«Gelegenheit, über Geschichte und Identität nachzudenken»
Im Jahr 2017 feiern die Protestanten 500 Jahre Reformation: 1517 publizierte Martin Luther seine Thesen, die den Auftakt zur Reformation bildeten. Für Schweizer Protestanten bietet das Jubiläum eine Gelegenheit zur Reflexion über ihre Identität. Ein Interview mit Joël Burri, Chefredaktor der protestantischen Presseagentur (protestinfo).
Die JubiläumsfeierlichkeitenExterner Link der Reformation werden ein ganzes Jahr dauern. In der Schweiz fiel der Startschuss anfangs November in Genf. «Es handelt sich nicht um eine Rückschau oder einen Personenkult. Die Reformation hat die Herzen und Geister bewegt, in der Schweiz, Europa und der ganzen Welt. Das möchten wir feiern», betonte Gottfried Locher, Ratspräsident des Schweizerischen Evangelischen KirchenbundesExterner Link.
Auch wenn die Bewegung von Deutschland ausging, war die Schweiz doch sehr stark involviert. «Sie war das Epizentrum dieses spirituellen und sozialen Erdbebens, das die Reformation war», erinnerte Bundesrat Alain Berset, der für Religion zuständige Minister.
Auch wenn der Protestantismus eine lange und ruhmvolle Geschichte in der Schweiz hat, so ist er inzwischen dennoch eine Minderheitenreligion. Um mehr zu erfahren, was heute Protestantismus in der Schweiz ausmacht, haben wir uns mit dem Chefredaktor von protestinfoExterner Link, Joël Burri, unterhalten.
swissinfo.ch: Was bedeutet es heute, Protestant zu sein?
Joël Burri: Die Grundidee der Reformation ist, dass das Heil von Gott gegeben wird und nicht von der Kirche abhängt. Eine Folge dieses Infragestellens der kirchlichen Autoritäten ist, dass die Beziehung zu Gott individueller wird. Von da an gehen die Ideen in alle Richtungen. Als Protestanten gelten sowohl die alten kantonalen Kirchen, als auch charismatische Bewegungen, die spontan in einer Garage gegründet werden. Es ist ein breites Feld, das von Anhängern des Schöpfungsglaubens bis zu den liberalsten Denkern reicht. Die Frage nach der protestantischen Identität ist daher eine echte Frage.
swissinfo.ch: Geraten die traditionellen reformierten Kirchen nicht ins Hintertreffen gegenüber den evangelikalen Bewegungen aus den USA?
J. B.: Es gab schon immer Bewegungen, die einen anderen Weg als jenen der traditionellen reformierten Kirchen vorschlugen. Die aus den USA stammende evangelikale Bewegung hat tatsächlich einen unglaublichen Einfluss auf alle diese nichttraditionellen Kirchen.
Die EvangelikalenExterner Link sind in der Tat auf dem Vormarsch. Die Reformierten beneiden sie sehr um ihre Gottesdienste mit einem echten Gruppenleben und der Fähigkeit, junge Leute anzuziehen.
Man muss jedoch aufpassen, dass man das Phänomen nicht überbewertet. Die Evangelikalen sind sehr mobil und 800 Leute reichen aus, um eine Kirche zu gründen. Aber wenn etwas schiefläuft, wenden sie sich schnell einer anderen Kirche zu. Ebenso oft kehren sie zu den traditionellen Reformierten zurück, beispielsweise im Falle einer Scheidung, die bei den Evangelikalen mit ihrer extremen Moral verpönt ist.
swissinfo.ch: Wie sind die Beziehungen zwischen diesen beiden grossen Zweigen des Protestantismus?
J. B.: Das ist lokal sehr unterschiedlich. Gewisse reformierte Pfarrer haben eine Affinität zu den Evangelikalen und andere nicht.
Es gibt einige entzweiende Themen wie die Homosexualität. Die traditionellen Reformierten stellen die Texte in ihren Kontext, während die Evangelikalen die Bibel tendenziell sehr wörtlich auslegen und Homosexualität als fürchterliche Sünde ansehen. Die Evangelikalen nehmen auch häufiger Bezug auf die Hölle. Bei gewissen Fragen ist eine Zusammenarbeit daher nicht möglich.
swissinfo.ch: Die Protestanten waren früher in der Mehrheit, inzwischen gehören sie in der Schweiz zu einer Minderheit, sogar in traditionell reformierten Regionen wie Waadt oder Neuenburg. Ändert das die Gesamtsituation?
J. B.: Im Spass könnte man sagen, dass dies das Ergebnis des Protestantismus ist. Durch das ständige Wiederholen, man sei allein für seinen Glauben verantwortlich, und das Predigen des Individualismus, nutzen in der Folge die Leute diese Freiheit und es kommt zur Säkularisierung.
swissinfo.ch: Gibt Geldmangel den reformierten Kirchen den Rest? Es wurden aus Budgetgründen bereits Kirchen geschlossen und Pfarrer entlassen.
J. B.: Eine Studie hat gezeigt, dass in Kantonen, in denen die Kirchen mit Steuergeldern finanziert wurden, diese dem Staat mehr einbrachten als sie ihn kosteten. Grob gesagt ist ein Pfarrer günstiger als eine Armee von Psychologen. Persönlich bin ich aber nicht sicher, ob dieses Argument noch lange zieht, denn es besteht der Wunsch nach einer laizistischeren Gesellschaft.
Die Zukunft sieht also eher so aus wie in Genf und Neuenburg, wo die Kirchenmitglieder ihre Kirchensteuer auf freiwilliger Basis bezahlen. Man muss aber anmerken, dass Neuenburg trotz der drastischen Budgetkürzungen in den letzten zehn Jahren eine extrem dynamische Kirche hat. Die Gläubigen bleiben sehr engagiert.
swissinfo.ch: Die Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten haben sich seit den 1960er-Jahren beruhigt, und die Ökumene hat Fortschritte gemacht. Gibt es neue «Feinde», zum Beispiel den Islam?
J. B.: Ich stelle fest, dass es nicht die Leute mit dem reichsten spirituellen Leben sind, die in dieser konfrontativen Logik von «Feinden» verharren. Die Schweizerische Volkspartei (SVP), die des Langen und Breiten die christlichen Werte der Schweiz verteidigt, bekommt am meisten negative Rückmeldungen vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund und der katholischen Bischofskonferenz. Die grossen Kirchen folgen einer Logik des Dialogs und nicht der Konfrontation.
swissinfo.ch: Setzen die Kirchen auf den Dialog, weil sie sich weiterentwickelt haben oder weil sie inzwischen zu schwach sind, um zu kämpfen?
J. B.: Beides… Die Kirche hat ihre Aufgabe verloren, nämlich der Gesellschaft einen Rahmen zu geben. Sie lebt von eher spirituellen Dingen. Wir tragen zu einer Neuorientierung der Werte bei.
Vielleicht fühlt sich die katholische Kirche noch genügend stark für einen Kampf über bestimmte Themenbereiche. Und eine evangelikale Kirche kann sich allenfalls noch einen Kampf gegen Abtreibung und Homosexualität leisten. Die reformierten Kirchen hingegen machen das nicht, weil sie die Gesellschaft stark beeinflusst haben und selbst von ihr beeinflusst wurden. Wir befinden uns auf einem Weg der Öffnung, der seit den 1960er-Jahren geschätzt wird.
Der «Feind» ist vielleicht das sich Abwenden von und Verneinen jeglichen spirituellen Lebens, jedenfalls aber nicht die Katholiken oder Muslime. Ein kleiner interner Krieg im Protestantismus kann nicht ausgeschlossen werden, wenn man beispielsweise die Polemiken über die Pfarrerausbildung in der französischsprachigen Schweiz betrachtet.
swissinfo.ch: Was bedeutet das Reformationsjubiläum für die Schweizer Protestanten? Ist es eine Gelegenheit für gute Stimmung, für frischen Wind?
J. B.: Es ist eindeutig kein Anlass zur Freude, weil viele Leute die Spaltung im 16. Jahrhundert bedauern. Luther war ein katholischer Mönch, der bloss seine Kirche reformieren wollte, keine Neue gründen.
Aber das Jubiläum bietet Gelegenheit, über die Geschichte nachzudenken und vielleicht endlich eine Identität zu entdecken. Das Jubiläum könnte daher frischen Wind in die lutherischen und reformierten Kirchen bringen.
Protestantismus in der Schweiz
Man betrachtet die Publikation der 95 Thesen Martin Luthers am 31. Oktober 1517 in Deutschland für gewöhnlich als den Anfang der Reformation. Die meisten dieser Thesen kritisieren die Praxis des Ablasshandels (Reduzierung der Zeit im Fegefeuer wegen einer Sünde) zur Baufinanzierung des Petersdoms.
Die Schweiz kam sehr früh (ab 1520) mit dem Protestantismus in Berührung. Die beiden bekanntesten Reformatoren sind Ulrich Zwingli (Zürich) und Jean Calvin (Genf).
Die Reformation hat sich vor allem in städtischen Gebieten ausgebreitet (Basel, Bern, Genf, Zürich) und wurde manchmal auch militärisch aufgezwungen, beispielsweise bei der Annexion des Waadtlandes durch die Berner.
Einst in der Mehrheit hat der Anteil der Protestanten an der Schweizer Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen, insbesondere zugunsten der konfessionslosen Personen. Der Anteil der Katholiken ist stabil geblieben, vor allem wegen der Immigration aus Italien, Spanien und Portugal.
Gemäss ZahlenExterner Link des Bundesamtes für Statistik waren die Katholiken 2014 in der Mehrheit (38% der Bevölkerung). Die Reformierten machten 26% und die Evangelikalen 1,7% aus.
(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)
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