Schweizer:innen wollen Reiche nicht stärker besteuern
Kapitaleinkommen - also die Reichen - werden nicht stärker besteuert: Obwohl soziale Ungleichheit der Schweizer Bevölkerung unter den Nägeln brennt, wird die 99-Prozent-Initiative deutlich abgelehnt.
Das reichste Prozent in der Schweiz besitzt über 40% der Vermögen. Soziale Ungleichheiten können zu Spannungen in einer Gesellschaft führen. Wenig erstaunlich stiess die 99%-Initiative auf grosse Resonanz.
Die 99%-Initiative der Jungsozialist:innen (Juso) will Kapitalerträge wie Zinsen, Mieten oder Dividenden eineinhalb mal so stark besteuern wie Lohneinkommen. Der Gesetzgeber würde einen Freibetrag festlegen. Die Initiant:innen denken an etwa 100’000 Franken.
Die Mehreinnahmen sollen die Steuerlast auf tieferen und mittleren Löhnen mildern. Ebenfalls könnten sie in Leistungen der sozialen Wohlfahrt etwa für Familien, Bildung und Gesundheit fliessen. Das Ziel besteht gemäss den Initiant:innen darin, mit einer höheren Besteuerung von einem Prozent der Bevölkerung und der Umverteilung mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen.
Die Initiative vereinigte rund 109’000 Unterschriften unter sich. Bekämpft wurde sie von Bundesrat, der Parlamentsmehrheit, der Mehrheit der Kantone, den Wirtschaftsverbänden und den Parteien SVP, FDP, Mitte-Partei und GLP. Unterstützung fand das Volksbegehren bei SP und Grünen.
Quelle: Keystone-SDA
Dennoch war das Anliegen chancenlos: 64,9% der Stimmenden lehnten die Vorlage ab, die Stimmbeteiligung lag bei rund 52% – das ist überdurchschnittlich. Kein einziger Kanton nahm die Vorlage an, die Initiative scheiterte also bereits am Ständemehr.
Am meisten Zustimmung fand die Initiative im Kanton Basel-Stadt mit über 48%. Einzelne Gemeinden in den Kantonen Tessin, Jura und Waadt haben die Volksinitiative angenommen. Von den grösseren Städten stimmten Zürich, Bern, Basel, Biel und Lausanne mit Ja.
Überraschend ist dieses Resultat nicht. Die Jungsozialist:innen sind mit Aussagen wie «Wir lehnen dieses Wirtschaftssystem ab» in der insgesamt eher bürgerlich tickenden Schweiz nicht mehrheitsfähig.
Besonders böse Kommentator:innen sagten, viele Schweizer:innen glaubten insgeheim, selbst einmal so reich zu sein, dass sie von der Initiative betroffen wären.
Verfangen haben dürfte allerdings vor allem das Argument, die Initiative schade dem Mittelstand und den KMUs. Denn auch wer keine Eigentumswohnung vermietet und keine Aktien hält, fürchtet sich vor einem Stellenverlust, wenn es der Wirtschaft schlecht geht.
Laut Politikwissenschafter Lukas Golder konnte die Initiative nicht mal einen Achtungserfolg erzielen. «Die 99%-Initiative hinterlässt kein Spuren in der Gesetzgebung, die Gerechtigkeit des Steuersystems wurde in den Medien nur minimal diskutiert und die Initiative konnte nicht über das linke Lager hinaus mobilisieren», sagte er gegenüber SRF.
Das sagt der Bundesrat
Finanzminister Ueli Maurer sagte vor den Medien, er habe die Debatte über die Initiative mit dem populären Titel als pragmatisch und konstruktiv erlebt. Wie bereits Regierung und Parlament habe offenbar auch die Bevölkerung den Eindruck, die Umverteilung genüge so, wie sie aktuell sei. «Damit ist dieses Kapitel geschlossen, das Steuersystem funktioniert so», befand Maurer. Es seien aber bereits einige weitere Steuervorlagen unterwegs.
Erste Reaktionen
Juso-Präsidentin Ronja Jansen sagte gegenüber SRF: «Wir werden auch nach diesem Abstimmungssonntag weiter für mehr Vermögens- und Verteilungsgerechtigkeit kämpfen.»
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So planen die Jungsozialist:innen bereits eine nächste Initiative gegen die Superreichen. Dabei geht es darum, «die Reichsten für die Klimakrise zahlen zu lassen», wie Juso-Vizepräsident Thomas Bruchez dem Westschweizer Fernsehen RTS sagte. Die Initiative zielt darauf ab, das private Vermögen auf 100 Millionen Franken zu beschränken und mit dem Überschuss einen wirtschaftlichen und sozialen Wandel zu finanzieren.
Nach dem Nein zur #99prozentinitiativeExterner Link geht das Engagement für Steuergerechtigkeit erst recht weiter: als erstes wehren wir uns gegen die Abschaffung der Stempelabgabe, von der nur Banken und Konzerne profitieren. #taxtherichExterner Link@JusoSchweizExterner Link @spschweizExterner Link
— Mattea Meyer (@meyer_mattea) September 26, 2021Externer Link
Nationalrätin Regula Rytz (Grüne/BE) äusserte gegenüber dem Schweizer Fernsehen SRF Bedauern ob des klaren Neins zur 99%-Initiative. Diese sei moderat gewesen. Die Gegner:innen hätten sich nicht mit dem Inhalt der Initiative beschäftigt, sondern nur mit der Absenderin, der Juso.
Rytz zeigte sich zudem besorgt über die zukünftige Steuerpolitik der Schweiz. «Es macht mir grosse Sorgen, dass die Steuersenkungs-Industrie einen ganzen Wunschkatalog von Forderungen zugunsten der Reichen umsetzen will», sagte sie (siehe auch Box). «Gegen diese Forderungen werden wir Referenden ergreifen», kündigte sie an.
Anhaltspunkte, wie sich das Steuersystem der Schweiz langfristig entwickeln könnte, liefert der Bericht «Steuerstandort Schweiz» des Eidgenössischen Finanzdepartements (EFD), datiert vom 20. Dezember 2020. In dem Bericht werden Leitsätze formuliert, die «als Kompass für die künftige steuerpolitische Diskussion» dienen sollen. So sollen «vorwiegend Einkommen und Konsum» besteuert werden – Steuern auf Kapital und Vermögen sollen hingegen gesenkt werden.
Darüber hinaus soll die Einführung einer «dualen Einkommensteuer» geprüft werden. Die einheitliche Besteuerung des Einkommens soll aufgegeben werden. Bei der dualen Einkommenssteuer wird mobiles Kapital proportional und tiefer besteuert als Arbeitseinkommen, das weiterhin direkt progressiv besteuert wird.
Die Expert:innengruppe hat gemäss Bericht eine Priorisierung aufgrund des Kosten-Nutzen-Verhältnisses vorgenommen und diese Ende November 2020 Finanzminister Maurer übergeben.
Die Diskussionen um die Weiterentwicklung des Schweizer Steuerrechts und die Steuergerechtigkeit werden also weitergehen.
Quelle: Keystone-SDA
Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse, der die Gegenkampagne angeführt hat, ist hingegen zufrieden. Die Direktorin von Economiesuisse, Monika Rühl, sagte gegenüber SRF: «Wir haben in diesem Land kein Umverteilungsproblem. Wir müssen unserer Wirtschaft Sorge tragen und attraktive Standortbestimmungen für die Unternehmen erhalten. Das kommt dann auch den Lohnempfängerinnen und Lohnempfängern zugute.»
Die Grünliberalen begrüssen das Nein zur #99ProzentinitiativeExterner Link. Denn wollen wir das Steuersystem reformieren, sollten wir das dort tun, wo es wirklich nötig ist: Beim Verbrauch endlicher Ressourcen und mit der Einführung der #IndividualbesteuerungExterner Link. #Abst21Externer Link #SteuerinitiativeExterner Link pic.twitter.com/ZdnhZwr1X1Externer Link
— Grünliberale Schweiz (@grunliberale) September 26, 2021Externer Link
Das klare Nein zur 99%-Initiative ist laut der Co-Präsidentin des Nein-Komitees Marianne Binder-Keller ein «Bekenntnis der Schweizer Bevölkerung zur Schweizer Wirtschaft». Die Bevölkerung habe pragmatisch für das Wohl der Unternehmen abgestimmt, sagte sie gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
Das Nein sei ein deutliches Votum gegen neue Steuern und gleichzeitig ein Bekenntnis zum Wirtschaftsstandort Schweiz, teilte der Schweizerische Gewerbeverband (SGV) am Sonntag mit. Die Stimmbevölkerung habe gezeigt, dass sie nicht bereit sei, linksgrüne Umverteilungsphantasien mitzutragen, so der SGV weiter.
Das sagen die Medien
Die Juso habe ein Imageproblem, kommentiert der Tages-AnzeigerExterner Link. Dass die 99%-Initiative so wuchtig abgelehnt worden sei, habe hauptsächlich mit der Absenderin zu tun. «Wenn Juso draufsteht, ist Juso drin: links, klassenkämpferisch.» Was im eigenen Lager gut ankomme, löse in weiten Teilen der Bevölkerung Skepsis aus.
Auch SRFExterner Link sieht die Absenderin als Problem. Zudem habe das geeinte bürgerliche Lager leichtes Spiel gehabt, indem es die Initiative als «brandgefährlich» für KMUs dargestellt habe. Mit der einfachen Formel «Gefahr für die Wirtschaft» hätten in den letzten Jahren praktisch alle linken Initiativen gebodigt werden können.
Laut St. Galler TagblattExterner Link «geht’s uns zu gut»: Die Coronahilfen hätten das Vertrauen der Bevölkerung gestärkt, dass es in der Schweiz relativ gerecht zu und her gehe.
Auch laut NZZExterner Link liegt das Kernproblem der Initiant:innen darin, dass ihr Klassenkampf auf der Wohlstandsinsel Schweiz gekünstelt wirke.
Hier geht es zu den Resultaten der zweiten Vorlage, über die an diesem Abstimmungssonntag entschieden wurde:
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