Abwahlen und Abgänge in der Regierung der Schweiz: Diese Bundesräte mussten unfreiwillig gehen
Der Druck auf Bundespräsident Alain Berset wächst – er wäre nicht der erste Minister, der unfreiwillig geht.
Die Schweiz kennt kein Misstrauensvotum. Das Parlament wird alle vier Jahre nach Plan gewählt. Und zu den ersten Dingen, die das neue Parlament macht, gehört die Wahl des Bundesrats. Nur dann, das nächste Mal im Dezember 2023, können Bundesrät:innen abgewählt werden.
Abwahlen aus dem Bundesrat im 19. Jahrhundert
Die Abwahl eines oder mehrerer Mitglieder des Bundesrats ist kein Drama: Sie ist ein ganz legitimes Mittel in der liberalen Demokratie, wie sie seit der Bundesverfassung von 1848 in der Schweiz existiert. In den Jahrzehnten danach gehörten abgewählte Bundesräte zur Logik des politischen Systems: Die Liberalen verfügten über die absolute Mehrheit im Parlament. Die Liberalen bestimmten, wer von ihnen in der Regierung sitzt.
Trotzdem waren Abwahlen auch im 19. Jahrhundert selten. Der 1848 gewählte Berner Ulrich Ochsenbein – ein Radikaler, der sich aus Opportunismus den Konservativen angeschlossen hatte – wurde 1854 nicht mehr wiedergewählt, weil die Liberalen ihm nicht mehr das Vertrauen aussprachen.
1872 musste der Genfer Jean-Jacques Challet-Venel seine Opposition gegen die Reform der Bundesverfassung mit einer Abwahl bezahlen.
Öfter wurden Bundesräte damals aber erst im zweiten oder dritten Wahlgang bestätigt – auch als Denkzettel.
Die Dinge änderten sich am Ende des 19. Jahrhunderts, als sich das Parlament in mehrere Fraktionen aufsplitterte und die Katholisch-Konservativen in die Regierung eintraten.
80 Jahre ohne Angriff auf Gewählte im Bundesrat
Seit 1919 wird der Nationalrat mit dem Proporzsystem gewählt. Seither verfügt keine Partei mehr über eine absolute Mehrheit in der Bundesversammlung. Die Abwahl eines Bundesrats ist damit schwieriger und risikoreicher geworden.
Bis zum ersten offensichtlichen Abwahlversuch dauerte es 80 Jahre: 1999 stellte die Schweizerische Volkspartei SVP Christoph Blocher als Kandidat auf. Blochers Kandidatur war eine Attacke auf die beiden Sozialdemokrat:innen in der Regierung. Die SVP hatte die Parlamentswahlen 1999 deutlich gewonnen. Rein rechnerisch hätte sie in der Tradition der Konkordanzregierung schon damals Anrecht auf einen zweiten Sitz gehabt.
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Nach einem weiteren Sieg bei den Parlamentswahlen 2003 war die SVP mit Abstand grösste Partei und Blocher trat wieder an. Er gewann die Kampfwahl gegen die Christdemokratin Ruth Metzler. Metzler ist 1999 die jüngste Bundesrätin seit über 120 Jahren geworden – vier Jahre später war sie die erste Abgewählte seit mehr als einem Jahrhundert.
Christoph Blocher blieb bis 2007 Bundesrat. Dann erlebte er dasselbe Schicksal wie Metzler: die Abwahl. An seiner Stelle wählte das Parlament Eveline Widmer-Schlumpf, zuvor SVP-Finanzministerin im Kanton Graubünden. Die SVP reagierte prompt und schloss Widmer-Schlumpf aus der Partei aus. Teile der SVP gründeten in der Folge die gemässigtere BDP, der auch Widmer-Schlumpf beitrat. Mittlerweile hat die BDP mit den Christdemokrat:innen zur Partei «Die Mitte» fusioniert.
Dass das Parlament anstelle der offiziellen Kandidat:in einen anderen Politiker derselben Partei wählte, kam zwar zuvor bereits vor. Allerdings nicht, wenn der Kandidat – wie Blocher – bereits gewähltes Mitglied der Landesregierung war.
Zum Rücktritt gezwungene Bundesräte
Allerdings sind Blocher und Metzler nicht die einzigen, die in jüngerer Zeit unfreiwillig aus dem Bundesrat abgegangen sind. Im 20. Jahrhundert wurden zwei Bundesräte zum Rücktritt gebracht. Bundesrat Arthur Hofmann lancierte 1917 eine persönliche Initiative für einen separaten Frieden zwischen Deutschland und Russland. Er musste zurücktreten, weil er mit dieser Initiative die Schweizerische Neutralität kompromittiert hatte.
Aussenpolitische Gründe führten 1944 auch zum Rücktritt des Waadtländers Marcel Pilet-Golaz. Er hatte sich als Freund der Achsenmächte zu weit aus dem Fenster gelehnt. Damit war er zu einem Hindernis im Hinblick auf die Normalisierung der Beziehungen zur Sowjetunion geworden.
Rücktritte aus dem Bundesrat nach Skandalen
Zwei weitere Bundesräte mussten ihre Politkarriere wegen politischer Skandale beenden. Militärminister Paul Chaudet geriet 1966 unter die Räder der sogenannten Mirage-Affäre. Bei der Mirage-Affäre ging es um eine enorme Kostenüberschreitung beim Ankauf von Kampfflugzeugen des Typs Mirage.
Die Freisinnigen entschieden, ihn nicht mehr für die Vizepräsidentschaft der Eidgenossenschaft vorzuschlagen, weil sie negative Auswirkungen auf die Parlamentswahlen 1967 befürchteten. Chaudet legte daraufhin sein Amt nieder.
Die freisinnige Elisabeth Kopp war von 1984 bis 1989 die erste Frau im Bundesrat. Im Dezember 1988 hatte sie zugegeben, ihren Ehemann über eine Strafuntersuchung gegen eine Firma unterrichtet zu haben, bei welcher dieser Vizepräsident war.
Rücktritte aus dem Bundesrat nach politischen Niederlagen
Wenn Bundesrät:innen Volksabstimmungen verlieren, kann sie das auch vom Rücktritt überzeugen. Der Sozialdemokrat Max Weber trat 1953 zurück, nachdem seine Finanzreform verworfen worden war. Der freisinnige Heinrich Häberlin legte sein Amt 1934 nieder, nachdem ein Gesetz für die Staatssicherheit in einer Volksabstimmung gescheitert war.
Infolge dieser «Lex Häberlin» sorgte sein Kollege Jean-Marie Musy für einen Sonderfall. Musy stellte nach dem Scheitern dieses Gesetzesvorhabens den Gesamtbundesrat vor ein Ultimatum zur Staatssicherheit. Als seine Kollegen sich weigerten, trat Musy unerwartet zurück. Der Rechtsnationale und Konservative pflegte danach bis in den Zweiten Weltkrieg hinein Beziehungen zur nazifreundlichen Nationalen Bewegung der Schweiz.
Dieser Beitrag von 2003 wurde 2023 umfassend überarbeitet.
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