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Verhältnis zur EU steht auf dem Spiel

150 Inspektoren kontrollieren auch auf Baustellen, ob ausländische Arbeiter nicht zu Dumpinglöhnen angestellt sind. Keystone

Zuwanderungs-Kontingente und Massnahmen gegen Billiglöhne: Das die Trümpfe der Befürworter für die Abstimmung um die erweiterte Personen-Freizügigkeit.

Die Gegner aus dem isolationistischen Lager befürchten eine Einwanderungs-Welle und den Einzug von Tiefst-Löhnen.

Aussenministerin Micheline Calmy-Rey, Volkswirtschaftsminister Joseph Deiss, Justizminister Christoph Blocher: Wenn nicht weniger als drei Mitglieder der Landesregierung einen Abstimmungskampf eröffnen, muss für das Wohl der Schweiz viel auf dem Spiel stehen.

Und tatsächlich: Wenn am 25. September das Schweizer Stimmvolk über die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die zehn neuen EU-Länder befindet, geht es um nichts weniger als das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union (EU).

Das Herz der Schweizer Wirtschaft

Würde nämlich eine Mehrheit dem erweiterten freien Personenverkehr eine Absage erteilen, drohten die gesamten Bilateralen Verträge I und II einzustürzen wie ein Kartenhaus. Verträge notabene, welche die Schweiz in jahrelangen und mühevollen Verhandlungen mit der EU ausgehandelt hatte.

Zur Illustration: Die Bilateralen I von 1999 brachten unter anderem gleich lange Spiesse für die Schweizer Exportwirtschaft im gesamten EU-Raum. Eine Chance, welche die Exportbranche gepackt hat: Die EU ist heute der wichtigste Handelspartner der Schweiz.

Und das wiederum machte die Export-Industrie zum mit Abstand stärksten Standbein einer ansonsten vor sich hin dümpelnden Schweizer Volkswirtschaft. Ein Ja zur Vorlage stärke deshalb die Schweizer Wirtschaft und sichere Arbeitsplätze, das die Position von Bundesrat (Landesregierung) und Parlament.

Gleichstellung

Ausdehnung der Personenfreizügigkeit, das tönt abstrakt. Dabei geht es aber um Menschen und deren Rechte. Konkret: Menschen aus den zehn Ländern, die im Juni 2004 neu zur EU gestossen sind, sollen auch in der Schweiz arbeiten oder studieren können.

Gleiches gilt bereits für die Bürger und Bürgerinnen der 15 «alten» EU-Staaten, war doch die Personenfreizügigkeit eines der sieben Abkommen, die 1999 in den ersten bilateralen Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU ausgehandelt worden waren.

Umgekehrt gilt dasselbe: Personen und Firmen aus der Schweiz sollen sich neu auch in Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei, Estland, Lettland, Litauen und Slowenien um Arbeit, einen Studienplatz oder einen Auftrag bewerben können. Dazu gehören auch die beiden Mittelmeerinseln Malta und Zypern.

Reale und geschürte Ängste

Ein solchermassen erweiterter Personenverkehr wird auch von den drei Regierungsparteien – der Freisinnigen (FDP), den Sozialdemokraten (SP) und den Christlichdemokraten (CVP) – sowie von Arbeitgebern und Gewerkschaften klar befürwortet.

Jeder dritte Arbeitsplatz in der Schweiz sei direkt oder indirekt von der EU abhängig, strich beispielsweise Rudolf Stämpfli, Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, heraus.

«Es ist nicht vorstellbar, dass die Schweiz als einziges Land der Welt auf die Dauer zwischen Erstklass- und Zweitklass-Europäern unterscheidet», sagte der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftbundes, Paul Rechsteiner.

Zwar seien die Gefahr von Lohndumping und Druck auf die Arbeitsbedingungen eine Realität. Aber dieser Druck kann laut Rechsteiner wirksam bekämpft werden.

Vehement gegen die rechtliche Gleichstellung der neuen EU-Bürger aus Osteuropa ist die ebenfalls in der Regierung vertretene Schweizerische Volkspartei (SVP) und die isolationistische Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns).

Diese Seite warnt vor einer massiven Einwanderung, mehr Schwarzarbeit und Billiglohn-Konkurrenz sowie einer erhöhten Arbeitslosigkeit.

Zweifache Vorkehren

Die Befürworter nehmen diese Bedenken ernst. Eine erste Hürde ist deshalb bereits im neu ausgehandelten Freizügigkeits-Abkommen selbst enthalten: In einer Übergangsphase bis 2011 legen Kontingente genau fest, wie viele Personen aus den neuen EU-Ländern in der Schweiz auf Arbeitssuche gehen können. Sollte der Andrang (zu) gross sein, kann die Schweiz die Frist bis 2014 verlängern.

Bisherige Erfahrungen lassen aber nicht auf einen Zuwanderungsstrom schliessen. Als in den 1980er-Jahren die «armen» Länder Griechenland, Spanien und Portugal in die EU aufgenommen worden waren, kam es in der Folge zu keinerlei massiven Einwanderungswellen in den «reichen» EU-Norden.

Den «billigen Ostarbeiter» soll es nicht geben

Für die zweite Hürde sorgte das Parlament mit den so genannten flankierenden Massnahmen gegen Lohn- und Sozialdumping. Auf Drängen der Gewerkschaften werden die Arbeitskräfte aus Osteuropa ausdrücklich den in der Schweiz geltenden Bestimmungen unterstellt.

150 kantonale Inspektoren werden vor allem in der Landwirtschaft, im Gastgewerbe und im Baugewerbe kontrollieren, ob die Angestellten die Mindestlöhne erhalten und die maximalen Arbeitszeiten nicht überschreiten.

Dass dieses Massnahmen-Paket Zähne hat, davon zeugen die Sanktionen, mit denen Verstösse geahndet werden: Treten in einer Branche oder Region wiederholte Fälle von Lohndumping auf, kann dort ein Gesamtarbeits-Vertrag (GAV) «verordnet» eingeführt werden, der dann für den nötigen Nachdruck sorgt.

Verletzen ausländische Arbeitgeber oder Arbeitnehmer die Mindestbestimmungen, wird ihnen der Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt für maximal fünf Jahre gesperrt.

swissinfo, Renat Künzi

Über die Ausdehnung des Personenfreizügigkeits-Abkommens sowie die Revision der flankierenden Massnahmen wird am 25. September 2005 abgestimmt.
Das Referendum ist mit 92’901 gültigen Unterschriften zu Stande gekommen.

Mit der Erweiterung der EU um 10 neue Mitglieder am 1. Mai 2004 wurden die bestehenden bilateralen Abkommen Schweiz-EU automatisch auf die neuen Staaten ausgedehnt.

In einem Zusatzprotokoll wurde in Bezug auf die neuen osteuropäischen EU-Staaten für den freien Personenverkehr eine separate Übergangs-Regelung festgelegt.

Die Regelung sieht eine schrittweise und kontrollierte Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes gegenüber Arbeitskräften aus den neuen EU-Staaten vor.

Arbeitsmarktliche Beschränkungen (Inländervorrang, Kontingente, Kontrolle der Lohn- und Arbeits-Bedingungen) können bis am 30. April 2011 weitergeführt werden.

Das Parlament hat in der Wintersession 2004 das Zusatzprotokoll gemeinsam mit der Revision der flankierenden Massnahmen gegen Lohn- und Sozialdumping genehmigt.

Da darauf erfolgreich das Referendum ergriffen wurde, kommt es nun am 25. September zu einer Volksabstimmung.

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