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«Wir gehen noch zu oft davon aus, zu wissen, was gut ist für das Kind»

Caroline Minjolle

Das Kind selbst ist der beste Experte für seine eigene Situation. Vor 30 Jahren hat die UNO-Konvention über die Rechte des Kindes einen neuen Ansatz im Jugendstrafrecht eingeführt. Der Schweizer Jean Zermatten, eine treibende Kraft dieser Revolution, hält fest, dass es noch mehr Umdenken brauche, um die Verletzungen von Kinderrechten stärker zu bekämpfen.

Jean Zermatten
Jean Zermatten swissinfo.ch

Am 20. November 1989 hat die internationale Staatengemeinschaft die UNO-Konvention über die Rechte des KindesExterner Link verabschiedet. Das Abkommen löste eine beispiellose Begeisterung aus, und die meisten Staaten ratifizierten es rasch. Bis heute haben insgesamt 196 Länder das Übereinkommen ratifiziert, die Schweiz tat dies 1997.

Jean Zermatten gilt international als ausgewiesener Experte im Bereich Jugendstrafrecht. Er sass als erster Schweizer im UNO-Ausschuss für die Rechte des KindesExterner Link, den er später auch präsidierte. Am Anfang als Jugendrichter im Kanton Wallis widmete Zermatten seine ganze Karriere dieser Sache. Ein Interview.

swissinfo.ch: Was hat Sie im Verlauf Ihrer langen Karriere im Dienste der Kinderrechte am stärksten betroffen?

Jean Zermatten: Es war eine Situation, die mich physisch gelähmt hat. Es war ein Besuch in einem Gefängnis in Nicaragua. 43 Kinder waren dort in einer 43 Quadratmeter grossen Zelle zusammengepfercht. Das Gebäude hatte ein Blechdach und nur zwei Fenster mit Gitterstäben.

Es herrschte eine erstickende Hitze und ein unerträglicher Geruch. Es gab weder Wasser, noch Toiletten, die hygienischen Verhältnisse waren abscheulich. Die Kinder hatten nur einen Haken an der Decke, wie in einer Metzgerei, um ein paar Sachen aufzuhängen. Der Lärm war höllisch. Es war der blanke Horror.

Als ich aus diesem Gefängnis herauskam, konnte ich den ganzen Tag nicht reden. Ich konnte zwar meinen Mund öffnen, aber es kam nichts heraus. Der Schock hatte einen physischen Effekt zur Folge. Zum Glück konnte ich später Kontakt mit Regierungsvertretern aufnehmen und veranlassen, dass dieses Gefängnis geschlossen wurde.

«Als ich aus diesem Gefängnis herauskam, konnte ich den ganzen Tag nicht reden. Ich konnte zwar meinen Mund öffnen, aber es kam nichts heraus.» 

swissinfo.ch: Wie hat die UNO-Kinderrechtskonvention den Kampf für die Achtung der Rechte von Minderjährigen verbessert? 

J.Z.: Das Kind wird seither als eigenständige Person betrachtet. Das ist die grosse Revolution der Konvention. Kinder sind heute Menschen, die von Geburt an Rechte besitzen. Früher hatte man ihnen Schutz angeboten, jetzt haben sie Anspruch darauf und können Schutz verlangen, wenn sie keinen erhalten.

Der Schlüssel des Systems ist, das übergeordnete Wohl des Kindes zu ermitteln, indem ihm eine Stimme gegeben wird. Dieses Prinzip war mein Hauptthema. Dennoch gehen wir noch immer zu oft davon aus, dass wir wissen, was gut ist für das Kind. Eine paternalistische, von guten Absichten geprägte Haltung, die sich wandeln muss.

swissinfo.ch: Wenn ein Staat das Übereinkommen ratifiziert, wie wird es dann umgesetzt?

J.Z.: Hat ein Staat das Abkommen ratifiziert, beginnt eine enorme Aufgabe. Es geht darum, das ganze Rechtssystem des Landes so anzupassen, dass es mit der Konvention vereinbar ist. Eine Vielzahl von Bereichen ist betroffen: Bildung, Gesundheit, Schutz, Kultur.

Manchmal müssen neue Gesetze ausgearbeitet werden. Viele Staaten hatten das Ausmass ihres Engagements im Moment der Ratifizierung nicht voll erkannt. Wir befinden uns in einem Prozess, der noch nicht wirklich erfolgreich abgeschlossen ist und es wahrscheinlich auch nie sein wird.

swissinfo.ch: Stellt das digitale Zeitalter Verteidiger der Kinderrechte vor neue Herausforderungen?

J.Z.: Einerseits ist das Internet ein ausserordentliches Instrument, um die Kinderrechte auf der ganzen Welt zu verbreiten. Andererseits sind neue Gefahren aufgekommen, vor allem sexuelle Kontaktanbahnung über das Internet oder der Missbrauch von Kindern in der Online-Pornografie.

Daneben stellen sich auch Probleme mit dem Schutz der Privatsphäre. Auch die einfache Veröffentlichung von Fotos der eigenen Kinder in sozialen Netzwerken muss geregelt werden. Gewisse Fotos, auch wenn sie von wohlmeinenden Eltern gepostet wurden, können eine Verletzung der Privatsphäre bedeuten.

Der UNO-Ausschuss für die Rechte des Kindes ist daher dabei, eine allgemeine Stellungnahme [Empfehlung an die Mitgliedstaaten] zu den Rechten des Kindes im digitalen Zeitalter auszuarbeiten.

swissinfo.ch: Die Schweiz hat die Konvention erst relativ spät unterzeichnet, 1997. Muss sie noch Fortschritte machen?

J.Z.: Die Schweiz ist keine schlechte Schülerin, aber auch keine gute. So ist zum Beispiel die Unterstützung für minderjährige Migrantinnen und Migranten unzureichend. Sie erhalten eine Betreuungsperson, die sie einmal sehen, bei ihrer Ankunft, doch sie sollten kontinuierlich betreut werden.

Zudem können minderjährige Migranten und Migrantinnen in einigen Kantonen in Administrativhaft genommen werden. Die Tatsache, dass Kinder als Kriminelle betrachtet werden, weil sie ausgewandert sind, und man sie ihrer Freiheit beraubt, ist schwerwiegend. Diese Praxis muss ein Ende haben. Ein weiteres Problem ist die integrative Bildung von Kindern mit einer Behinderung, die in der Schweiz bisher nicht oder nur selten praktiziert ist.

swissinfo.ch: Welche Massnahmen sollte der Bund ergreifen?

J.Z.: Die Schweiz muss eine koordinierte Bundespolitik im Bereich der Kinderrechte verabschieden, die es unter anderem ermöglichen würde, mehr zu tun, um Gewalt und Missbrauch vorzubeugen. Heute macht jeder Kanton, was er will.

Es fehlt auch eine nationale, den Kinderrechten gewidmete Institution, deren Aufgabe es wäre, Lücken zu identifizieren und individuelle Klagen von Kindern entgegenzunehmen. Die Regierung hat ein Projekt zur Schaffung einer Einrichtung, die sich mit allen Menschenrechtsfragen befasst, und die mit einer Million Franken ausgestattet würde. Damit kann man nichts tun.

swissinfo.ch: Hatten Sie als Mitglied und als Präsident des Kinderrechts-Ausschusses der UNO den Eindruck, dass Sie Ihren Beitrag zu Fortschritten leisten konnten?

J.Z.: Ich würde sagen, ich habe keine grossen, aber kleine Bausteine hinzugefügt. Unter meinem Vorsitz verabschiedete der Ausschuss ein Protokoll, das Kindern, deren Rechte verletzt wurden, erlaubt, eine Beschwerde beim Komitee einzureichen, falls sie zuvor alle Rechtsmittel in ihrem Land ausgeschöpft haben. Dieses Instrument macht die Rechte des Kindes zur Tatsache, denn zuvor hatten wir nur die Möglichkeit, Empfehlungen zu erlassen oder ein Problem in den Medien zum Thema zu machen.

«Es gibt kein Recht auf Zuneigung der Eltern, doch das wäre mein sehnlichster Wunsch.»

swissinfo.ch: Andererseits, gab es Frustrationen, Enttäuschungen?

J.Z.: Die Situation bei der Betreuung von Kindern mit einer Behinderung in unterentwickelten Ländern hat mich sehr schockiert. Sie werden völlig vernachlässigt, ihren Familien oder dem guten Willen der Gemeinschaft ausgeliefert und überlassen.

Es ist schwierig zu handeln, das Problem ist allgemein und betrifft viele Länder, in denen es schlicht keine entsprechenden Dienstleistungen gibt. Die Haltung der Behörden ist zudem generell, zu erklären, dies sei ein Unglück, das der Himmel geschickt habe. Die grössten Frustrationen kommen auf, wenn die politische Welt sich auf das Schicksal oder eine göttliche Bestrafung beruft.

swissinfo.ch: Was wünschen Sie den Kindern von heute?

J.Z.: Ich wünsche ihnen das Recht, Kinder sein zu können, das heisst spielen zu können, kulturelle Aktivitäten zu haben, eine Ausbildung zu erhalten. In gewissen Ländern ist es nicht möglich, zu spielen, weil die Gefahr besteht, dass dabei eine Mine explodieren könnte. Es gibt kein Recht auf Zuneigung der Eltern, doch das wäre mein sehnlichster Wunsch.


Jean Zermatten, Anwalt der Kinder

Der 1948 geborene Jean Zermatten hat seine ganze reiche berufliche Laufbahn in den Dienst der Kinderrechte gestellt. Nach seinem Jura-Studium arbeitete er acht Jahre bei der Jugendstrafkammer Freiburg. 1980 gründete er im Kanton Wallis das Jugendgericht und amtete dort 25 Jahre lang als Jugendrichter. Parallel dazu weitete Zermatten sein Engagement auf dem Gebiet des Kinderschutzes aus. Unter anderem als Mitbegründer und Direktor des Internationalen Instituts für Kinderrechte (IDE) in Sitten (Wallis).

2005 wurde er als erster Schweizer in den UNO-Ausschuss für die Rechte des Kindes gewählt. Von 2011 bis 2013 war er Präsident des Ausschusses.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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