Historisch: Genf erteilt Behinderten das Stimmrecht
Der Kanton Genf macht Schluss mit der Diskriminierung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung: Sie können nun an Abstimmungen und Wahlen teilnehmen. Dies zumindest auf kommunaler und kantonaler Ebene. Die Behindertenorganisationen reagieren erfreut und hoffen nun auf den Nachahmer-Effekt.
Mit einer satten Mehrheit von 75%: Am Sonntag haben die Genfer Bürgerinnen und Bürger klar Ja dazu gesagt, dass rund 1200 Menschen, die unter umfassender Beistandschaft stehen, politische Rechte erhalten.
Somit ist Genf der erste der 26 Kantone in der Schweiz, wo Personen unabhängig von ihrer geistigen oder psychischen Behinderung, abstimmen und wählen dürfen. Dazu gehört auch das passive Wahlrecht: Im Kanton sind also auch Menschen mit Behinderungen in öffentliche Ämter wählbar.
Verstoss gegen das Völkerrecht
Mit dem klaren Verdikt ist Genf auch der einzige Schweizer Kanton, der das internationale Behindertenrecht respektiert. Denn der aktuelle Ausschluss sowohl auf kantonaler als auch auf Bundesebene verstösst gegen die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, der die Schweiz 2014 beitrat. Der für die Umsetzung der Konvention zuständige UNO-Ausschuss, dem mit dem Basler Staatsrechtsprofessor Markus Schefer auch ein Vertreter aus der Schweiz angehört, duldet keine Einschränkungen der politischen Rechte.
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«Die Entscheidungsfähigkeit einer Person darf nicht geltend gemacht werden, um die Ausübung politischer Rechte einzuschränken», besagt die Satzung. In europäischen Ländern wie Schweden, Frankreich, Österreich, Italien, Grossbritannien und Spanien haben Menschen mit Behinderungen bereits das allgemeine Wahlrecht.
Die Reform der Genfer Kantonsverfassung wurde von der Linken initiiert und war wenig umstritten: Nur die Schweizerische Volkspartei (SVP) war dagegen. Die rechtskonservative Partei befürchtete, dass damit das Risiko erhöht werde, dass andere Personen das Stimmrecht anstelle der behinderten Personen ausüben und damit knappe Entscheidungen manipulieren könnten.
Weiterer Schritt zur Integration
Die Behindertenverbände begrüssen die Entscheidung zugunsten der Integration von Behinderten in die Gesellschaft, die eine starke symbolische Bedeutung hat. «Es ist ein Zeichen dafür, dass die Bevölkerung verstanden hat, dass man trotz gewisser Mängel eine eigene Meinung, einen freien Willen und Ansichten über die Gesellschaft haben kann», sagt Emmanuelle Seingre, Vizepräsidentin von Insieme, dem Schweizerischen Verband der Elternvereinigungen von Menschen mit geistiger Behinderung.
Wer sind die Menschen, die in Genf neu wählen und abstimmen können? Es handelt sich um Personen mit einer geistigen Behinderung oder solche mit psychischen Problemen. Aber auch um gefährdete Menschen, die Hilfe benötigen. «Einige sind nicht in der Lage, sich eine Meinung zu bilden und werden ihr neues Recht nicht ausüben können», sagt Emmanuelle Seingre.
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Behinderte wollen auch in der Politik mitreden
«Ein Teil der Betroffenen hat jedoch die Fähigkeit, eine Meinung zu äussern und einen echten Wunsch, zum politischen Leben beizutragen», stellt die Vizepräsidentin von insieme Schweiz fest. Dazu zählten insbesondere auch Menschen mit Trisomie 21.
«Institutionen und Verbände arbeiten daran, Menschen mit Behinderungen zugängliche Informationen zur Verfügung zu stellen und ihnen beizubringen, wie sie sich positionieren und ihre Meinung äussern können», so Emmanuelle Seingre weiter. «Ich bin manchmal beeindruckt, wenn ich sehe, wie stolz die Menschen sind, dass sie an Wahlen teilnehmen können.»
Der Kampf ist nicht vorbei
Der Fall von Anne Tercier, einer 41-jährigen Frau aus dem Kanton Waadt, wurde besonders bekannt. Sie leidet an einer Behinderung und lebt in einer Institution in Lausanne. Trotz ihres grossen Interesses an der Politik und ihrer Fähigkeit zur Reflexion wurde sie nach einer Änderung des Vormundschaftsgesetzes im Kanton Waadt im Jahr 2018 ihrer politischen Rechte beraubt.
Wie die Zeitung «Le Temps» kürzlich berichtete, kämpfte sie mit den Behörden um deren Rückgewinnung. Mit Erfolg. «Ich habe sofort entschieden, dass ich das nicht zulassen werde, und bat ich meinen Arzt um ein Attest. Dann schrieb ich an den Friedensrichter der Gemeinde», sagte Anne Tercier der Tageszeitung. Aber viele andere Betroffene in derselben Situation hätten das nicht geschafft.
«Wir hoffen, dass die Entscheidung von Genf Signalwirkung haben wird», sagt Seingre. Auch der Dachverband Inclusion Handicap hofft, dass die Genfer Abstimmung «einen vielversprechenden Präzedenzfall» schaffen wird. «Der Bund und alle anderen Kantone müssen rasch Reformen einleiten, damit das aktive und passive Wahlrecht für alle gilt», schrieb er in einer Reaktion auf den Genfer Abstimmungssieg.
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