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«Sie überlebten, weil irgendjemand das Richtige tat»

Blick in die online begehbare Ausstellung "The last Swiss Holocaust Survivors". swissinfo.ch

Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee Auschwitz-Birkenau. Einige hundert Holocaust-Überlebende fanden den Weg in die Schweiz. Anita Winter setzt sich für sie ein.

swissinfo.ch: Frau Winter, Sie kennen viele Überlebende des Holocaust, die in der Schweiz leben. Wie viele sind es noch?

Anita Winter: Es sind schätzungsweise mehrere Hundert Überlebende. Genaue Zahlen gibt es nicht, da sich einige nicht als Überlebende zu erkennen geben. Viele bevorzugen die Anonymität. Nach allem, was sie erlebt haben, ist das verständlich.

Anita Winter.

77 Jahre nach dem Ereignis werden die Zeitzeug:innen immer weniger. Was verschwindet mit ihnen?

Ja, die Zeitzeugen verstummen. Sie haben von unfassbarem Grauen berichtet, das sie mit eigenen Augen gesehen haben. Dies hat eine eindrückliche Qualität, auch in der Erzählung.

Wir stehen in der Wissensvermittlung über den Holocaust darum an einem entscheidenden Moment. Die Überlebenden geben uns nun den Stab der Erinnerung weiter.

Wir können nicht genug danken, dass sie die Kraft aufbrachten, uns von Erfahrungen und Erinnerungen zu erzählen, die teilweise kaum in Worte zu fassen sind.  

Geplant ist ein Holocaust-Denkmal auch in der Schweiz. Ist das den Überlebenden wichtig?

Ja, sie wünschen sich einen Ort des Gedenkens, der Vermittlung und des Warnens, das geht aus allen Gesprächen deutlich hervor. Antisemitismus trifft ja nicht nur die Juden.

Wenn wir anerkennen, dass Hass ein toxisches Klima schafft, einen Nährboden für Extremismus allgemein und so unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat gefährdet, dann müssen wir heute und nicht morgen Gegensteuer geben. Überlebende sagen: «Wir sahen, zu was Menschen fähig sind.» Sie warnen.

Antisemitismus hat während der Pandemie Aufwind erhalten. Die alten Theorien einer geheimen Elite gehen wieder um. Beschäftigt das die Überlebenden?

Ja, sehr. Ich spüre oftmals ihre Angst. Viele haben es am Anfang der Corona-Krise beinahe prophezeit: «Es ist eine Krise im Gang und man wird uns möglicherweise wieder dafür verantwortlich machen.» Dies erschüttert. Diese Aussage habe ich mehrere Male gehört.

Was kann dagegen unternommen werden?

Das ist die grosse Frage. Aufklären, aufklären und nochmals aufklären. Fake-News als solche erkennen und dagegen ankämpfen. Und es gibt durchaus eine Lehre, die all diesen Schicksalen entspringt: Fast alle haben überlebt, weil irgendwo ein guter Mensch zum richtigen Zeitpunkt das richtige tat. Das zeigt: Jeder von uns kann etwas bewirken.

«Die letzten Schweizer Holocaust-Überlebenden», eine Ausstellung ihrer Stiftung, wurde inzwischen in New York, Singapur und Israel gezeigt. Was sind die Reaktionen?

Die Resonanz ist überwältigend, auch in der Schweiz. Was uns hier vor allem sehr berührt, ist die Reaktion von Kindern mit Migrationshintergrund. Viele finden Anknüpfungspunkte.

Vertreibung und Flucht sind Themen, welche diese Kinder aus eigener Erfahrung oftmals besser verstehen können. Ich bin immer sehr beeindruckt von den Schüler:innen. Wenn Überlebende in Schulen erzählen, bleiben die Handys liegen, alles wird still.

Was erzählen die Überlebenden denn?

Sie erzählen von der Zeit vor dem Krieg, wie es dazu kam. Sie erzählen, wie sie entrechtet und gedemütigt wurden, wie sie den Holocaust überlebt haben und danach weitergelebt haben. Das braucht sichtlich sehr viel Kraft. Für diese Menschen war der Krieg 1945 nicht fertig. Sie tragen ihn bis heute mit sich.


Die Ausstellung

Hunderte Überlebende des Holocausts leben in der Schweiz. Einige von ihnen liessen sich 2016 von Schweizer Fotografen porträtieren. Die Idee war, die Gesichter dieser Männer und Frauen zu zeigen, die von ihrem bemerkenswerten Leben und ihren Erfahrungen gezeichnet sind.

Die Porträts wurden zusammen mit Filmen und Texten in einer Ausstellung mit dem Titel «The Last Swiss Holocaust Survivors»Externer Link (Die letzten Schweizer Holocaust-Überlebenden) vereint, die von der Zürcher Gamaraal Foundation produziert wurde. Aktuell ist sie auch als Online-AusstellungExterner Link begehbar.

Diese Organisation wurde 2014 von Anita Winter, der Tochter zweier deutscher Holocaust-Überlebender, gegründet. Ihr Ziel ist es, Überlebende zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass die Erinnerung an diese Ereignisse an jüngere Generationen weitergegeben wird.

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