia wärmen sich mit Tischfussball auf für ihren ersten Einsatz als Glarner Stimmbürgerinnen. Cora Pfafferott.

Bei Pascal Vuichard hat das voll eingeschlagen. Vor drei Jahren gründete er gemeinsam mit Kollegen die Grünliberale Partei im Kanton Glarus. Heute ist Pascal Vuichard Kantonalpräsident und Co-Präsident der Jungen Grünliberalen der Schweiz. Zudem organisiert er das Glarner Jugendparlament, das Teenager auf den Geschmack der kantonalen Politik bringen soll.

Der grosse Push

«Der Entscheid für das Stimmrecht 16 hat mich unheimlich motiviert, in die Politik zu gehen. Auch hat er mich sehr stolz gemacht. Denn der Kanton Glarus hat in der Schweiz ein eher rückständiges Image. Dass wir uns für Stimmrecht 16 entschieden haben war progressiv und hat gezeigt, dass sich auch hier politisch etwas bewegen lässt», sagt Vuichard, der heute an der Universität St. Gallen eine Doktorarbeit in Betriebswirtschaft schreibt.

Regionaljournal Radio SRF: Streit ums Stimmrechtsalter 16Externer Link

Glarus ist nicht irgendeiner der 26 Kantone der Schweiz: Hier werden die Gesetze weiterhin durch die LandsgemeindeExterner Link gemacht. Einmal im Jahr, jeweils am ersten Sonntag im Mai, versammeln sich mehrere tausend Bürgerinnen und Bürger des Kantons auf dem «Zaunplatz», dem grossen Platz im Zentrum des Hauptortes, und stimmen ab.

Ihr Zeichen, die erhobene Hand, ist für alle sichtbar. Ein Stimm- oder Wahlgeheimnis gibt es nicht. Der Landammann, wie der Präsident der Kantonsregierung genannt wird, befindet über die Mehrheit.

Der Kanton Glarus zählt zu den kleineren Teilstaaten der Schweiz. Zentral gelegen, leben gerade einmal 40’000 Menschen in den engen Tälern zwischen den schroff aufsteigenden Glarner Alpen. Davon sind 26’500 stimmberechtigt.

Zu ihnen gehörte auch der heute 32 Jahre alte Marco Kistler. Er war zusammen mit den Jungsozialisten Glarnerland verantwortlich für den Antrag zur Einführung des Stimmrechsalter 16. Den JUSO war 2006, also im Jahr davor, an der Landsgemeinde ein noch viel spektakulärerer Coup gelungen: die radikale Fusion der 25 Glarner Gemeinden zu nur noch drei Grossgemeinden – ein einzigartiger Entscheid in der modernen Schweiz.

Der lange Weg zu mehr Mitsprache

Im revolutionären Übermut hatte die Islamische Republik Iran nach der Vertreibung des Schahs das nationale Wahlrechtsalter auf 15 Jahre gesenkt. Eine Signalwirkung ging davon allerdings nicht aus. Im Gegenteil: 2007 wurde in Iran das Stimmrechtsalter wieder auf 18 Jahre angehoben. Dieses gilt derzeit weltweit als eine Art Standard, wobei Länder wie Japan diesen Schritt erst kürzlich vollzogen.

Die Senkung des Stimmrechtsalters ist weltweit schrittweise erfolgt. Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts galt fast überall noch Stimmrechtsalter 20. Dann folgte die Absenkung auf 18. Und jetzt steht Stimmrecht 16 an: neben dem Schweizer Kanton Glarus und Österreich kennen dies auch Schottland, Malta und mehrere Bundesstaaten in DeutschlandExterner Link. In Skandinavien, insbesondere Norwegen, werden derzeit Versuche mit dem tieferen Wahlrechtsalter auf kommunaler Ebene durchgeführt.

Diese Erfolge machten Mut: Der Jungsozialist Kistler schaffte den Sprung in die Exekutive der neugeschaffenen Grossgemeinde Glarus-Nord, wo ihm sechs bürgerliche Kollegen zur Seite standen und später auch ins Kantonsparlament.  

Seither ging es immer weiter für Marco Kistler, der davon überzeugt ist, dass «es tiefgreifende Veränderungen» in unserer Gesellschaft brauche. In den letzten Jahren machte er sich einen Namen als Kampagnenleiter von sozialpolitischen Volksinitiativen, die an der Abstimmungsurne zwar nicht mehrheitsfähig waren, aber für grosse öffentliche Debatten sorgten: so etwa die von ihm miterfundene 1:12-Initiative, welche exzessive Lohnunterschiede eindämmen wollte.

«Stimmrecht heisst Verantwortung»

Tradition und Fortschritt bilden in Glarus nur auf den ersten Blick einen Widerspruch. Wohl werden an der Landsgemeinde vormoderne Sitten und Bräuche gepflegt: So etwa der pünktliche Einmarsch des Landammanns (Regierungschefs), der sich während der Versammlung auf ein altes Schwert stützt, wie auch das abschliessende gemeinsame Kalberwurstessen. Gleichzeitig ist das Glarner Stimmvolk offen für Neues.

Basel macht den zweiten Schritt

Trotz der Verjüngungskur durch Stimmrecht 16 ist Glarus Glarus geblieben. Zu der von manchen befürchteten, von anderen erhofften Revolution ist es nicht gekommen. Die demokratiepolitische Evolution hat funktioniert.

So auch in Österreich, dem östlichen Nachbarland der Schweiz, wo sich die 16- bis 18-Jährigen seit 2008 am politischen Geschehen auf Augenhöhe mit allen Älteren betätigen können. Wissenschaftliche Untersuchungen machen deutlich, dass die Stimmrechtsreform einerseits das Interesse der Jungen für die Politik gestärkt hat. Andererseits jedoch stellten die Forscher kaum spürbare Unterschiede im Stimmverhalten fest.

In der Schweiz wird die Senkung des Stimmrechtsalters jetzt auch andernorts Thema: Im Kanton Basel-Landschaft kommt im Herbst eine entsprechende Volksinitiative der Jungsozialisten zur Abstimmung. Und im Kanton Freiburg will die Regierung ebenfalls das Stimmrecht 16 einführen – zur Revitalisierung der Politik auf lokaler Ebene. 

In Aussenminister Didier Burkhalter haben die Befürworter der Reform einen prominenten Fürsprecher auf nationaler Ebene: «Ich befürworte den Grundsatz des Stimmrechtsalters 16, da dadurch die Verantwortung der Jugend für unsere Schicksalsgemeinschaft gefördert werden kann.»

Cora Pfafferott ist Pressesprecherin von Democracy InternationalExterner Link und leitet die Geschäftsstelle der Schweizer Demokratie StiftungExterner Link.

Bruno Kaufmann ist internationaler Demokratie-Korrespondent von swissinfo.ch.

Stimmrechtsalter 16 – ja oder nein? Was ist Ihre Meinung? Schreiben Sie uns in den Kommentaren. 

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