Auf den Spuren von Plinio Martini im Tessiner Valle Bavona
(Keystone-SDA) Plinio Martinis Romane und Erzählungen entzaubern das Tessin von allen Sonnenstuben- und Zoccoli-Klischees. Die Fondazione Valle Bavona hat einen ersten literarisch-geographischen Spaziergang auf Martinis Spuren durchgeführt. Eine Fortsetzung 2018 ist geplant.
«Wir waren eine Insel ausserhalb der Zeit, die letzte Hand voll Mehl auf dem Grunde des Sackes» lässt Plinio Martini seinen Ich-Erzähler Gori im Migrationsroman «Il fondo del sacco» sagen. «Schon damals begannen die Sommergäste ins Val Bavona und bis auf die Alpweiden vorzudringen, um uns zu besichtigen, als ob wir Rothäute wären. Sie fotografierten uns sogar und wir Trottel stellten uns mit der gerla auf dem Rücken in Positur. Weiss Gott, in welchen Häusern unsere Gesichter schliesslich endeten, um luxusübersättigte Menschen zu amüsieren.»
Hunger, Armut und Allgegenwärtigkeit des Todes treiben Gori um 1927 aus dem kargen Alltag im Valle Bavona nach Kalifornien. Zurück lässt er seine erste Liebe, Maddalena, Familie und Freunde. Als er 20 Jahre später zurückkehrt ist nichts mehr wie es war: Maddalena ist tot, die Mutter behindert und der Vater krank. Die in der Ferne voll Heimweh gesuchte Welt existiert nicht mehr.
Später Durchbruch als Schriftsteller
Plinio Martini kam im August 1923 in Cavergno im Valle Bavona als Sohn des Dorfbäckers auf die Welt und wuchs mit sieben Brüdern in ärmlichen Verhältnissen auf. Er wurde Lehrer und unterrichtete in Cavergno und in Cevio. Den Durchbruch als Schriftsteller schaffte er relativ spät. Erst 1970, neun Jahre vor seinem Tod, erschien der Roman «Il fondo del sacco», der mit dem Titel «Nicht Anfang und nicht Ende» beim Limmat Verlag auf Deutsch erschienen ist.
Die Texte Martinis sind derart von tiefer Melancholie, von verhaltenem Zorn und Trauer geprägt, dass dieser strahlende Sommertag an dem ein gutes Dutzend Menschen auf den Spuren des Dichters das Tal erkundet, kaum zu ihnen passen will. Doch wer das Valle Bavona nicht kennt, kann die Tiefe, die Schönheit und die Präzision des Werkes von Martini kaum erkennen.
Das Tal erscheint auch heute noch wie ausserhalb der Zeit. Martini selbst hat für dieses Porträt jeden Winkel, jeden Steg erkundet. Die im Roman geschilderten Lebensgeschichten, die schrecklichen Unfälle, die scheuen Begegnungen zwischen Liebenden haben sich so in seinem nächsten Umfeld zugetragen. Die Personen, zuweilen auch die Ortsnamen, sind fiktiv – mit Ausnahme von Don Giuseppe Fiscalini, der das Dorf Cavergno unter eiserner, streng katholischer Knute hielt.
Das harte Leben der Terrieri
Unser Spaziergang beginnt an der Piazza des Weilers Sonlerto. Die Kirche ist ein integrierter Teil des Dörfchens, dessen Steinhäuser zwischen den steilen Talwänden eng zusammenstehen. «Häuschen, die sich mit offenen Türen eng zusammendrängten, um einander Gesellschaft zu leisten; zu einer Tür hinaus, zur nächsten hinein, und überall bist du zu Hause, unter Leuten deiner Art, die dich kennen und gern haben», heisst es in Martinis Roman. Terre heissen sie, die 12 Weiler im Valle Bavona, und ihre Bewohner Terrieri, weil nur dort Leben gedeihen konnte, wo auch Erde war.
Um irgendwo etwas anbauen zu können schleppten die Terrieri auch Erde auf die riesigen Felsbrocken, die seit Jahrtausenden von den Talwänden herabstürzten und dank der menschlichen Pflege Heu oder Gemüse hervorbrachten.
Tod und Unglück
In seinem zweiten eindrücklichen Roman «Requiem für Tante Domenica» ruft sich die Hauptperson während einer Beerdigung die bäuerliche, von strenger katholischer Moral geprägte Vergangenheit in Erinnerung. Im Zentrum seine grosse Liebe Giovanna «auf einem der grossen Felsblöcke, die man nur im Valbavona antrifft. In alten Zeiten hat der Hunger die Menschen bewogen, korbweise Erde hinaufzuschleppen und Miniaturwiesen anzulegen, die gerade ein paar Handvoll sonnverbranntes Heu lieferten. Dort oben stand Giovanna und rief ihm zu er solle auf sie warten».
Doch die Felsbrocken, die von den steilen Felswänden herabstürzten, brachten auch Tod und Unglück. Oberhalb des Weilers Foroglio finden wir eine kleine Kapelle und einen Felsbrocken, auf dem eingeritzt ist, was Martini beschreibt: «Da war der arme Junge, der oben über Frodone 35 Stunden im Sterben lag, weil ihm ein Felsbrocken, den man nicht wegwälzen konnte, die Beine bis zur Leiste zerquetscht hatte.»
Solche und andere Unglücke geschahen im Valle Bavona so oft, schreibt Martini, dass «sich die Angehörigen, wenn man einen mit einer Lungenentzündung vom Berg herunterschaffte, damit trösteten, sie hätten ihn wenigstens in seinem Bett sterben gesehen».
Martini selbst erkrankte in den 60er Jahren an einem Hirntumor, an welchem er nach jahrelangem Leiden 1979 im Alter von 56 Jahren starb. Er gehört längst zu den Klassikern der Tessiner Literatur. In den Tessiner Schulen wurde er bis anhin wenig gelesen. Das scheint sich jetzt zu ändern.
Verfasserin: Barbara Hofmann, sfd