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Kein Land baut mehr Bunker als die Schweiz

Dieses Bild ist Schweizern vertraut: Eingang zu einem Luftschutzkeller (Luftschutzkeller des Notspitals Lachen, 1966) RDB

Im Notfall können Schutzräume die gesamte Schweizer Bevölkerung aufnehmen. Dies ist weltweit ein einmaliger Fall.

«Weshalb habt ihr diese schwere Tür im Keller?» Diese Frage stellen ausländische Besucher häufig, wenn sie in der Schweiz bei Freunden zu Gast sind.

Denn es ist für sie nicht nachvollziehbar, dass Wein, Kartoffeln und alte Bücher hinter einer gepanzerten Tür gelagert werden.

De facto handelt es sich um den Eingang zu Schutzräumen, die praktisch in allen Schweizer Häusern anzutreffen sind. Sie könnten die Einwohner im schlimmsten Fall gar vor einem Atomangriff schützen.

Neben der dicken Stahlbetontür gehören ein Ventilationssystem und eine Gasfilteranlage zu den elementaren Bestandteilen.

Ein wichtiger Grund für die Allgegenwärtigkeit der Schutzräume ist sicherlich die Schweizer Mentalität. Man sucht Schutz vor allem und will sich gegen alle Gefahren versichern.

Ein Familienhaushalt gibt 20 Prozent des Budgets für Versicherungen aus. Doch im speziellen Fall der Luftschutzräume gibt es auch ein Gesetz, das deren Einbau vorschreibt.

Platz für die ganze Nation

So heisst es in den Artikeln 45 und 46 des Bevölkerungs- und Zivilschutzgesetzes: «Für jeden Einwohner und jede Einwohnerin ist in zeitgerecht erreichbarer Nähe des Wohnortes ein Schutzplatz bereitzustellen» und «Die Hauseigentümer und -eigentümerinnen haben beim Bau von Wohnhäusern, Heimen und Spitälern Schutzräume zu erstellen, auszurüsten und diese zu unterhalten.»

Dies ist der Grund, warum in den meisten Häusern, die ab den 1960er-Jahren gebaut wurden, solche Schutzräume vorhanden sind. Die erste Vorschrift trat am 4.Oktober 1963 in Kraft.

Im Jahr 2006 gab es in der Schweiz zirka 300’000 Personenschutzräume in Privathäusern, Instituten und Spitälern sowie 5100 öffentliche Schutzanlagen. Insgesamt hatten somit 8,6 Millionen Personen Zugang zu einem Schutzraum. Der Deckungsgrad in Bezug auf die Gesamtbevölkerung betrug zu diesem Zeitpunkt 114 Prozent.

Weltmeister bei den Bunkern


Wäre der Bau von Schutzräumen eine olympische Disziplin, könnte die Schweiz mit Sicherheit einige Medaillen abräumen. Kein anderes Land kann den Schweizern in dieser Hinsicht das Wasser reichen.

Einzig Schweden und Finnland weisen im internationalen Vergleich recht hohe Werte auf. Mit 7,2 Millionen beziehungsweise 3,4 Millionen Schutzplätzen erreichen sie einen Deckungsgrad von 81 beziehungsweise 70 Prozent. Damit liegen sie aber nach wie vor weit unter der Schweizer Vorgabe.

Äusserst unterschiedlich präsentiert sich die Situation in anderen europäischen Ländern. So besteht in Österreich ein Schutzraum für 30 Prozent der Bevölkerung, aber diese haben keine Lüftung. In Deutschland liegt der Deckungsgrad sogar nur bei 3 Prozent.

Unter den aussereuropäischen Ländern sind Schutzräume vor allem in China, Südkorea, Singapur und Indien verbreitet. Doch der Deckungsgrad übertrifft nie 50 Prozent. In Israel können sich hingegen zwei Drittel der Bevölkerung in Schutzräume flüchten. Allerdings sind diese meistens nicht zu 100 Prozent gegen aussen abgeschirmt.

Das goldene Zeitalter

Der systematische Einbau von Schutzräumen begann, wie erwähnt, in den 1960er Jahren. Es war eine Zeit, in der man Angst vor Nuklearangriffen und einer sowjetischen Invasion hatte. «Die Neutralität schützt uns nicht vor Radioaktivität», hiess es damals.

Der Bauboom erreichte in den 1970er-Jahren seinen Höhepunkt. Jedes Jahr wurden zwischen 300’000 und 400’000 Schutzräume neu erstellt. Heute sind es gerade noch 50’000 im Jahr.

Über Jahre hatte die Schweiz sogar den Primat inne, über die grösste Zivilschutzanlage der Welt zu verfügen. In Luzern wurde der Sonnenbergtunnel der Autobahn A2 so ausgerüstet, dass er im Krisenfall als Luftschutzbunker für bis zu 20’000 Menschen gedient hätte.

In den sieben Stockwerken über dem 1976 eingeweihten Tunnel gab es sogar ein Spital, ein Operationssaal und ein Radiostudio. Doch die 2006 wieder abgebaute Infrastruktur wies zahlreiche Schwächen auf.

Die 1,5 Meter dicken Türen mit einem Gewicht von 350’000 Kilo konnte man beispielsweise nur schwer öffnen und schliessen. Auch die logistischen und psychologischen Probleme, die ein Zusammenleben von Tausenden von Menschen im Katastrophenfall bedeutet hätten, waren nicht berücksichtigt worden.

«In der Schweiz ändert sich nichts»

Mit dem Ende des Kalten Kriegs und der Neuausrichtung der Sicherheitspolitik in den1990er-Jahren wurde in vielen Ländern die Politik des Zivil- und Bevölkerungsschutzes überdacht. In Norwegen entschied man 1998, auf den obligatorischen Einbau von Schutzräumen zu verzichten.

Anders die Schweiz. Zwar verlangte Nationalrat Pierre Kohler 2005 in einer parlamentarischen Initiative, auf die Pflicht für den Einbau von Schutzräumen zu verzichten. Gemäss dem Jurassier Parlamentarier handelt es sich um «Reliquien aus anderen Zeiten», welche die Baukosten zu stark belasten.

Doch die Schweizer Regierung wies den Vorstoss zurück. Sie kam zur Auffassung, dass die Schutzräume nach wie vor nützlich seien, nicht nur im Kriegsfall, sondern auch im Falle möglicher terroristischer Angriffe mit Nuklearwaffen, bei chemischen Unfällen oder Naturkatastrophen. Will heissen: Die Zukunft der Schweizer Luftschutzräume ist vorerst gesichert.

Daniele Mariani, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Der Bau eines Schutzraumes in einem Einfamilienhaus kostet zirka 10’000 Franken.
Wer ein Haus baut, kann sich der Pflicht für einen Schutzraum entziehen.

In diesem Fall müssen 1500 Franken für jeden Schutzplatz als Ersatzbeitrag an die Wohngemeinde bezahlt werden (zwei Schutzplätze für je drei Zimmer eines Hauses).

Seit Inkrafttreten dieser Regelung im Jahr 1979 bis zum Jahr 2006 haben die Gemeinden zirka 1,3 Milliarden Franken eingenommen . 750 Millionen Franken wurden zum Bau öffentlicher Schutzeinrichtungen oder anderer Anlagen des Zivilschutzes ausgegeben.

550 Millionen Franken stehen nach wie vor zur Verfügung. Die Regierung möchte die obligatorischen Ersatzbeiträge der Privaten halbieren.

Die Schutzräume von Privaten dürfen auch für andere Zwecke – etwa als Keller- und Lagerräume – verwendet werden. Der Eigentümer muss jedoch den ordnungsgemässen Unterhalt garantieren.

Einige öffentliche Zivilschutzanlagen wurden in den letzten Jahren auch benutzt, um vorübergehend Asylbewerber unterzubringen.

Im Jahr 2006 gab es in der Schweiz zirka 300’000 Personenschutzräume in Privathäusern, Instituten und Spitälern mit einem Total von 7,5 Millionen Schutzplätzen sowie 5100 öffentliche Schutzanlagen (1,1 Millionen Plätze).

Für Bau, Erhalt oder Abbau von Schutzräumen wurden 2006 rund 167,4 Millionen Franken ausgegeben, davon brachten Private 128,2 Millionen auf, die Gemeinden 23,5, der Bund 9,8 und die Kantone 4,2 Millionen.

Der Gesamtwert der Schutzanlagen wird heute auf 11,8 Milliarden Franken geschätzt.

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