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Die Schweiz ist Pionierin im Kampf gegen “unerklärliche” Lohnunterschiede

Koch Köchin
Um "gleichen Lohn für gleiche Arbeit" zwischen Männern und Frauen zu erreichen, ist es unerlässlich, die Ursachen der Ungleichheit zu analysieren. Keystone

Seit mehr als 40 Jahren ist die Gleichstellung von Frau und Mann in der schweizerischen Bundesverfassung verankert. Trotzdem gibt es auch heute noch Lohndifferenzen, die sich nicht erklären lassen. Die Instrumente, mit denen die Schweiz diese Unterschiede beseitigen will, erregen weltweit Aufmerksamkeit – vor allem dort, wo es grosse Lohnunterschiede gibt.

Eine internationale StudieExterner Link in 15 Ländern zeigt, dass ein Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen im gleichen Alter, mit gleicher Bildung und im selben Teilzeitstatus besteht.

Diese Differenz lässt sich nicht allein dadurch erklären, dass Frauen tendenziell in weniger gut bezahlten Berufen arbeiten. Auch beim gleichen Arbeitgeber und in derselben Funktion werden Frauen weniger gut bezahlt.

Dieser “unerklärliche” Teil der Differenz beträgt in vielen Ländern mehr als die Hälfte des Unterschiedes. In Japan zum Beispiel beläuft sich dieser Unterschied auf fast 35% ‒ ein Teil davon ist mit den erwähnten Faktoren erklärbar, rund 25% der Lohndifferenz aber nicht.

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Kein Wunder, sorgten die Ergebnisse einer internen Lohnanalyse der japanische Online-Handelsplattform Mercari in Japan für grosses Interesse. Beim Vergleich Beschäftigter auf gleicher Stufe, mit den gleichen Tätigkeiten zeigte sich ein Lohnunterschied von 7% zwischen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen.

Die im Jahr 2013 gegründete Firma ist eine Pionierin in Japan, kaum ein anderes Unternehmen hat vorher freiwillig eine solche Lohnanalyse durchgeführt und veröffentlicht.

Was die Öffentlichkeit besonders überraschte, war die Tatsache, dass Mercari den Ursachen dieses Lohngefälles nachging und sie auf 2,5% reduzieren konnte.

Was bedeutet “unerklärlich”?

Mercari analysierte die sogenannten “unerklärlichen” Lohnunterschiede. Wenn die Löhne der Arbeitnehmer:innen schlicht nach Geschlecht gemittelt werden, sind in den Zahlen auch Unterschiede enthalten, die durch die unterschiedlichen Anteile der Führungspositionen und der Arbeitsmodelle nach Geschlecht entstehen.

Diese Unterschiede sind zwar ebenfalls problematisch, da sie reflektieren, dass Frauen auf dem Arbeitsmarkt unterschiedliche Voraussetzungen zum Beispiel in Bezug auf Aufstiegschancen haben. Aber nach dem Prinzip “gleicher Lohn für gleiche Arbeit” können nur die Unterschiede, die nach Abzug solcher Faktoren verbleiben, als “unerklärlich” betrachtet werden.

Wenn es “unerklärliche” Lohnunterschiede gibt, muss das aber nicht zwingend bedeuten, dass der Arbeitgeber seine Arbeitsnehmerinnen diskriminiert.

Studien zeigen, dass es auch Unterschiede in Bezug auf die Risikobereitschaft in Lohnverhandlungen oder Unterschiede in der Kommunikation am Arbeitsplatz gibt, die zu verschiedenen Löhnen führen.

Die amerikanische Wissenschaftlerin Claudia Goldin, die 2023 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, erläutert, dass die Vorliebe für flexible Arbeitszeiten ebenfalls zu geschlechtsspezifischen Unterschieden führt.

Aus diesen Gründen würden Unterschiede von bis zu 5% im Allgemeinen als akzeptabel angesehen.

Wo die Schweiz steht

Laut dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) betrug das unbereinigte Lohngefälle zwischen Mann und Frau im Jahr 2020 in der Schweiz 18% und das “unerklärliche” Lohngefälle, bei dem Unterschiede nach Beruf, Branche, Ausbildung und Stellung bereinigt werden, 7,8%.

Der Lohnunterschied hat sich im letzten Jahrzehnt nicht deutlich verringert. Er soll jedoch bis 2030 verschwinden, wenn es nach der nationalen GleichstellungsstrategieExterner Link geht.

Grafik zeigt gesamte und unerklärliche Lohndifferenz in der Schweiz.
SWI swissinfo.ch

Die Schweiz ist in Bezug auf die Gleichstellung keine Vorreiterin: Das Frauenstimm- und -wahlrecht wurde erst im Jahr 1972 eingeführt und die Gleichstellung von Frau und Mann steht sogar erst seit 1981 in der Bundesverfassung.

Doch im Feld von Lohnanalysen, wie Mercari eine durchgeführt hat, ist sie ein führendes Land: Bereits 2006 gab die Schweiz das kostenlose Analysetool LogibExterner Link frei.

Seitdem müssen sich Unternehmen, die dem Gesetz über das öffentliche Beschaffungswesen unterstellt sind, einer Lohnanalyse unterziehen. Unternehmen mit einer unerklärlichen Lohndifferenz von 5% oder mehr sind dabei vom öffentlichen Beschaffungswesen ausgeschlossen.

Die Massnahme zeigt Erfolg: Laut einer StudieExterner Link der Schweizer Ökonomin Giannina Vaccaro hat sich die unerklärte Kluft in Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten in der Schweiz seit 2006, als die Lohnanalyse für Beschaffungswesen verpflichtend wurde, um 3,5 Prozentpunkte verringert.

Lohnanalysen teilweise obligatorisch

Durch eine Revision des Gleichstellungsgesetzes (GIG) im Jahr 2020 wurden Lohnanalysen für alle Unternehmen mit mehr als 100 Mitarbeiter:innen in der Schweiz verpflichtend.

2021 wurde ein Modul von Logib veröffentlicht, das auch von kleineren und mittelgrossen Unternehmen mit 2 bis 50 Beschäftigten genutzt werden kann.

Private Unternehmen hatten teilweise bereits früher Initiativen gestartet, um die Lohnunterschiede zu reduzieren. Eines davon war der Pharmakonzern Novartis, der 2003 erstmals eine Lohnanalyse durchführte und entdeckte, dass 900 Mitarbeiterinnen weniger verdienten als ihre männlichen Kollegen. Die Gesamtdifferenz belief sich auf 3 Mio. CHF.

Nestlé führt seit 2015 Lohnanalysen durch. Früher hat sie dies mit Logib oder externen Analyse getan, heute verwendet sie ein eigenes internes Analyseinstrument, das sich als sehr effizient erwiesen habe.

Gemäss Sonia Studer, Chefin von Human Resources Nestlé Schweiz, “sendet die Durchführung der Lohnanalyse während des Einstellungsverfahrens eine starke Botschaft an potenzielle Bewerberinnen und Bewerber, die ein integratives und faires Arbeitsumfeld schätzen.”

Die Versicherungsgesellschaft Mobiliar macht seit rund 15 Jahren Lohnanalysen. Zu Beginn hatten diese unerklärliche Lohnunterschiede von 5 bis 6% aufgedeckt. Die Mobiliar stellte fest, dass Frauen und Männer zwar zu ungefähr gleichen Löhnen eingestellt wurden, die Frauen aber über die Jahre eine langsamere Gehaltsentwicklung aufwiesen als die Männer.

Dank strukturellen Massnahmen liegt der Unterschied nun unter 2,5%. “Damit gelingt es uns trotz eines schwierigen Marktumfeldes nach wie vor, für unsere bestehenden und potenziellen Mitarbeitenden attraktiv zu sein”, sagt Personalchefin Barbara Agoba.

Frauenstreik
Der 14. Juni ist der Tag des feministischen Streiks in der Schweiz. Auch 2024 haben viele Frauen Gleichstellung gefordert, wie hier in Zürich. Keystone/Christian Merz

Schweizer Tools international im Einsatz

Die Schweizer Erfolge strahlen ins Ausland aus. Sina Liechti, Mediensprecherin des EBG, bestätigt gegenüber SWI swissinfo.ch: “Die Schweiz hat weltweit eine Pionierrolle übernommen. Es gibt bis heute keine vergleichbaren Tools, die allen Arbeitgebenden kostenlos zur Verfügung stehen.”

Deutschland und Luxemburg haben Logib übernommen und an ihren jeweiligen Kontext angepasst.

Im Mai 2023 hat auch die Europäische Union eine RichtlinieExterner Link verabschiedet, die Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten verpflichtet, regelmässig Lohnanalysen durchzuführen und zu veröffentlichen. “Da Logib die Anforderungen dieser Richtlinie grösstenteils erfüllt, haben bereits mehrere europäische Länder Interesse daran bekundet”, erklärt Liechti.

Der Nutzen von Lohnanalysen ist international anerkannt. So sagte etwa Aiko Cho, die die Lohnanalyse bei Mercari leitete, gegenüber NHKExterner Link: “Das Bewertungs- und Entlöhnungssystem bei uns hat sich über die Jahre stark verbessert. Wir waren stolz darauf, wie fair das System ist, und hätten es ehrlich gesagt für unmöglich gehalten, dass es ein so grosses Lohngefälle gibt.”

Kritik am Logib-Tool

In der Schweiz gibt es allerdings auch immer wieder Kritik am Logib-Tool. Insbesondere die Tatsache, dass zwar die auf das Eintrittsjahr basierten Dienstjahre in die Berechnung einfliessen, nicht aber die Berufserfahrung, ist ein grosser Kritikpunkt.

Avenir SuisseExterner Link fragt: “Logib taxiert die Anstellung von Frauen mit längeren Erwerbsunterbrüchen als Lohndiskriminierung. Also besser keine Frauen nach einer Mutterschaftspause einstellen, oder gleich gar keine Frauen mehr?”

Das Argument zeigt, dass die Statistik ihre Grenzen hat. Conny Wunsch, Professorin für Arbeitsökonomie an der Universität Basel, brachte es gegenüber der Neue Zürcher ZeitungExterner Link auf den Punkt: “Es ist faktisch nicht möglich, in der Vergleichsstatistik sämtliche lohnbestimmenden Merkmale zu berücksichtigen. Deshalb ist die Kommunikation wichtig: Die Öffentlichkeit sollte besser verstehen, dass die ‘nicht erklärbare’ Lohndifferenz nicht mit einer Diskriminierung der Frauen gleichzusetzen ist.”

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Editiert von Reto Gysi von Wartburg

  • Diese Artikel wurde am 8. 7. 2024 korrigiert. Der Text zitierte eine Studie von Hiromi Hara von der Meiji Universität in Japan, die entsprechende Passage wurde auf ihren Wunsch gelöscht.
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