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«Dieses Recht sollten alle haben»

Donato Gemma (links) und Mario Renna erinnern sich an den Arbeitskampf, um die vorzeitige Rente durchzusetzen. swissinfo.ch

Die Frage der Frühpensionierung erhitzt momentan die Gemüter. Am 30. November wird über die Volksinitiative für ein flexibles AHV-Alter abgestimmt. Im Bausektor ist die Frührente bereits seit fünf Jahren umgesetzt. Ein Treffen mit zwei Bauarbeitern.

Die Geschichte unserer Gesprächspartner repräsentiert die Erfahrung von Tausenden von Arbeitern. Mario Renna kommt 1961, im Alter von 21 Jahren nach Bern. Er stammt aus Sizilien, wo er mit 12 Jahren als Maurer zu arbeiten begann.

Renna erreicht die Schweiz in den Jahren des Wirtschaftsbooms. Er findet eine Anstellung in einem Baubetrieb. Und in Bern heiratet er eine Deutsche; wird Vater einer Tochter.

Die Erinnerungen an Licodia Eubea, sein Heimatdorf bei Catania, trägt er im Herzen, doch sein Lebensmittelpunkt hat sich längst in die Schweiz verlagert.

Die Arbeit spielt in diesem Leben die Hauptrolle. «Ich verliess das Haus morgens um 6 Uhr und kam nicht vor 18 Uhr abends zurück», erzählt er.

Renna berichtet auch von den extremen körperlichen Anstrengungen, dem Schuften bei jeglichem Wetter. «Wenn es regnet, spürst du das Wasser, das dir vom Nacken den ganzen Körper runter läuft.»

Nach der Pflicht die Erholung

Doch am 1. August 2003 nahm das mühsame Leben eine glückliche Wende. An diesem Tag konnte Mario Renna in Frühpension gehen – dank der neuen Bestimmungen im Gesamtarbeitsvertrag des Baugewerbes.

Er gehörte zu den ersten Bauarbeitern, die in den Genuss dieser Regelung kommen.

Renna fühlte sich wie neugeboren. Mit 63 Jahren fing er an, einen Schrebergarten zu bewirtschaften. Gemüse, Beeren, Trauben, Kräuter und Blumen. Mit berechtigtem Stolz zeigt er seinen gepflegten Garten.

Renna liebt die Natur. Und seit er pensioniert ist, hat er Zeit und Energie für ausgedehnte Spaziergänge; und er hat Zeit, die Jahreszeiten zu erleben. «Ich beobachte Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, denn sie sind jeden Tag anders», erzählt er.

Auch der Lektüre widmet er sich jetzt. «Als ich berufstätig war, war ich abends so müde, dass ich sofort einschlief, wenn ich ein Buch in die Hand nahm.» Jetzt verschlingt er die Bücher förmlich.

In den letzten fünf Jahren hat er zudem begonnen, die Schweiz zu bereisen. «Nach 42 Jahren konnte ich erstmals viele Sehenswürdigkeiten in diesem Land besuchen.»

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GAV

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) gilt für ein Unternehmen oder einen gesamten Wirtschafts-Sektor und wird zwischen Gewerkschaften und dem Arbeitgeber oder dessen Verband verhandelt. Ein GAV enthält Bestimmungen betreffend Unterzeichung, Vertragsbedingungen und Auflösung eines einzelnen Arbeitsvertrags, Klauseln über die Rechte und Pflichten der Vertragspartner und Auflagen betreffend Überwachung und Umsetzung des Vertrags. In gewissen Berufsgattungen, in denen…

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Vorbereitung auf ein neues Leben

Wir gehen mit Mario zu einer nahe gelegenen Baustelle. Es ist gerade Mittagspause. Wir unterhalten uns mit Donato Gemma, einem Italiener aus Apulien, der 1966 im Alter von 17 Jahren in die Schweiz kam. Auch er wird im kommenden Februar die Möglichkeit nutzen, frühzeitig in Rente zu gehen.

Donato Gemma wartet sehnlichst auf diesen Moment. Er wird in seinen Heimatort in der Provinz Lecce zurückkehren, wo er gerade ein Haus baut. Er möchte sich dann der Gartenarbeit widmen.

Auch seine Ehefrau – eine Schweizerin – freut sich darauf, ein neues Leben in Süditalien zu beginnen. «Ab nächstem Jahr werden wir zum Urlaub in die Schweiz fahren», scherzt sie.

Ihre Kinder aus erster Ehe werden sie besuchen, «weil sie Apulien sehr gerne haben», sagt sie. Im übrigen leben Donatos zwei Töchter aus erster Ehe bereits in Süditalien.

Donato Gemma möchte auch einige Reisen unternehmen. «Ich will Italien – beispielsweise Neapel – kennenlernen. Ich möchte aber auch nach Spanien und vielleicht nach Brasilien. Ein Cousin hat mich eingeladen.»

Gesundheit als höchstes Gut

Während sich der grosse Tag der Frühpensionierung nähert, wünscht sich Gemma, dass vor allem die Gesundheit mitspielt. Denn diese ist von zentraler Bedeutung.

Schon im Kampf der Gewerkschaften für die Vorruhestandsregelung war das Argument der Gesundheit entscheidend. Studien zeigten auf, dass nur 57% der Bauarbeiter gesund das 65. Lebensjahr erreichten.

Bei den Ingenieuren und Technikern waren es dagegen 85%. Mit 60 Jahren waren hingegen noch 73% der Bauarbeiter gesund.

«Es ist kaum zu glauben, wie die Pensionierung die Gesundheit fördert. Meine körperlichen Beschwerden sind alle verschwunden. Und mein Arzt sagte mir nach der letzten Kontrolle, mein Gesundheitszustand sei besser als vor fünf Jahren», betont Mario Renna.

«Wir mussten kämpfen: Wir sind auf die Strasse gegangen und haben für die Frührente gestreikt, aber es hat sich gelohnt», meint Renna. Sein Kollege Gemma stimmt zu, erinnert sich aber auch an die vielen Spannungen, die mit dem Arbeitskampf verbunden waren.

Frühpensionierung: «Ein Fortschritt»

«Es ist ein Fortschritt. Dieses Recht auf Frühpensionierung sollten alle Arbeitnehmer haben»; mein Mario Renna. Gerade in Fabriken oder in der Verkaufsbranche litten viele Angestellte unter schlechten Arbeitsbedingungen. «Sie sollten früher aufhören können.»

Seiner Meinung nach können so auch Krankheiten und Berufsunfälle vermieden werden. Und davon wiederum profitierten Institutionen wie die Invaliden-, Kranken- und Unfallversicherungen.

Jeder sollte nach eigenen Bedürfnissen entscheiden können. «Es ist auch richtig, dass Personen, die nicht in Verschleissjobs arbeiten, sich dazu entschliessen können, länger berufstätig zu sein», meint der Rentner.

Unsere Gesprächspartner unterstützen daher die Volksinitiative «für ein flexibles AHV-Alter», die auch Personen mit einem geringen Einkommen ermöglichen soll, ab 62 Jahren ganz oder teilweise in Rente zu gehen.

Am 30.November wird sich zeigen, ob die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer so denkt, wie diese beiden Bauarbeiter.

swissinfo, Sonia Fenazzi
(Übertragen aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Das Schweizer System der Altersvorsorge basiert auf drei Säulen. Die erste ist die staatliche Vorsorge: Jede in der Schweiz wohnhafte Person muss Beiträge in die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) einzahlen, eine Grundversicherung, die den Existenzbedarf garantiert für Rentnerinnen und Rentner ab 65 Jahren.

Die zweite Säule ist die berufliche Vorsorge: Sie ist eine obligatorische, private Versicherung, an die Arbeitnehmende und Arbeitgeber zu gleichen Teilen Beiträge zahlen, die später in Form einer Rente oder von Kapital zurückbezahlt werden.

Die dritte Säule ist die private Vorsorge. Sie ist freiwillig und kann bis zu einem gewissen Betrag von den Steuern abgezogen werden. Zweite und dritte Säule sollen dazu beitragen, den Lebensstandard nach der Pensionierung beibehalten zu können.

Männer haben ab 65 Jahren Anspruch auf eine vollständige Rente aus AHV und Pensionskasse, Frauen ab 64 Jahren.

Am 1.Juli 2003 trat im Baugewerbe die neue Regelung für das flexible Rentenalter in Kraft.

Finanziell getragen wird diese Regelung von einem paritätischen Fonds (Gewerkschaften und Arbeitgeber), der von der Stiftung Flexibler Altersrücktritt (FAR) getragen wird.

Der Fonds wird von Geldern der Arbeitnehmenden und Arbeitgeber gespeist. Die Arbeiter geben 1,3% ihres Lohns in den Fonds, die Arbeitgeber steuern 4 Lohnprozente pro Angestellten bei.

Arbeitnehmer des Baugewerbes können so ab 60 mit einer Überbrückungsrente in Pension gehen. Die Löhne werden bis zum 65. Altersjahr aus dem Fonds bestritten. Danach erhalten die Arbeitnehmer ihre normalen AHV-Renten und Bezüge aus der Pensionskasse.

Seit 1.Juli 2003 haben rund 5853 Personen Frührente bezogen. Die mittlere Überbrückungsrente beträgt 4400 Franken im Monat.

Die Stiftung FAR ist finanziell solide: Sie hat 1,1 Milliarden Franken eingenommen und zirka 500 Millionen Franken ausbezahlt. Mitte 2008 schrieb sie einen positiven Saldo von 600 Millionen Franken.

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