«Auslandschweizerinnen und -schweizer haben wenig Platz im Parlament»
In diesem Wahljahr umwerben diverse politische Formationen die Schweizerinnen und Schweizer im Ausland. Im Parlament allerdings gehört die Verteidigung ihrer Interessen nicht wirklich zu den Prioritäten. Das meint der Politologe Marc Bühlmann.
Am 97. Auslandschweizer-Kongress in Montreux warben die Schweizer Parteien für ihre Programme und diskutierten an einem Podiumsgespräch. Zudem präsentierten swissinfo.ch und der Politologe Marc BühlmannExterner Link jeweils ein Ranking der Parteien, was deren Engagement für die so genannte «Fünfte Schweiz» betrifft. Ein sehr politischer Morgen also für die in Montreux versammelten Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer.
Auslandschweizer-Kongress
Mehr als 400 Mitglieder der «Fünften Schweiz» treffen sich jedes Jahr während drei Tagen in der Schweiz zum Auslandschweizer-KongressExterner Link. Die Veranstaltung beginnt traditionell mit der Sitzung des Auslandschweizerrats, dem «Parlament der Fünften Schweiz», bevor sie am Freitagabend offiziell eröffnet wird.
Der Samstag ist der Plenarsitzung und dem offiziellen Thema des diesjährigen Kongresses gewidmet: «Welche Welt für morgen?» Der Sonntag bietet jeweils die Gelegenheit, gemeinsam die Region des Gastgebers zu besuchen.
Bühlmann, erster Redner des Tages, machte gleich einen starken Eindruck. Der Politologe der Universität Bern, Direktor der Publikation «Année Politique Suisse», analysierte die Wortmeldungen, die während der vergangenen Legislaturperiode speziell die Auslandschweizer betrafen.
Seine Schlussfolgerungen sind unmissverständlich: Als Minderheit gelten die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer unter der Bundeshaus-Kuppel nicht wirklich als Priorität. Und wenn es um die Verteidigung ihrer Interessen geht, stehen die linken Parteien zuvorderst, wie er darlegte.
swissinfo.ch: Namhafte Vertreterinnen und Vertreter der wichtigsten Parteien des Landes waren am Samstag in Montreux anwesend, um am 97. Kongress der Auslandschweizer teilzunehmen. Lesen Sie daraus ein echtes Interesse an den Problemen der Schweizer Diaspora oder eine gute Dosis Opportunismus in einem Wahljahr?
Marc Bühlmann: Ein wenig von beidem. Einige Rednerinnen und Redner hatten sich kaum vorbereitet und recycelten lediglich die Powerpoint-Präsentation aus dem Programm ihrer Partei. Andere hingegen machten sich die Mühe, die Schweizer Expats spezifisch anzusprechen und legten ihre Positionen zu Themen dar, die jene besonders betreffen.
Man spürte auch, dass die Wahlen näher rücken und niemand die Zuhörer kränken wollte. So dämpfte etwa Petra Gössi, Präsidentin der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP.Die Liberalen), die Idee eines Ständerats ihrer Partei stark ab. Dieser hatte erklärt, das Stimmrecht für Auslandschweizer unter gewissen Umständen einzuschränken, was damals in der Diaspora für Empörung sorgte. Gössi nun erklärte, ihre Partei unterstütze diesen Vorschlag nicht; obwohl ich glaube, dass er eine echte Diskussion verdienen würde.
swissinfo.ch: Ihre Analyse zeigte, dass weniger als 0,5% aller im Parlament behandelten Geschäfte der Legislatur von 2015 bis 2019 die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer betrafen.
M.B.: Die Geschäfte, die effektiv den Begriff «Auslandschweizer» beinhalten, sind wirklich nicht sehr zahlreich. Hätte ich nach den Begriffen «Kühe» oder «Landwirtschaft» gesucht, wäre ich wahrscheinlich viel erfolgreicher gewesen. Das zeigt, dass das Parlament dieser Minderheit keinen grossen Platz einräumt.
swissinfo.ch: Womit erklären Sie sich das?
M.B.: Von den über 760’000 Schweizerinnen und Schweizer, die im Ausland leben, sind lediglich 180’000 in Stimm- und Wahlregistern eingetragen. Und wenn sie abstimmen und wählen, tun sie das in ihrem Herkunftskanton. Ihre Stimmen werden daher verwässert.
Ich fände es interessant, einen Wahlkreis für Auslandschweizer mit sechs oder sieben garantierten Sitzen im Nationalrat zu schaffen. Dies würde es ihnen ermöglichen, stärker in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden zu werden.
swissinfo.ch: Während der auslaufenden Legislatur sass mit Tim Guldimann erstmals ein Auslandschweizer im Nationalrat. Doch nach zwei Jahren trat er zurück. Was ziehen Sie für eine Bilanz daraus?
M.B.: Die anfängliche Idee war gut. Indem er aber als Grund für seinen Rücktritt angab, dass «man in Zürich nicht gleich in einem Tram fährt wie in der Berliner U-Bahn», schadete er den Auslandschweizern. Das ist es ja genau, was man von einem Vertreter der Diaspora erwartet: dass er eine andere Sichtweise hineinträgt und die spezifischen Interessen der im Ausland lebenden Schweizerinnen und Schweizer vertritt.
swissinfo.ch: Ihre Analyse zeigt auch, dass die linken Parteien den Anliegen der Auslandschweizer am nächsten sind. Überrascht?
Eidgenössische Abstimmungen: alles Wichtige während der Abstimmungsphase für Sie auf den Punkt gebracht. Abonnieren Sie unseren Newsletter.
Mehr
E-Voting bleibt mehr denn je Priorität für Fünfte Schweiz
M.B.: Überhaupt nicht. Es ist lediglich ein Spiegelbild der politischen Positionen der verschiedenen politischen Parteien. Es überrascht nicht, dass die Sozialdemokratische Partei (SP) eine grössere Offenheit gegenüber der Welt hat als die Schweizerische Volkspartei (SVP). Darüber hinaus liegt der Schutz von Minderheiten in der DNA der Linken.
swissinfo.ch: Der Entscheid des Bundes, auf das E-Voting zu verzichten, war für die Auslandschweizer Community ein Schock. Wie kam es dazu?
M.B.: Wir haben lediglich Diskussionen erlebt, die ganz typisch für die Funktionsweise der Schweizer Politik sind. Während einer langen Zeit interessierte sich nur eine kleine Minderheit von Spezialisten für dieses Thema. Aber als sich die Debatte in der Bevölkerung abzuzeichnen begann, ergriffen die Parteien diese und nahmen ziemlich klare Positionen ein.
Bleibt zu sagen, dass das E-Voting nicht für alle Zeiten beerdigt ist. In der Regel dauert es fast 20 Jahre, bis eine Lösung gefunden wird, die bei einem so sensiblen Thema für alle geeignet ist.
swissinfo.ch: Sie lesen diesen Entscheid also nicht als Zeichen für eine Schweiz, die Mühe damit hat, voranzukommen und in die Zukunft zu schauen?
M.B.: Nein, alle Politikerinnen und Politiker, die am Samstag in Montreux anwesend waren, sagten, dass eine Lösung gefunden werden würde. Die Frage ist, woraus diese Lösung bestehen wird und wann sie gefunden wird.
swissinfo.ch: Einige Politbeobachter sprechen von einer verlorenen Legislaturperiode während der letzten vier Jahre und betonen die zunehmende Polarisierung, zahlreiche Blockaden und grosse Schwierigkeiten bei der Konsensfindung. Wie beurteilen Sie den Gesundheitszustand des Schweizer Parlaments?
Die direkte Demokratie verpflichtet die Parteien und Politiker, jene Fragen zu diskutieren, welche die Bevölkerung beschäftigen.
M.B.: Ich teile diese Meinung nicht. Im Gegenteil, ich glaube, das System funktioniert sehr gut! Heute erleben wir in der Schweiz die Entstehung eines Systems mit drei oder vier Polen. Mehr als 70% der in der auslaufenden Legislatur behandelten Themen wurden durch wechselnde Koalitionen angenommen. Meiner Meinung nach ist diese Situation viel demokratischer als beispielsweise während der 1960er- oder 1970er-Jahren. Die SP verlor damals systematisch gegen den mehrheitlich bürgerlichen Block.
swissinfo.ch: Solche wechselnden Koalitionen sind auch in anderen Ländern zu beobachten. Denken wir nur an Italien mit der jüngsten Allianz zwischen der 5-Sterne-Bewegung und der Lega. Ist das ein globales Phänomen?
M.B.: Der riesige Unterschied ist die direkte Demokratie. Die Entscheide, auch wenn sie lange Zeit brauchen, sind das Ergebnis eines breiten Kompromisses und basieren daher auf einem hohen Mass an Legitimität. Die direkte Demokratie verpflichtet die Parteien und Politiker auch, jene Fragen zu diskutieren, welche die Bevölkerung beschäftigen.
Diese Themen schaffen es daher schneller auf die politische Agenda als in anderen Ländern, in denen etablierte Parteien nicht verpflichtet sind, die Anliegen der Bevölkerung zu berücksichtigen. Das erzeugt Wut und sogar Hass, was sich manchmal in Bewegungen wie den «Gelbwesten» in Frankreich oder der «Pegida» in Deutschland konzentriert. So etwas werden wir in der Schweiz nie sehen.
swissinfo.ch
Ignazio Cassis in Montreux
In seiner Rede sprach der Aussenminister die Auslandschweizer als «die ersten und wichtigsten Botschafterinnen und Botschafter» für Schweizer Interessen im Ausland an.
«Wir sollen unsere Swissness selbstbewusst und respektvoll in die Welt bringen. Aktiv mitreden, teilhaben an der Entwicklung dieser neuen globalisierten Welt», sagte Aussenminister Cassis mit Bezug auf seine «Aussenpolitische Vision 2028». Nur so könne die Schweiz ihre Interessen vertreten.
Darüber hinaus stellte Cassis den Bürgerinnen und Bürgern, die im Ausland leben, eine Umfrage zu den konsularischen Dienstleistungen in Aussicht. «Wir wollen auch von Ihnen hören, was Sie denken und was Sie brauchen», so Cassis.
Auf die konkreten Anliegen der Auslandgemeinschaft ging Cassis auch ein. So versprach er, dass bis Ende 2020 zusammen mit den Kantonen eine Neuausrichtung des Versuchsbetriebs zum E-Voting definiert werden solle.
(Quelle: SDA)
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch