Lohnrunde: Schweizer Gewerkschaften und Unternehmen driften weit auseinander
Die Schweizer Gewerkschaften fordern Lohnerhöhungen von bis zu 5%, um die seit Jahren steigenden Preise für Konsum, Energie und Gesundheit zu kompensieren. Sind diese Forderungen im Hochpreisland Schweiz gerechtfertigt, wo die Löhne der Arbeitnehmenden bereits den Neid der Welt auf sich ziehen?
Bei den Lohnverhandlungen mit den Gewerkschaften wird es wohl zu Friktionen kommen: Die Arbeitgeber:innen lehnen die geforderte Lohnerhöhung bereits ab.
SWI swissinfo.ch wirft einen Blick auf die gegensätzlichen Argumente und das mögliche Ergebnis für Arbeitnehmende und Unternehmen.
Die Forderungen
Die Gewerkschaft Travail Suisse fordert für das kommende Jahr eine Lohnerhöhung von 2,5% bis 4%. Damit soll die Teuerung ausgeglichen werden, die seit 2021 sämtliche Lohnerhöhungen aufgefressen hat.
Die Löhne in der Schweiz sind 2023 um durchschnittlich 1,7% gestiegen. Doch der Anstieg der Lebenshaltungskosten um 2,1% hat zu einem Reallohnverlust von 0,4% geführt.
Der Kaufmännische Verband Schweiz rechtfertigt mit dem gleichen Argument Lohnerhöhungen von bis zu 5%. Der Verband der Angestellten Schweiz plädiert für eine bescheidenere Erhöhung von 2,2%.
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Die Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften des Gastgewerbes und den Arbeitgebenden sind im Juli gescheitert und werden nun vor einem Schiedsgericht verhandelt.
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund will, dass alle, die eine Ausbildung abgeschlossen haben, mindestens 5000 Franken im Monat verdienen.
Die Begründung
Alle Gewerkschaften berufen sich auf die Auswirkungen der hohen Inflation, um ihre Lohnforderungen zu rechtfertigen.
Travail Suisse spricht von einer «historisch schwachen Lohnentwicklung» in den letzten Jahren, die auf die Inflation zurückzuführen sei. «Während die Wirtschaft seit 2021 real um über 7% gewachsen ist, sind die Reallöhne um über 3% gesunken», sagt Thomas Bauer, Leiter Wirtschaftspolitik.
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Die Gewerkschaft wirft den Unternehmen ausserdem vor, die Gewinne aus dem Produktivitätswachstum für sich zu behalten, während die Arbeitnehmenden immer grössere Schwierigkeiten haben, ihre Lebenshaltungskosten zu decken.
Die Konsumpreise sind in der Schweiz weniger stark gestiegen als im Rest der Welt. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds lag die Inflation in der Schweiz im Jahr 2022 bei 2,8%, während sie weltweit mit 8,7% ihren Höchststand erreichte.
Die Menschen in der Schweiz leiden aber auch unter den wachsenden Gesundheitskosten, die in den letzten zehn Jahren um 31% gestiegen sind, während die Löhne nur um 6% zulegten.
Und man ärgert sich über die wachsende Kluft zwischen den Superreichen in der Schweiz und den Geringverdienenden.
Der Gewerkschaftsbund warnt davor, dass die Inflation Geringverdienende härter trifft, weil Grundkosten wie Heizung und Strom einen grösseren Teil ihres Budgets ausmachen als bei Wohlhabenden.
«Gering- und Durchschnittsverdienende haben heute nach Inflation weniger zum Leben als noch vor einigen Jahren. Umgekehrt hat sich die Situation für Spitzenverdienende deutlich verbessert. Sie haben auch nach Abzug der Teuerung bis zu 3000 Franken mehr im Monat zur Verfügung», sagte Daniel Lampart, Chefökonom des Gewerkschaftsbundes, im April gegenüber dem Schweizer Fernsehen SRF.
Die Gegenargumente
Industrieverbände haben die Lohnforderungen der Gewerkschaften kritisiert. Swissmem, der Verband der Elektro-, Maschinen- und Metallindustrie, bezeichnete sie als «gefährlich und unrealistisch».
Auch das Argument der Gewerkschaften, die Unternehmen würden auf Kosten der Arbeitnehmenden von der besseren Wirtschaftslage profitieren, weist der Verband zurück.
In den ersten drei Monaten dieses Jahres gingen die Exporte der 1250 Swissmem-Firmen im Vergleich zur Vorjahresperiode um 8,5% zurück, der Umsatz um 5,4% und der Auftragseingang um 2,3%.
«Die Gewerkschaften verschliessen die Augen vor der schwierigen Situation, in der sich die Schweizer Technologiebranche seit geraumer Zeit befindet», so Swissmem.
Der Schweizerische Arbeitgeberverband bezeichnete die Lohnforderungen als «überzogen» und argumentiert, dass solche Lohnerhöhungen das Überleben einiger Unternehmen gefährden könnten.
Es gibt auch Anzeichen dafür, dass sich die Bedingungen für Schweizer Arbeitnehmende verbessern. Die Inflation ist von ihrem Höchststand von 2,8% im Jahr 2022 auf 1,3% in diesem Jahr gesunken. Für das Jahr 2025 werden 1,1% prognostiziert.
Im November brüstete sich die Gewerkschaft Unia damit, dass sie für 2024 in mehreren Branchen Lohnerhöhungen von über 2,5% und in einigen Fällen sogar solche über der Inflationsrate ausgehandelt habe. «Die Löhne halten wieder Schritt mit der Inflation», erklärte die Gewerkschaft damals.
Mögliche Ergebnisse
Laut einem Bericht der Grossbank UBS vom November letzten Jahres werden die jährlichen Lohnsteigerungen zwischen 2014 und 2024 bei durchschnittlich 1% liegen. Im Jahr 2023 stiegen die Löhne um 2,3%, um den massiven Inflationsanstieg des Vorjahres auszugleichen. Aber im vergangenen Jahr gingen die Lohnerhöhungen auf 1,7% zurück.
Eine kürzlich von der Wirtschaftsforschungsstelle KOF durchgeführte Umfrage bei 4500 Unternehmen ergab, dass in den nächsten 12 Monaten in einer Reihe von Branchen mit einem durchschnittlichen Nominallohnanstieg von 1,6% gerechnet wird.
Der Einzelhandel erwartet mit 1,1% die geringsten Lohnsteigerungen, während das Hotel- und Gaststättengewerbe von 2,7% ausgeht. Im Maschinenbau ist laut Umfrage mit 1,3% mit geringeren Lohnsteigerungen zu rechnen als in der Informatikbranche (1,8%).
Dieselben Unternehmen erwarten aber auch eine höhere Inflation als die von der Schweizerischen Nationalbank prognostizierten 1,3%. Die Umfrageteilnehmenden rechnen mit einer Teuerung von 1,6%. Das würde die durchschnittliche Lohnerhöhung aufzehren.
Editiert von Reto Gysi von Wartburg, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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