Hitachi Europe-Chef Brice Koch: «Ich bewundere die japanische Unternehmenskultur»
Brice Koch, der Schweizer Präsident von Hitachi Europe, ist als Nicht-Japaner eine Ausnahme in der Führungsriege von Hitachi. Im Interview erzählt er, wie er das Unternehmen globaler machen will und welche Eigenschaft er an seinen japanischen Pendants am meisten schätzt.
Etwa die Hälfte der grössten Schweizer Unternehmen wird von Ausländerinnen und Ausländern geleitet. Dies ist zum Beispiel bei Nestlé, Novartis, Roche oder ABB der Fall. Umgekehrt haben japanische Grosskonzerne traditionell eine sehr geringe Präsenz von Nicht-Japanern in ihren oberen Rängen. Der Schweizer Brice Koch ist eine Ausnahme, welche die Regel bestätigt.
Der Mann mit einem Doktortitel der ETH Zürich führte von 2018 bis 2023 Hitachi Astemo (90’000 Mitarbeitende). Derzeit leitet er die Geschicke von Hitachi Europe (43’000 Mitarbeitende, 128 juristische Personen).
Ab April 2024 wird er zudem neue globale Verantwortlichkeiten (Head of Global Markets Strategies, Chief Strategy Officer und Chief Risk Management Officer) innerhalb der Hitachi-Gruppe (320’000 Mitarbeitende) übernehmen.
Trotz seines aussergewöhnlichen Werdegangs gibt Koch der Presse so gut wie nie grosse Interviews. Für die Leserinnen und Leser von SWI swissinfo.ch hat er einer Ausnahme zugestimmt.
Brice Koch wurde in Frankreich geboren, ist aber Schweizer Staatsbürger. Er studierte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich zunächst Maschinenbau und promovierte 1993 in Materialwissenschaften.
Danach wechselte er zu ABB, wo er 19 Jahre lang tätig war, unter anderem als Group Executive Vice President und Leiter der Systems Division. Anschliessend war er drei Jahre lang CEO von Oerlikon.
2017 trat Koch in die Hitachi-Gruppe ein, seit Juli 2023 ist er Präsident von Hitachi Europe (43’000 Mitarbeitende, 128 juristische Personen). Ab April 2024 wird er seine Verantwortlichkeiten erweitern.
SWI swissinfo.ch: Wie wurden Sie CEO von Hitachi Astemo und Präsident von Hitachi Europe?
Brice Koch: Nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im Jahr 2008 sah sich Hitachi mit existenziellen Herausforderungen konfrontiert. Der japanische Konzern kam zu dem Schluss, dass seine Rettung und Expansion nicht auf den japanischen Markt beschränkt bleiben konnte.
Im Rahmen meiner Tätigkeit bei ABB hatte ich Kontakt zu Hiroaki Nakanishi. Einige Jahre später, als er Präsident von Hitachi wurde, schlug er mir vor, mich ihm anzuschliessen, um später die Geschäftsführung von Hitachi Astemo zu übernehmen und auf diese Weise an der Internationalisierung seines Konzerns mitzuwirken.
Wie würden Sie Ihre derzeitigen und zukünftigen Aufgaben beschreiben?
Meine Aufgabe ist es, unser Geschäft ausserhalb Japans zu optimieren, nicht nur in Europa, sondern ab April 2024 auch in der Asien-Pazifik-Region, in China und auf dem amerikanischen Kontinent.
Um dies zu erreichen, setze ich auf ein Alleinstellungsmerkmal der Hitachi-Gruppe: Unsere Kompetenzen im Bereich der «Betriebstechnologien» (Züge, Transformatoren usw.) werden durch ein grosses Knowhow im Bereich der «Informationstechnologien» (einschliesslich Künstlicher Intelligenz) ergänzt. Diese Komplementarität ermöglicht es uns, unserer Kundschaft ganzheitliche Lösungen anzubieten.
Wie würden Sie Hitachi in Bezug auf die Unternehmenskultur mit Ihren vorherigen Arbeitgebern in der Schweiz vergleichen?
Ich mache kein Hehl daraus, dass ich die Unternehmenskultur in Japan sehr bewundere. In diesem Land sind der Wille, Gutes zu tun und einen positiven Beitrag zur Gesellschaft zu leisten, aussergewöhnlich stark ausgeprägt.
Darüber hinaus bin ich sehr beeindruckt von der Fähigkeit meiner japanischen Kolleg:innen, zuzuhören, andere zu respektieren und ihr Wissen zu erweitern. Andererseits glaube ich, dass diese meine Fähigkeit wertschätzen, schnelle Entscheidungen zu treffen und kalkulierte Risiken einzugehen.
Der Unfall auf dem Flughafen Haneda Anfang dieses JahresExterner Link ist ein gutes Beispiel für die japanische Kultur und Effizienz: Die schnelle Evakuierung von 367 Passagier:innen und 12 Besatzungsmitgliedern aus einem brennenden Flugzeug ist eine Leistung, die in keinem anderen Land der Welt möglich gewesen wäre.
Werden in einem Konzern wie Hitachi alle wichtigen Entscheidungen in Tokio getroffen?
Historisch gesehen war Hitachi, wie viele andere grosse japanische Unternehmen, in der Tat stark in Tokio zentralisiert. Dennoch hat sich diese Tendenz in den letzten Jahren deutlich abgeschwächt.
Diese internationale Öffnung und Globalisierung von Hitachi hat sich insbesondere in grossen internationalen Übernahmen niedergeschlagen, wie z.B. der Übernahme der Stromnetzsparte von ABB.
Dank dieser Übernahmen ist ein erheblicher Teil unserer Schlüsselaktivitäten (Geschäftsleitung, Forschungs- und Entwicklungszentren, Produktionsstätten usw.) ausserhalb Japans angesiedelt.
Auch in der Schweiz?
Natürlich haben wir das. Beispielsweise hat unsere Energieabteilung ihren Sitz in Zürich. Darüber hinaus haben wir in der Schweiz vier Produktionsstätten und ein Forschungszentrum, das auf die Energiestrategie fokussiert ist. Insgesamt beschäftigen wir in der Schweiz rund 3000 Personen.
Wie hoch ist der Anteil der nicht-japanischen Führungskräfte in der Hitachi-Gruppe?
Ab April 2024 werden 23% unserer Führungskräfte nicht-japanischer Herkunft sein. Ganz oben in der Hierarchie, direkt unter dem japanischen CEO, haben wir vier Executive Vice Presidents, von denen zwei nicht-japanisch sind. Schliesslich sind von den zwölf Mitgliedern unseres Verwaltungsrats fünf Ausländer:innen.
In welcher Sprache werden die Sitzungen der Geschäftsleitung und des Verwaltungsrats abgehalten?
Alle diese Treffen finden sowohl auf Japanisch als auch auf Englisch statt. Zum Glück, denn da das Erlernen der japanischen Sprache sehr schwierig ist, sind meine Kenntnisse trotz meiner Bemühungen immer noch rudimentär.
Grosse japanische Unternehmen sind für ihre Systeme der lebenslangen Beschäftigung und der Beförderung auf der Grundlage der Betriebszugehörigkeit bekannt. Ist dies auch bei Hitachi der Fall?
Im Hitachi-Konzern ist dies seit etwa drei Jahren nicht mehr wirklich der Fall, da wir ein leistungsorientiertes System zur Beurteilung von Führungskräften eingeführt haben.
Welche Aufstiegsmöglichkeiten gibt es für Frauen bei Hitachi?
In der Vergangenheit hatten Frauen, hauptsächlich Japanerinnen, meiner Meinung nach viel bessere Möglichkeiten in ausländischen Unternehmen, insbesondere ausserhalb des Inselstaats. Glücklicherweise ändert sich diese Situation in unserem Unternehmen schnell in die richtige Richtung.
Ab April 2024 wird die Personalchefin der Gruppe übrigens eine Frau sein. Wir glauben nicht an die Wirksamkeit von Geschlechterquoten allein.
Hitachi ist ein Gigant mit 320’000 Mitarbeitenden und 696 Tochtergesellschaften. Wie fördern Sie angesichts dieser Komplexität interne Synergien?
Unsere Gruppe hat drei Hauptgeschäftsbereiche: Grüne Energie & Mobilität, Konnektive Industrien sowie Digitale Systeme & Dienstleistungen. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, ist mein Ansatz, Synergien nicht nur innerhalb der einzelnen Geschäftsbereiche, sondern auch zwischen ihnen zu schaffen.
Beispielsweise erleichtern wir unserer Kundschaft den Übergang von einem Sektor zu anderen Sektoren. Darüber hinaus bieten wir neue Dienstleistungen und Lösungen an, indem wir die kombinierten Kompetenzen verschiedener Sektoren nutzen.
In Industriekreisen ist Hitachi für seine Innovationen bekannt. Wie entwickeln Sie neue Produkte?
Hitachi verfügt über eigene Forschungszentren, die auf verschiedenen Kontinenten angesiedelt sind. Darüber hinaus verbringen wir einen erheblichen Teil unserer Zeit mit unseren Kunden im Rahmen von «Co-Creation»-Meetings.
Schliesslich arbeiten wir mit mehreren Universitäten zusammen, unter anderem in Japan, Deutschland und Grossbritannien. Als Mitglied des Stiftungsrats der ETH Zürich bemühe ich mich, Brücken zwischen dieser Institution und Hitachi zu bauen.
Der japanische Markt ist für Schweizer Unternehmen interessant, wird aber als schwierig angesehen. Teilen Sie diese Ansicht?
Aufgrund meiner Erfahrungen bei ABB nehme ich den japanischen Markt als besonders anspruchsvoll wahr, aber auf eine positive Art und Weise. Die japanischen Kund:innen haben unvergleichliche Qualitäts- und Servicestandards, die mit atypischen Anforderungen einhergehen.
Für ausländische Unternehmen ist es entscheidend, auf all diese Besonderheiten einzugehen. Die grösste Herausforderung besteht darin, dass die Anpassung von Produkten für den japanischen Markt äusserst kostspielig sein kann, zumal dieser relativ klein ist.
Um ihre Internationalisierung zu forcieren, haben einige japanische Unternehmen ihren weltweiten Hauptsitz verlagert. So hat beispielsweise die Sunstar-GruppeExterner Link (ca. 4000 Mitarbeitende) ihren Sitz im Kanton Waadt. Wie steht es mit Hitachi?
Es handelt sich um ein wiederkehrendes Thema, doch bislang wurde noch keine Richtung beschlossen. Meiner Meinung nach darf man die Schwierigkeiten, einen Firmensitz zu verlegen, nicht ausser Acht lassen.
Ausserdem dürfen wir bei unseren Bemühungen um Internationalisierung nicht die Stärken unserer japanischen Wurzeln verlieren, denn Hitachi ist ein 110 Jahre altes Unternehmen.
Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen: Janine Gloor
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