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«Die Angst, die Schweiz verlassen zu müssen, wächst»

Francisca Chukwunyere
Francisca Chukwunyere (58) wurde als Deutsche in Bern geboren. Seit dem 20. Altersjahr hat sie den Schweizer Pass. Zu Beginn ihrer beruflichen Karriere beschäftigte sie sich mit Fragen der Gleichstellung. Seit 20 Jahren ist sie im Bereich Migration tätig. Seit 2010 leitet sie in Bern die isa-Fachstelle Migration (früher Informationsstelle für Ausländerinnen- und Ausländerfragen). Seit 2019 ist sie Mitglied des Berner Stadtparlaments. swissinfo.ch

"Die Pandemie hat die Befürchtungen vieler Einwanderer in der Schweiz verstärkt, ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlieren", sagt Francesca Chukwunyere. Die Integrationsexpertin setzt sich dafür ein, die rechtlichen Einschränkungen von Ausländern, die Sozialhilfe beziehen, auszusetzen. Zumindest in der Wirtschaftskrise, die durch die Covid-19-Pandemie verursacht worden ist.

swissinfo.ch: Was ist heute die grösste Sorge unter den Ausländern und Ausländerinnen, die bei Ihnen Rat suchen?

Francesca Chukwunyere: In Armut zu verfallen und damit verbunden die Angst, die Schweiz deshalb verlassen zu müssen. Die Pandemie hat einen Umstand verschärft, der schon seit einiger Zeit im Verborgenen schlummert: Wir haben mit dem neuen Ausländer- und Integrationsgesetz eine Situation, die viele Menschen dazu veranlasst, gar keine Sozialhilfe mehr in Anspruch zu nehmen. Dies aus Angst, damit ihre Aufenthaltsgenehmigung zu gefährden.

Von wem sprechen Sie konkret?

Von jenen, die unter prekären Arbeitsbedingungen beschäftigt sind. Es sind dies ein grosser Teil der ausländischen Arbeitskräfte in temporären Arbeitsverhältnissen oder die sogenannten Working Poor. Also insbesondere Familien mit minimalen Einkommen, die zwei oder drei Löhne benötigen, um ihre Kinder zu ernähren.

Sie sind doppelt und dreifach von der Pandemie betroffen. Sie sind die ersten, die man entlässt oder deren Arbeitszeit deutlich reduziert wird. Es ist z.B. die alleinerziehende Mutter, die als Kassiererin im Stundenlohn arbeitet. Oder der Maurer mit einem niedrigen Gehalt.

Sie sind Migrantinnen und Migranten, die jetzt Angst haben, ihre Jahresaufenthaltsgenehmigung oder ihre Niederlassungsbewilligung zu verlieren.

Wie vermeiden sie dieses Risiko mitten in der Krise?

Viele vermeiden jegliche Art von Sozialhilfebezügen. Nicht nur die direkten Sozialhilfebezüge, sondern auch die Ergänzungsleistungen, die Vergünstigungen bei den Krankenkassen oder die Unterstützung für die Kinderbetreuungskosten, die Eltern mit geringem Einkommen beanspruchen können.

Zusätzlich zu den Auswirkungen der Sozialhilfe auf die Aufenthaltsbewilligung sieht die Bundesgesetzgebung über die Schweizer Bürgerrecht seit 2018 folgendes vor: Wer in den drei Jahren unmittelbar vor Einreichen eines Gesuchs um Einbürgerung oder während des laufenden Einbürgerungsverfahrens Sozialhilfe bezieht, erfüllt das Kriterium der «Teilnahme am Wirtschaftsleben» zum Erhalt des Bürgerrechts nicht. Gesuchsteller, die Sozialhilfe erhalten haben, müssen diese vollständig zurückzahlen.

Die meisten der 26 Kantone in der Schweiz stützen sich dabei auf eine Frist von drei Jahren. Strengere Regeln kennen Basel-Landschaft und Thurgau, die sie auf fünf Jahre erhöht haben. In Bern, Aargau und Graubünden besteht gar eine Sperrfrist von zehn Jahren für Sozialhilfebezüge.

Vor diesem rechtlichen Hintergrund und angesichts der durch die Pandemie verursachten Wirtschaftskrise haben die Bundesbehörden den kantonalen Migrationsämtern empfohlen, den ausserordentlichen Umständen Rechnung zu tragen und dafür zu sorgen, dass den Betroffenen daraus keine Nachteile entstehen.

Eine parlamentarische InitiativeExterner Link, die im Juni im Schweizer Parlament eingereicht wurde, will das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIGExterner Link) so ändern, dass Personen, die zehn Jahre und länger in der Schweiz leben, das Land nicht verlassen müssen, weil sie Sozialhilfe beziehen.

Diese Leistungen gelten in einigen Kantonen auch als Sozialhilfebezüge, obwohl das nicht die Norm ist.

Das hat zu einer grossen Unsicherheit unter den Ausländerinnen und Ausländer geführt. Sie wollen nichts Falsches tun, nichts gefährden, weil für die Sicherung ihres Aufenthaltes oberste Priorität hat.

Aufgrund des neuen Gesetzes müssen Sozialämter seit Januar 2019 Bezügerinnen und Bezüger von Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen den kantonalen Migrationsämtern melden. Und je nach individueller Situation können diese Behörden entscheiden, Ausländerinnen und Ausländern ihre Jahresaufenthaltsgenehmigung oder ihre feste Aufenthaltsbewilligung zu entziehen oder letztere auf ein Jahr zu beschränken. Die Gesetzesänderung betrifft auch Ausländerinnen und Ausländer, die seit mehr als 15 Jahren in der Schweiz leben.

Was können Sie tun?

Wir müssen immer wieder erklären, was gemäss Gesetz erlaubt ist und was nicht. Aber wir sind selbst nicht immer sicher, was zulässig ist. Denn das neue Gesetz räumt den Gemeinden und Kantonen grossen Ermessensspielraum ein. Das bedeutet, dass noch nicht alles bis ins letzte Detail geregelt ist. Und das Gesetz kann auf verschiedene Weise interpretiert werden.

Es gibt erst sehr wenige Fälle, die vom Bundesgericht, dem höchsten Schweizer Gericht, behandelt werden. Deshalb gibt es auch für uns Rechtsunsicherheit. Wir sind nicht 100%-ig sicher, ob wir alles richtig verstanden haben. Dasselbe gilt für Kolleginnen und Kollegen in anderen Beratungsstellen und Sozialämtern.

Wie könnte man Klarheit schaffen?

Wir können nur Klarheit schaffen, indem wir die Fälle vor Gericht bringen. Das ist schwierig, denn wenn ein Ausländer oder eine Ausländerin gegen eine Einwanderungsbehörde vor Gericht geht, stellt er oder sie sich in gewisser Weise gegen den Staat, der ihn aufnimmt.

Wir sind der Meinung, dass es absolut notwendig ist, die aufenthaltsrechtlichen Verfahren im Zusammenhang mit der Sozialhilfe und dem Ausländergesetz in der jetzigen Situation zu sistierenExterner Link. Dies so lange, bis die durch die Pandemie verursachte Krise vorbei ist.

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