Anti-Terror-Gesetz: missbräuchlich oder notwendig?
Am 13. Juni wird das Schweizer Stimmvolk über ein neues Anti-Terror-Gesetz abstimmen. Dieses sorgt über die Landesgrenzen hinaus für Kontroversen. Manche sehen darin einen besseren Schutz für die Bevölkerung, andere eine Bedrohung der Persönlichkeitsrechte.
Nach den Anschlägen auf das französische Satire-Magazin Charlie Hebdo 2015 in Paris verabschiedete die Schweiz eine Strategie zur TerrorismusbekämpfungExterner Link. Eine der zentralen Säulen ist das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (PMT).
Die Welle von terroristischen Angriffen, die in den letzten Jahren über Europa hinweggefegt ist, hat die Schweiz bisher nicht gross getroffen. Im vergangenen Jahr jedoch erlebte die Schweiz ihre ersten beiden dschihadistischen Attacken: eine Messerstecherei in der Stadt Morges im Kanton Waadt, die ein Todesopfer forderte, und eine Messerattacke mit Verletzten im Tessin.
Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) schätzt die terroristische Bedrohung in der Schweiz weiterhin als hoch ein. Vor diesem Hintergrund müssen die Schweizer Stimmberechtigten entscheiden, ob sie Sicherheitsdiensten mehr Befugnisse geben wollen, um weitere Anschläge zu verhindern.
Was steht auf dem Spiel?
Heute kann die Polizei erst gegen eine Person vorgehen, wenn diese eine Straftat begangen hat. Mit dem neuen Gesetz haben Regierung und Parlament eine Rechtsgrundlage geschaffen, die den Strafverfolgungs-Behörden neue Instrumente an die Hand gibt, um präventiv gegen potenzielle Terroristinnen und Terroristen vorzugehen.
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Konkret erlaubt das Gesetz dem Bundesamt für Polizei (Fedpol), mit einer Reihe von Massnahmen gegen so genannte Gefährder vorzugehen, die im Verdacht stehen, eine Bedrohung darzustellen. Dies auch dann, wenn «keine ausreichenden Beweise für die Einleitung eines Strafverfahrens vorliegen».
So kann die Person verpflichtet werden, an Befragungen teilzunehmen oder sich regelmässig bei einer Behörde zu melden. Ihr kann auch verboten werden, das Schweizer Territorium zu verlassen, bestimmte Personen zu kontaktieren oder ein bestimmtes Gebiet zu betreten (Rayonverbot). Als letztes Mittel, allerdings nur mit Genehmigung eines Richters oder einer Richterin, kann die Person auch unter Hausarrest gestellt werden.
Im Mai 2019 hatte das Fedpol versichert, dass diese Reformen nur «ein paar Dutzend Personen» betreffen würden. Die Massnahmen könnten ab einem Alter von zwölf Jahren verhängt werden. Die Ausnahme bildet der Hausarrest, der ab 15 Jahren angeordnet werden könnte, und dies nur für eine begrenzte Dauer.
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Die wichtigsten Argumente für das neue Gesetz
Die derzeit in der Schweiz eingesetzten Massnahmen und Instrumente zum Umgang mit Gefährdern reichen nach Ansicht von Regierung und Parlament nicht aus. Das neue Gesetz schliesse in der nationalen Anti-Terror-Strategie die Lücken, indem es der Polizei ermögliche, Massnahmen zu ergreifen. Dies, sobald konkrete und aktuelle Hinweise vorliegen, dass jemand eine terroristische Tat begehen wolle. Dadurch werde ein besserer Schutz für die Öffentlichkeit gewährleistet.
Es würden auch Massnahmen je nach Situation ergriffen, sagen die Befürworter. Erste Option sei eine psychologische Betreuung oder ein Beschäftigungsprogramm. Wenn dies nicht funktioniere, würden strengere Massnahmen ergriffen.
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Das Ja-Lager behauptet auch, dass die neue Rechtsgrundlage mit den Grundrechten, mit der Europäischen Menschenrechts-Konvention (EMRK) und den einschlägigen UNO-Verträgen vereinbar sei. Der Hausarrest muss von einem Gericht genehmigt werden, und alle Massnahmen können beim Bundesverwaltungsgericht angefochten werden.
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Die Hauptargumente gegen das neue Gesetz
Für die Gegenseite ist die Justizreform missbräuchlich. Das Nein-Lager ist der Meinung, dass das Gesetz Terrorismus zu vage definiert, der Willkür Tür und Tor öffnet und so unbescholtene Bürgerinnen und Bürger bedroht.
Auch die Gewaltenteilung wird gemäss Nein-Lager nicht respektiert. Mit Ausnahme des Hausarrests obliegt es der Bundespolizei, die Massnahmen anzuordnen und durchzuführen. Die Gegnerinnen und Gegner bedauern das Fehlen einer gerichtlichen Überprüfungsinstanz.
Was die Massnahmen an sich betrifft, so verstossen sie laut der Gegnerseite gegen die Europäische Menschenrechts-Konvention. Diese verbietet willkürliche Freiheitsberaubung, die allein auf der Grundlage eines Verdachts beruht. Auch verstosse das Gesetz gegen die Konvention über die Rechte des Kindes.
Sehr viele Unterschriften gesammelt
Das Anti-Terror-Gesetz des Bundes wurde im September 2020 vom Parlament verabschiedet. Das parteiübergreifende Komitee «Nein zum Willkür-Paragraphen», dem die Jungen Grünen, die Jungsozialistische Partei, die Jungen Grünliberalen und die Piratenpartei angehören, hat erfolgreich das Referendum gegen das Gesetz ergriffen. Sie sammelten innert 100 Tagen über 140’000 Unterschriften, nötig gewesen wären 50’000.
Mit dem Referendum können Bürgerinnen und Organisationen bewirken, dass das Volk über ein neues Gesetz des Parlaments abstimmen kann. Es ist also gewissermassen ein Recht zum Volksveto gegen einen Parlamentsbeschluss.
Wer sind die Gegner und Befürworter?
Das neue Anti-Terror-Gesetz polarisiert stark. Bei der Schlussabstimmung im Parlament wurde der Text von fast allen Parteien der Rechten und der Mitte unterstützt. Dagegen stimmten die Grünen, ebenso die Linke.
Das Gesetz hat auch über die Grenzen der Schweiz zu reden gegeben. Das Büro des UNO-Hochkommissars für Menschenrechte kritisierte in einem Brief an die Schweizer Regierung, dass der Gesetzesentwurf dem willkürlichen Freiheitsentzug Tür und Tor öffne. Ähnlich kritisch äusserte sich die Menschenrechts-Kommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic.
Die Plattform der Schweizer NGOs für Menschenrechte, es ist dies ein Netzwerk von mehr als 80 Organisationen, ist ebenfalls gegen die Gesetzesverschärfung.
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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