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Organspende: Das ethischere Modell kommt nicht zur Abstimmung

Ausfüllen des Organspendeausweises
Das Angebot ist kleiner als die Nachfrage: Ende 2021 warteten 1434 Menschen auf ein Spendeorgan. © Keystone / Christian Beutler

Am 15. Mai stimmt die Schweiz darüber ab, welcher Modus für Organspenden gelten soll. Zur Debatte stehen zwei Lösungen. Doch die Nationale Ethikkommission favorisiert eigentlich eine dritte.

Selten sind Abstimmungsvorlagen so anschaulich wie jene zur Organspende. Eine Person braucht – anders etwa als bei anderen Vorlagen – kein tiefes Fachwissen, um darüber nachzudenken, ob sie Organe, Gewebe und Zellen spenden will. Dass die Frage so handfest daherkommt, kann aber nicht verschleiern, welch ethisches Gewicht sie trägt.

Aktuell dürfen in der Schweiz einer Person nur Organe entnommen werden, wenn sie zu Lebzeiten einer Spende zugestimmt hat. Liegt keine Willensäusserung vor, müssen die Angehörigen im Sinne der Verstorbenen entscheiden. Dieses System nennt sich «erweiterte Zustimmungslösung». Erweitert darum, weil die Angehörigen einbezogen werden.

Chronischer Mangel an Organen

Häufig ist der Wille der verstorbenen Person aber nicht bekannt. In mehr als der Hälfte dieser Fälle lehnen die Angehörigen eine Organentnahme ab. Pro Jahr erhalten in der Schweiz rund 450 Menschen Organe von verstorbenen Personen. Das Angebot ist allerdings kleiner als die Nachfrage: Ende 2021 warteten 1434 Menschen auf ein Spendeorgan.

Mit der Änderung des Transplantationsgesetzes will der Bundesrat die Zahl der verfügbaren Organe erhöhen. Würde die zur Abstimmung stehende «erweiterte Widerspruchslösung» eingeführt, dürften verstorbenen Menschen Organe entnommen werden, sofern sie zu Lebzeiten eine Spende nicht abgelehnt haben. Auch hier würden die Angehörigen beigezogen, wenn der Wille der verstorbenen Person nicht bekannt ist. Sie dürften die Spende ablehnen, wenn sie wissen oder vermuten, dass die betroffene Person sich dagegen entschieden hätte.

Unter der aktuellen Rechtslage ist es für eine Organentnahme zwingend, dass die betroffene Person oder ihre Angehörigen ausdrücklich in eine Spende eingewilligt haben. Unter der neuen Regelung hingegen könnten einer Person Organe entnommen werden, wenn sie sich dazu nie aktiv geäussert hat und die Angehörigen nicht widersprochen haben.

Erweiterte Zustimmungslösung, geltendes Modell: Eine Person erklärt ausdrücklich, dass ihr im Todesfall Organe entnommen werden dürfen. Liegt keine solche Erklärung vor, können Angehörige im Sinne der Verstorbenen entscheiden.

Erweiterte Widerspruchslösung, neu vorgeschlagenes Modell: Eine Person erklärt ausdrücklich, dass ihr im Todesfall keine Organe entnommen werden dürfen. Liegt keine solche Erklärung vor, können Angehörige im Sinn der Verstorbenen Widerspruch gegen eine Organentnahme einlegen.

Erklärungslösung, steht nicht zur Debatte: Eine Person erklärt ausdrücklich, ob ihr Organe entnommen werden dürfen oder nicht. Eine solche Erklärung würde an geeigneter Stelle deponiert. Es wäre die bevorzugte Lösung der Ethikkommission.

«Schweigen ist nicht Zustimmung»

Die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK) findet diesen Systemwechsel problematisch. «Von einem Schweigen darf nicht auf eine Zustimmung geschlossen werden», sagt NEK-Präsidentin Andrea Büchler. Nur wenn eine Pflicht zur Äusserung bestehe, könne ein Schweigen als implizite Form eines Einverständnisses gewertet werden, schreibt die NEK in ihrer Stellungnahme zur Organspende.

Andrea Büchler
Die Präsidentin der NEK, Andrea Büchler, ist von der Widerspruchslösung nicht überzeugt. zVg

Umfragen zeigen, dass 80 Prozent der befragten Personen bereit sind, ihre Organe nach dem Tod zu spenden. Die Widerspruchslösung würde also dem Willen der meisten potenziellen Spenderinnen und Spender entsprechen. Doch die NEK warnt in ihrer Stellungnahme vor dieser Folgerung: Es bestehe ein Unterschied zwischen der Haltung, die in einer Umfrage geäussert wird, «und dem autonomen, authentischen Willen einer Person, wie er sich im Moment der persönlichen Entscheidung manifestiert.» Bei einer Umfrage bestehe die Gefahr, dass die befragte Person mit ihren Antworten der sozial erwünschten Erwartung entsprechen möchte – und darum nicht ihren wahren Willen kundtue.

Eintrag im Fahrausweis

Neben der Zustimmungs- und Widerspruchslösung gibt es eine dritte Option: Die Erklärungslösung. Bürgerinnen und Bürger würden aufgefordert, sich mit der Thematik zu befassen und eine Erklärung abzugeben, ob sie ihre Organe spenden wollen oder nicht. «Diese Lösung trägt dem Selbstbestimmungsrecht am besten Rechnung. Durch die Erklärung wissen wir, was die Person tatsächlich wollte», so Andrea Büchler. Die NEK favorisiert die Erklärungslösung.

In vielen US-Bundesstaaten gilt die Erklärungslösung; der Spendewille wird im Führerausweis festgehalten. Deutschland hat die Erklärungslösung im Januar 2020 eingeführt, an Ausweisstellen kann der Wille deponiert werden und Hausärztinnen sollen ihre Patienten zum Eintrag in das Online-Register ermutigen. In den Niederlanden steht die Erklärungslösung aktuell zur Debatte.

In seinem Bericht zur Änderung des Transplantationsgesetzes hat sich der Bundesrat auch mit dem Erklärungsmodell befasst, allerdings nur rudimentär. Die wiederholte Abfrage könnte als Eingriff in die persönliche Freiheit wahrgenommen werden und der positive Effekt auf die Spenderate schätzte er als geringer ein als bei der Widerspruchslösung. Darum wurde diese Variante nicht weiterverfolgt. Bei der anschliessenden Debatte im Nationalrat wurde die Erklärungslösung nochmals diskutiert, fand aber keine Mehrheit. «Bürokratiemonster», «Überforderung» und «hohe Kosten» waren Begriffe, die Gegnerinnen und Gegner äusserten.

Was führt zur höchsten Spenderate?

Die NEK schreibt, dass die Konfrontation mit der Organspende zwar das Selbstbestimmungsrecht einer Person tangiere – also das Recht, sich nicht mit dem Thema befassen zu müssen. Aber die Konfrontation sei verhältnismässig, da das öffentliche Interesse bestehe, Leben anderer Menschen zu retten. Wichtig bei der Erklärungslösung sei aber, neben der Zustimmung und der Ablehnung auch die dritte Antwortkategorie «keine Erklärung» vorzusehen, betont Büchler.

Mathias Wirth ist Medizinethiker an der Universität Bern. Er befürwortet die Widerspruchslösung, da er annimmt, dass sie zu einer höheren Spenderate führt. Auf Basis der aktuellen Forschung lässt sich aber nicht erhärten, dass eines der drei Modelle zu einer höheren Spenderate führt als die anderen beiden.

Mathias Wirth
Mathias Wirth von der Universität Bern warnt von einem «utopischen» Autonomiebegriff. Béatrice Devènes

Für die Erklärungslösung spricht für Wirth, dass sie die Autonomie stärkt und nicht aus einem Schweigen eine Zustimmung ableite. Wirth warnt aber von einem «utopischen» Autonomiebegriff: «Menschen können nie völlig frei über sich verfügen, zum Beispiel wenn ihre eigenen Handlungen die Freiheit ihrer Mitmenschen betreffen.» Als weitere Beispiele nennt er die Pflicht, Steuern zu zahlen, die dem Gemeinwesen zukommen und die Pflicht, Rettung aufzubieten, wenn ein jemand in Lebensgefahr schwebt.

In der Organspende sieht Wirth eine solche Hilfspflicht. «Wer ein fremdes Leben retten kann, ohne das eigene zu gefährden, sollte das tun. Das ist ein Grundkonsens in vielen Moralvorstellungen.» Das eigene Leben wird bei der Organspende nicht gefährdet, denn als Spender kommt nur in Frage, wer tot ist.

Klar ist: Etwas muss sich ändern

Aus dieser Hilfspflicht folgert Wirth, dass es zumutbar sei, sich mit der Frage der Organspende zu befassen: «Das Zusammenleben in der Gesellschaft hängt davon ab, dass das Leben geschützt wird.» Damit verbunden seien gewisse soziale Verpflichtungen – zum Beispiel die Beschäftigung mit dem eigenen Tod, um über die Organspende zu entscheiden.

Klar sei es unangenehm, in der Blüte des Lebens über das Sterben nachzudenken. Aber: «Als Gesellschaft sollten wir uns überlegen, wie viele Menschen bereits gestorben sind, weil andere nicht bereit waren, sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen.» Mit der Einführung der Widerspruchslösung würde sich diese Zahl verkleinern lassen, ist Wirth überzeugt.

NEK-Präsidentin Andrea Büchler und Medizinethiker Mathias Wirth sind sich einig, dass sich an der aktuellen Organspende-Regelung in der Schweiz etwas ändern muss. Wirth favorisiert die Widerspruchslösung; Büchler die Erklärungslösung. Doch zu dieser können sich die Stimmberechtigten am 15. Mai nicht äussern.

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