«Ich schäme mich nicht mehr»
Noch nicht einmal sechs Jahre alt, wurde Amal Bürgin im Sudan beschnitten. Heute lebt sie in Basel und kämpft dafür, dass der Generation ihrer Tochter Ähnliches erspart bleibt.
Laut dem Kinderhilfswerk Unicef werden pro Jahr weltweit drei Millionen Mädchen genital beschnitten. Durch Migrationsströme sind immer öfter auch Mädchen und Frauen in Europa betroffen, auch in der Schweiz.
swissinfo: Wieso haben Sie sich entschieden, Ihr Schweigen zu brechen?
Amal Bürgin: Weil ich heute die Kraft habe, über meine Geschichte zu reden. Ich schäme mich nicht mehr, sondern kämpfe gegen die Beschneidung von Mädchen.
Wenn ich meine neun Wochen alte Tochter wickle, denke ich oft: «Nein Nuha, Dir wird dies nicht passieren!»
swissinfo: Wie alt waren Sie, als Sie beschnitten wurden?
A.B.: Ich war etwas über fünf Jahre alt. Meine ältere Schwester und ich freuten uns sehr, denn man malte uns die Hände mit Henna an, wir bekamen feine Dinge zu essen, Leute kamen zu Besuch und legten uns Geld unter das Kopfkissen. Wir hatten keine Ahnung, was passieren wird.
Sie haben mich dann im Bett hingelegt, und meine Mutter fixierte mir die Beine, andere Frauen hielten mich am Oberkörper fest. Als sie mir die Spritze gaben, habe ich geschrieen und geweint. Später konnte ich mich vor Schmerz nicht bewegen.
Als ich hätte Urin lösen sollen, hat der erste Tropfen so geschmerzt, dass ich es verklemmte. Da legten sie mir ein Insekt auf den Bauch. Ich erschrak derart, dass ich aus Angst das Wasser löste.
swissinfo: Hatten Sie keine Chance, sich zu wehren?
A.B.: Nein, in diesem Alter fügt man sich. Mein Vater war an diesem Tag abwesend. Ich glaube, er hätte sich für uns gewehrt, denn als er später nach Hause kam und von der Beschneidung erfuhr, wurde er wütend.
Später – ich war vielleicht etwa acht Jahre alt – wurde ich nochmals beschnitten. Zwei Tanten hörten nicht auf zu behaupten, die Beschneiderin hätte es das erste Mal nicht richtig gemacht.
Und dies, obwohl ich schon beim ersten Mal die «pharaonische Beschneidung» erlitten hatte. Bei dieser wird sehr viel mehr weggeschnitten als bei der kleineren Variante, der «Sunna».
swissinfo: Wie hat man die Beschneidung bei Ihnen begründet?
A.B.: Immer, wenn wieder eine Einladung zu einem Beschneidungsfest kam, fragte ich: «Warum macht man das überhaupt? Warum?» Ich bekam nie eine klare Antwort. Es fiel mir aber auf, dass es weder in der Moschee noch im Religionsunterricht je hiess, man müsse die Mädchen beschneiden.
Heute weiss ich, dass es eine uralte Tradition ist, die mit dem Islam nichts zu tun hat. Manche sagen, es sei gut, damit die Frau keusch bleibe vor der Heirat. Aber die Beschneidung garantiert dies nicht. Es gibt unverheiratete Frauen, die sich nach dem Geschlechtsverkehr wieder zunähen lassen.
swissinfo: Wie haben Sie danach gelebt?
A.B.: Bis auf eine kleine Öffnung war ich komplett zugenäht. Beim Menstruieren hatte ich immer enorme Schmerzen. Und nach der Heirat musste ich im Spital die Naht öffnen lassen. Dies ist bei vielen Frauen der Fall.
Es gibt aber auch Männer, die legen selbst Hand an oder stossen die Naht einfach durch. Deshalb muss man auch die Männer über das Thema aufklären. Die sollten laut und deutlich sagen, dass sie keine beschnittenen Frauen wollen.
swissinfo: Hat sich die Situation heute verändert?
A.B.: Ja, vor allem in den Städten nimmt es ab. Bereits vor 15 Jahren schlossen sich Frauen an der Uni zusammen und fingen an, dagegen zu kämpfen. Aber es bleibt noch viel zu tun.
swissinfo: Ihre Schwester ist zur Zeit zu Besuch bei Ihnen. Haben Sie je mit ihr darüber gesprochen?
A.B.: Im Sudan haben wir das Thema gemieden. Aber als sie mich das erste Mal in die Schweiz besuchen kam, haben wir darüber gesprochen. Doch unter Freundinnen blieb die Beschneidung ein Tabu, und auch zwischen meiner Mutter und mir kam es bis jetzt noch nie zu einem Gespräch.
swissinfo: Wieso ist es wichtig, dass man auch in der Schweiz darüber spricht?
A.B.: Weil es immer wieder Familien gibt, die ihre Töchter entweder in der Schweiz oder während eines Besuches im Heimatland beschneiden lassen.
Oft fragen die Angehörigen danach oder verlangen es. Eines Tages wird meine Familie im Sudan ebenfalls fragen, ob Nuha schon beschnitten ist.
swissinfo: Und dann?
A.B.: Dann wird alles aus mir herausexplodieren. Ich werde ihnen sagen, was ich alles durchgemacht habe und immer noch durchmache. Denn die Erfahrungen verfolgen mich bis heute.
Immer, wenn ich Probleme an dieser Stelle habe, kommt mir alles in den Sinn. Als wäre es gestern gewesen, sehe ich meine Mutter und meine Verwandten über mich gebeugt.
swissinfo und Sarah Fasolin, InfoSüd
Die 37-jährige Sudanesin wuchs in der Nähe der Hauptstadt Khartum zusammen mit ihren drei Geschwistern auf.
Seit 1999 lebt sie mit ihrem Schweizer Ehemann in Basel und ist Mutter von drei Kindern.
Vor einem Jahr besuchte sie eine Unicef-Veranstaltung über Mädchenbeschneidung. Sie beschloss, mit ihrer eigenen Geschichte dagegen anzukämpfen.
Rund 7000 Frauen in der Schweiz sind von Mädchenbeschneidung betroffen.
Um weitere Fälle zu verhindern, hat Unicef Schweiz an einer Tagung letzte Woche Handlungsstrategien festgelegt.
Dazu gehören Informationen für Behörden und Fachleute, Verankerung als Strafnorm im Gesetz, Ausbau des Kinderschutzes, Anlaufstellen und Präventionsarbeit für Migrantinnen und Migranten.
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