«Kunst braucht keine Erklärung!»
Metin Arditi, Physiker und Geschäftsmann, ist Stiftungspräsident des "Orchestre de la Suisse romande". Das renommierte Orchester feiert dieses Jahr sein 90-jähriges Bestehen.
Metin Arditi widmet sein Leben auch dem Schreiben. Mit swissinfo spricht er über seine Ansichten zur klassischen Musik und zur Kunst.
Ist Metin Arditi ein Hansdampf-in-allen-Gassen? Ob als studierter Physiker, Importeur von High-Tech-Produkten aus dem Silicon Valley, Immobilieninvestor oder seit zehn Jahren auch als Schriftsteller – für den 1945 geborenen Genfer gibt es nur eine Leidenschaft: die Suche nach der Wahrheit.
Davon hat er diese Woche im Club der Schweizer Presse Zeugnis abgelegt. Als ausgebildeter Nuklearphysiker der Ecole polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) hat er gelernt, theoretische Modelle systematisch in Frage zu stellen.
Als Geschäftsmann hat er die Preisbildung auf den Märkten überprüft, die sich ständig verändern. Und als Schriftsteller ergründet er die Tiefe der menschlichen Seele.
swissinfo: Wie wird das Orchestre de la Suisse romande (OSR) seinen 90. Geburtstag feiern?
Metin Arditi: Als Höhepunkt dieser Feierlichkeiten sieht das OSR eine Reihe von fünf Konzerten vor. In jedem dieser Konzerte – und das ist einmalig – werden zwei Violinkonzerte aufgeführt, die zu den schönsten des Repertoires gehören.
Dieses Vorhaben ist ziemlich kühn. Denn Violinkonzerte – Beethoven hat nur ein einziges komponiert, wie auch Brahms, Sibelius oder Tschaikowski – stellen den Höhepunkt im Schaffen eines Komponisten dar. Sie sind musikalische Wunderwerke, die das Innerste der Seele berühren.
Diese Concerti stellen für einen Interpreten grosse emotionale Belastungen dar. Zwei Interpretationen am gleichen Abend bedeuten eine aussergewöhnliche Herausforderung. Wir haben die grössten Violinisten dieses neuen Jahrtausends engagiert, junge Leute zwischen 20 und 30 Jahren.
swissinfo: Das OSR geniesst ein hohes Ansehen. Wo würden Sie es in der Schweiz und weltweit ansiedeln?
M.A.: Wie auch das Tonhalle-Orchester Zürich ist das OSR auf internationaler Ebene ein hoch angesehenes Orchester. Tourneen, wie kürzlich durch Grossbritannien, und zahlreiche Aufnahmen zeugen von der Qualität und vom Renommee dieses Klangkörpers.
In der Ära des Gründers Ernest Ansermet (Waadtländer Dirigent und Musiker) lag die Stärke des OSR im Repertoire der französischen Musik. Der Klang des Orchesters war lange eine Mischung aus deutscher Strenge und französischer Wärme.
Doch in den letzten Jahren haben sich die grossen Orchester merklich verändert. Noch nie haben die Orchester so gut gespielt wie heute und alle haben – einschliesslich dem OSR – Musiker aus aller Welt engagiert. Folglich gleichen sich die Interpretationen heute mehr als in der Vergangenheit.
Doch die Besonderheiten bleiben. Die amerikanischen Orchester sind brillant und spektakulär, wie beispielsweise das Cleveland Orchestra, das ohne Zweifel das beste Orchester der Welt ist. Die europäischen Orchester ihrerseits funktionieren eher wie Kammerorchester.
Ein guter Ruf muss jeden Tag neu errungen werden. Nichts ist endgültig. Musik ist eine Kunst und niemand kann sich auf den Lorbeeren ausruhen.
swissinfo: Wie kann man die junge Generation für die klassische Musik interessieren?
M.A.: Diese Frage stellt sich immer wieder. In der Vergangenheit begleiteten die Kinder ihre Eltern an die Konzerte des OSR, ob sie wollten oder nicht,. Liebten sie die klassische Musik früher mehr oder weniger als heute? Ich weiss es nicht.
Der Jugendliche hält das klassische Repertoire auf Distanz, was durchaus normal und gesund ist. Vielmehr braucht er direkte, heftige und laute Musik, die mit den dramatischen Entwicklungen seines Körpers, seiner Sexualität und seines Geistes in Einklang steht.
Trotz allem haben wir immer mehr junge Erwachsene an unseren Konzerten und wir versuchen, auch die Jungen der Primarschule (7- bis 13-Jährige) zu erreichen. Das OSR gibt jedes Jahr rund fünfzehn Konzerte, die sich ausschliesslich an dieses Publikum richten. Ein Unternehmen, das von grossem Erfolg gekrönt ist und durch eine Reihe von Familienkonzerten ergänzt wird.
So können sich die Kinder mit dem Orchester und dem Konzertsaal vertraut machen und wir hoffen, dass sie zu uns zurückfinden, wenn die Jugendjahre vorbei sind.
Die klassische Musik berührt unser Innerstes. Es ist folglich ganz normal, dass unser Publikum eine gewisse Reife besitzt, denn die Auseinandersetzung mit den eigenen dunklen Seiten kann schmerzhaft und unangenehm sein.
swissinfo : Liegt in dieser Suche der Grund für ihre Liebe zur Musik und ihre Berufung zum Schreiben?
M.A.: Absolut, auch wenn mein Engagement für das OSR rein administrativ ist. Mein einziger künstlerischer Akt liegt darin, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen.
Ob Musiker, Tänzer, Maler oder Schriftsteller: Ziel des Künstlers und seines Werkes ist immer der Mensch. und er will dem Einzelnen seine Verbundenheit mit andern Menschen aufzeigen, auch wenn er einsam und verlassen ist.
swissinfo: In der bildenden Kunst hingegen stellen viele zeitgenössische Künstler vor allem die Welt in Frage. Wird dadurch nicht mit der traditionellen Stellung des Künstlers gebrochen?
M.A.: Niemand ist dazu verpflichtet, alles zu mögen. Wenn ein Plastiker in seiner Arbeit versucht, die Probleme der Menschheit zu reflektieren und Emotionen zu wecken, kann ich dem folgen.
Tut er dies jedoch als Soziologe, dann interessiert es mich überhaupt nicht. Dazu fehlt ihm normalerweise die Kompetenz.
Man sollte die Genres nicht vermischen und vor allem muss der künstlerische Akt und dessen Vermittlung frei sein von zuviel Vorwissen und Fachkenntnissen. Betrachtet man das Gemälde Guernica von Picasso, braucht man nichts von Kubismus zu verstehen, um berührt zu sein.
Dieses Meisterwerk zeugt vom absoluten Bedürfnis eines Künstlers, seine heftigen Gefühle zu widerspiegeln. Es ist ein Schrei, der mitten ins Herz trifft.
swissinfo-Interview: Frédéric Burnand, Genf
(Übertragung aus dem Französischen: Christine Fuhrer)
Metin Arditi wurde am 2. Februar 1945 wurde in Ankara (Türkei) geboren.
1952 kommt er in die Schweiz und besucht die «Ecole Nouvelle de Lausanne» und studiert dann an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne Atomwissenschaften.
1968 geht er nach Kalifornien und studiert an der Business School der Universität Stanford.
Ab 1970 arbeitet Metin Arditi bei McKinsey, bevor er dann seine eigenen Firmen gründet.
Im Jahr 1988 gründet er in Genf die Stiftung Arditi, betätigt sich als Mäzen und wird zum wichtigen Kulturförderer. Er ist aktiv in zahlreichen kulturellen Institutionen, wie der Fondation Bodmer oder dem Orchestre de la Suisse romande, dessen Stiftungspräsident er zur Zeit ist.
Seit diesem Jahr leitet er an der Harvard University als «Writer-in-Residence» Schreibworkshops.
Seinen ersten Essay publizierte er 1997 und seinen ersten Roman 2004. Bis heute hat Metin Arditi elf Werke veröffentlicht (Essays, Erzählungen, Romane).
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