«Das hochgefährliche Abwracken im Ausland muss gestoppt werden»
Rechtsexperte Mark Pieth fordert, dass der Bundesrat grosse Reedereien mit Sitz in der Schweiz in die Pflicht nimmt. Viele Unternehmen verschrotten ihre Schiffe an ausländischen Stränden unter prekären Bedingungen.
Die Schweiz ist zwar ein Binnenland, doch sie beherbergt einige der grössten Schifffahrtsunternehmen der Welt. Allen voran die Mediterranean Shipping Company (MSC), zweitgrösste Containerschiff-Reederei und drittgrösster Kreuzfahrtschiffbetreiber mit über 500 Schiffen. Daneben existieren viele kleinere Unternehmen. Viele stehen der Rohstoffindustrie nahe. Bekannt ist etwa SwissMarine, das mit seinen 150 Bulk-Schiffen vor allem Kohle und Eisenerz rund um den Globus transportiert.
Mark Pieth ist Schweizer Rechtswissenschaftler und internationaler Antikorruptionsexperte. Er ist Autor von Büchern über Korruption und den Goldhandel in der Schweiz. Sein nächstes Werk handelt von den Herausforderungen in der Schifffahrtsindustrie.
Die enge Verbindung zur internationalen Schifffahrt überrascht nicht: Die Schweiz ist einer der wichtigsten Finanzplätze, der grösste Rohstoffhandelsmarkt sowie ein wichtiger Versicherungs- (Swiss Re, Zürich) und Logistikstandort (Kühne+Nagel, Panalpina). Sie hat eine lange Tradition im internationalen Handel. Eines der ältesten und bekanntesten Unternehmen, UTC (ehemals Basler Missions-Handels-Gesellschaft), hatte seine Zentrale in der Schweiz und eine eigene Flotte von Frachtseglern. Zudem ist das Schiffsregister in Basel das eigentliche Domizil für einen Grossteil der Kreuzfahrtschiffe auf Rhein, Donau und anderen europäischen Flüssen.
Anders als für die Finanzdienstleistungs- oder Pharmabranche gibt es für die Schifffahrtsunternehmen keine Regulierungsbehörde. Drückt der Bundesrat ein Auge zu, weil die Schiffe fernab der Landesgrenzen und in einer rechtlichen Grauzone unterwegs sind? Die Ausnahme bilden die 27 alternden Schiffe, die unter Schweizer Flagge fahren, um in Krisenzeiten die Versorgung des Landes sicherstellen zu können. Doch die Nationalflotte trägt kaum zur Schweizer Wirtschaft bei, ja ist nicht viel mehr als eine Fussnote der Geschichte.
Die grossen Container-, Bulker- und Kreuzfahrtunternehmen umgehen die Regulierung, indem sie unter so genannten Billigflaggen, also Staaten wie Panama, die Marshallinseln und Liberia, fahren. Das erlaubt den Reedereien, Arbeitsnormen und Mindestlöhne zu umgehen, Steuern zu sparen und sich hinter einem dichten Vorhang der Verschwiegenheit zu verstecken. Den Gewerkschaften ist es bisher nicht gelungen, dieser Praxis ein Ende zu setzen. Ein komplexes Geflecht von Finanzakteuren und -transaktionen ermöglicht es der Schweiz als Sitzstaat, sich der Verantwortung zu entziehen.
Oft gehören grosse Containerschiffe einer undurchsichtigen Einzelschiffsgesellschaft, die ihren Sitz zum Beispiel in Hongkong hat. Die Eigentümer und ihre Finanzinstrumente verstecken sich hinter Offshore-Firmen in Staaten wie Panama. Häufig sind die Sicherheitsstandards dieser unter Billigflaggen registrierten Schiffe niedriger als bei solchen, die in den grossen Seefahrernationen angemeldet sind. Sogenannte Klassifikationsgesellschaften sind mit der konkreten Überwachung der Standards im Auftrag der Flaggenstaaten beauftragt. Sie befinden sich aber häufig in einem Interessenkonflikt zwischen ihrer offiziellen Funktion und privater Beratung, ähnlich wie das bei grossen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften der Fall ist.
Um zu verhindern, dass unsichere Schiffe auf den Weltmeeren unterwegs sind, übernehmen die Hafenstaaten eine gewisse Überwachungsfunktion. In der Fachsprache wird das Port State Control genannt. Die grossen Reedereien, die weltweit Hunderte von Schiffen betreiben, haben zwar oft ihren Sitz in der Schweiz, sind aber nicht Teil des Schweizer Regulierungssystems. Stattdessen stehen die Schiffe unter der Aufsicht ihres Flaggenstaates, bei denen es sich meist um Billigflaggen-Länder handelt.
Inwiefern ist dies von Bedeutung? Wenn wir auf grosse Ölkatastrophen zurückblicken (etwa «Deepwater Horizon», «Erika» oder «Prestige»), führen die Spuren der Eigentumsverhältnisse regelmässig nach Zug in der Zentralschweiz. Die Schweiz kann sich kaum auf Unwissenheit berufen, denn während den letzten zehn Jahren sind 90 Schiffe, die von Schweizer Firmen betrieben wurden, an Stränden in Indien, Pakistan und Bangladesch kostengünstig entsorgt worden. Dies wird als «Beaching» bezeichnet.
Gemäss Informationen von NGOs wurden 80 dieser Schiffe, welche von MSC betrieben wurden, für ihre letzte Reise an einen so genannten «Cash Buyer» verkauft, um MSC von jeglicher Verantwortung während des «Beaching»-Vorgangs abzuschirmen.
Die Probleme beim Abwracken von Schiffen an Gezeitenstränden sind bekannt: Giftige Substanzen fliessen ungehindert ins Meer und die Arbeiter sind oft schutzlos Asbest, Quecksilber, Schwermetallen und giftigen Farben ausgesetzt. Die Arbeitsbedingungen sind extrem gefährlich, viel gefährlicher als zum Beispiel in der Bergbauindustrie.
Internationale Verträge wie das Basler Übereinkommen und das so genannte Ban Amendment verbieten den Export von Giftmüll in Entwicklungsländer. Mit der neueren Hongkong-Konvention von 2009 vereinbarten die Mitgliedsstaaten der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (IMO) Richtlinien fürs Recycling von Schiffen und die Arbeitsbedingungen in den Abbruchwerften.
Offiziell gibt die Schweiz an, dass sie nicht für Schiffe unter fremder Flagge verantwortlich ist, auch wenn die Betreiber-Firma ihren Sitz auf Schweizer Territorium hat. Der Bundesrat betrachtet den Verkauf an einen Dritten für die letzte Reise und das Ausflaggen in ein Billigflaggen-Land als rechtskonformes Geschäft und ignoriert dabei völlig, dass das Basler Übereinkommen auch für diejenigen gilt, die den Export von Giftmüll organisieren.
Einmal mehr lässt die Schweiz zu, dass sich eine problematische Industrie innerhalb ihrer Grenzen etabliert und unter dem regulatorischen Radar fliegt.
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