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Wie ein Japaner zum Doktor für historische Schweizer Uhren wurde

Masaki Kanazawa
Masaki Kanazawa in seinem Atelier. Keystone / Valentin Flauraud

Es gibt kaum eine schweizerischere Branche als die Uhrenindustrie, aber nicht nur Schweizer:innen fassen darin Fuss. So verfolgt auch der Japaner Masaki Kanazawa eine bemerkenswerte Karriere im Westschweizer Watch Valley.

Ein Dokumentarfilm über die Schweizer Uhrmacherei faszinierte den damals 17-jährigen Masaki Kanazawa so sehr, dass er umgehend beschloss, selbst Uhrmacher zu werden. Heute, 26 Jahre später, ist er Restaurator am Musée international d’horlogerie (MIH) in La Chaux-de-Fonds, der für ihre Uhrenindustrie von der Unesco als Welterbe anerkannten Kleinstadt nahe der schweizerisch-französischen Grenze.

«Ich bin beileibe nicht der begabteste Mensch», sagt Kanazawa beim Treffen mit SWI swissinfo.ch. «Aber ich glaube, ich bin die richtige Person für den Job des Museumsrestaurators. Als Mitglied des Museumsteams verstehe ich die Vision dieses Museums sehr gut, und ich setze mich dafür ein, die Uhren und die heute nicht mehr existierenden Techniken der Vergangenheit zu enträtseln und sie für künftige Generationen zu bewahren.»

Blick ins Internationale Uhrenmuseum La Chaux-de-Fonds.
Blick ins Internationale Uhrenmuseum La Chaux-de-Fonds. Musee-Mih

Die Sammlung des MIH umfasst zahlreiche seltene und begehrte Uhren. Dazu gehören alte Wasseruhren, Taschenuhren aus dem 16. Jahrhundert, grossen Wanduhren und mechanischen Uhren. Die Uhren unterscheiden sich stark in Grösse, Typ und Herstellungsdatum.

Arbeit an historischen Uhren

Ihre Restaurierung ist aufwendig: In den letzten 11 Jahren konnte Kanazawa nicht einmal 100 Uhren restaurieren. Aber er ist stolz darauf, dass Uhren mit einer reichen Geschichte auf seinem Tisch gelandet sind.

Eine der für ihn denkwürdigsten ist eine komplexe Taschenuhr von Ami Lecoultre, an der er kurz nach seinem Amtsantritt als Museumsrestaurator gearbeitet hat: Sie wurde 1878 auf der Pariser Weltausstellung ausgestellt – trotz ihrer Komplexität und Seltenheit vertraute der damalige Museumsdirektor sie ihm zur Restaurierung an.

Sein Handwerk lernte der Uhrenrestaurator in der Schweiz. Nachdem er in Japan das Abitur absolviert hatte, zog er 1999 nach Frankreich, um Französisch zu lernen. Danach schrieb er sich an der Uhrmacherschule Le Locle ein, wo er 2004 als Uhrmacher mit Schwerpunkt Restauration abschloss.

Er bildete sich weiter fort und erwarb er den Titel eines Technikers in Restauration und Uhrenveredelung. Es folgten praktische Erfahrungen bei den unabhängigen Uhrmachern Vincent Berard und Kari Voutilainen, worauf er 2013 zum Uhrenrestaurator am MIH ernannt wurde.

«Uhren so belassen, wie sie sind»

Ein wichtiger Leitfaden ist für Kanazawa das Motto «restaurieren, aber nicht verbessern». Der Schwerpunkt der Arbeit liege auf der Wiederherstellung der ursprünglichen Funktion, so dass die Uhr ohne Probleme an die nächste Generation weitergegeben werden kann, erklärt er.

«Es wäre seltsam, wenn eine Uhr aus dem 17. oder 18. Jahrhundert so funktionieren würde wie eine moderne Uhr. Wenn die Uhr in einem miserablen Zustand ist, muss sie so konserviert werden, dass sich ihre Verfassung nicht weiter verschlechtert.»

Masaki Kanazawa an seinem Arbeitsplatz als Uhrenrestaurator im Uhrenmuseum von La Chaux-de-Fonds.
Masaki Kanazawa an seinem Arbeitsplatz als Uhrenrestaurator im Uhrenmuseum von La Chaux-de-Fonds. Musee-Mih

Das war für ihn manchmal frustrierend. «Eine schlecht gemachte Uhr wird auch nach 200 Jahren noch schlecht gemacht sein. Ich habe mich immer etwas geärgert, wenn ich solche Uhren gesehen habe. Ich dachte, ich hätte sie besser machen können, wenn ich moderne Technik verwendet hätte», sagt er.

Im Regelfall setze er eine Uhr nicht in den Zustand zurück, in dem sie gewesen ist, als sie am schönsten war, sagt er. «Es wäre ja auch seltsam, wenn eine 90-jährige Grossmutter nach einer Behandlung im Krankenhaus 40 Jahre jünger aussehen würde», vergleicht er. So sieht er sich eher als «Uhren-Arzt» denn als Schönheitschirurg.

Dabei gibt es Grauzonen. Zum Beispiel kann eine Uhr, die von einem Soldaten im Krieg getragen wurde, nicht in einem schmutzigen, rostigen Zustand belassen werden. Aber man kann sie auch nicht wie neu aussehen lassen. «Jeder Kratzer hat seine eigene Geschichte. Hier kommt das Können des Restaurators ins Spiel.»

Berufsgeheimnisse wanderten mit ins Grab

Für die Restaurationsarbeit ist es zudem herausfordernd, dass die Uhrenindustrie traditionell sehr verschwiegen war. Es gibt einige Techniken, welche die Uhrmacher mit ins Grab genommen haben, statt sie an die nächste Generation weiterzugegeben. «Wenn es keine Informationen für die Restaurierung gibt, bleibt nur die Möglichkeit, die Uhr genau zu betrachten und zu versuchen, sie zu enträtseln», erläutert Kanazawa.

Wenn es sich um seltene, aber nicht einzigartige Uhren handelt, kontaktiert er manchmal andere Ateliers, die ähnliche Uhren restauriert haben. Das erweitert nicht nur sein Wissen, sondern ermöglicht ihm auch eine systematische Betrachtung der Dinge, sagt der Restaurator.

«Vor allem, wenn es um dekorative Aspekte geht, kann man das Original nicht immer nur anhand des Modells erkennen», sagt er. «Indem wir Informationen über ähnliche Stücke sammeln, können wir Restaurierungsarbeiten durchführen, die nicht nur der Funktion, sondern auch dem Stil des Herstellers entsprechen.»

Ami Lecoultre's äusserst komplizierte Taschenuhr “La Merveilleuse”
Ami Lecoultre’s äusserst komplizierte Taschenuhr “La Merveilleuse”. Musee-Mih

Ursprünglich wollte Kanazawa nach ein paar Jahren in der Schweiz zurück nach Japan, um sein eigenes Geschäft zu eröffnen. Daraus sind nun mehr als zwei Jahrzehnte geworden, und eine baldige Rückkehr nach Japan ist nicht abzusehen.

Unesco-Welterbe La Chaux-de-Fonds

In La Chaux-de-Fonds, im Nordwesten der Schweiz, sind viele Gebäude vier oder fünf Stockwerke hoch und nach Süden ausgerichtet. Das liegt daran, dass die Gebäude so mehr Sonnenlicht erhalten, um die Arbeitsbedingungen für die Uhrmacher:innen zu verbessern, die viel Detailarbeit leisten müssen.

Nach der völligen Zerstörung durch einen Grossbrand im Jahr 1794 wurde La Chaux-de-Fonds um die seit dem 17. Jahrhundert bestehende Uhrenindustrie herum wieder aufgebaut. 2009 wurde La Chaux-de-Fonds zusammen mit der Nachbarstadt Le Locle als «geplante Uhrenstadt» in die Liste des Welterbes aufgenommen.

Editiert von Reto Gysi von Wartburg

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