Vorteile für alle oder Sozialabbau?
"Sozial, stark, wirkungsvoll": Die Regierung setzt sich für die Revision der Arbeitslosenversicherung ein. Gewerkschaften und Linke wehren sich gegen die Kürzung der Taggelder und Aufhebung des Solidaritätsbeitrages.
Das Volk entscheidet am 24. November.
Seit Mitte der 90er-Jahre wird die Arbeitslosenversicherung (ALV) mit Notmassnahmen finanziert. Die befristeten Spezialbedingungen waren nötig, weil damals die Zahl der Arbeitslosen rasant angestiegen war.
2003 laufen diese Notmassnahmen nun aus – auf dem Tisch liegt eine Revision des ALV, die das Sozialwerk langfristig sichern soll.
Volkswirtschaftsminister wirbt für ein Ja…
Das revidierte Gesetz schaffe eine ALV für gute wie für schlechte Zeiten, sagte Couchepin am Montag vor den Medien im Bundeshaus.
Bund und Kantone bezahlen zusammen neu 400 Mio. Franken pro Jahr. Der ALV-Beitrag wird wieder von 3 auf 2 Lohnprozente gesenkt: Laut dem Volkswirtschaftsminister wird die ALV mit dieser Veränderung weniger abhängig von der Konjunktur sein und somit auf eine solide Grundlage gestellt.
Die Reduktion der Beitragssätze entlaste Arbeitgeber und Arbeitnehmer um je eine Milliarde, betont Couchepin. Für das erste Jahr erwägt er eine Reduktion um ein halbes Prozent.
…Gewerkschaften kämpfen dagegen
Gewerkschaften, linke Parteien und Arbeitslosenvereinigungen sehen in der Revision einen Sozialabbau und ein Verlustgeschäft für die Versicherten.
Die Neuerungen würden besonders Langzeitarbeitslose und wirtschaftlich Schwächere treffen, begründen sie ihr Referendum.
Streitpunkt kürzere Bezugsdauer
Der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), der St. Galler Nationalrat Paul Rechsteiner, kritisierte vornehmlich die geplante Verringerung der Bezugsdauer von 520 auf 400 Tage. Diese Neuerung treffe in erster Linie diejenigen, die keine Stelle fänden.
Durch die Verkürzung würden zwölf Prozent der heutigen Erwerbslosen früher ausgesteuert und seien schneller vom Fürsorgeamt abhängig, fügte Hugo Fasel, Präsident des Christlichnationalen Gewerkschaftsbundes der Schweiz (CNG), hinzu.
Dem Vorwurf, die Revision mit Einsparungen von 415 Millionen sei unsozial, tritt Volkswirtschaftsminister Couchepin entschieden entgegen.
Die Kürzung der Bezugsdauer von 520 auf 400 Taggelder sei auf die unter 55-Jährigen beschränkt. Sie treffe so nur einen von acht Arbeitslosen -darunter vor allem Junge und Kurzaufenthalter aus dem Ausland.
Dazu kämen gezielte Leistungsverbesserungen, sagte Couchepin. Beispielsweise gebe es künftig schon vier statt erst zweieinhalb Jahre vor der Pensionierung 640 Taggelder.
Unter anderem erwähnte Couchepin auch eine Taggelderhöhung für rund 3000 Personen mit tiefen Löhnen sowie die verlängerte Bezugsdauer bei Krankheit und Mutterschaft.
Streitpunkt Solidaritätsbeitrag
Die vorgesehene Aufhebung des Solidaritätsbeitrages auf Gehältern zwischen 106’800 und 267’000 Franken Jahreslohn bedeute einen Solidaritätsverlust zwischen den besser verdienenden und den weniger gut situierten Arbeitnehmenden und sei deshalb inakzeptabel, kritisieren die Gewerkschaften.
Fasel übte auch Kritik an der Erhöhung der minimalen Beitragszeit von sechs auf zwölf Monate. Betroffen hiervon seien insbesondere Junge, Frauen und ausländische Arbeitskräfte.
Die punktuellen Verbesserungen der Revisionsvorlage stünden in keinem Verhältnis zum Leistungsabbau für die Versicherten, sagte Fasel.
Der Solidaritätsbeitrag werde mit dieser Revision nicht «abgeschafft», stellte Couchepin klar. Ohne die Gesetzesänderung fiele er vielmehr ersatzlos weg. Stattdessen sehe das Gesetz bei einem ALV-Schuldenberg von 5 Milliarden wieder einen Solidaritätsbeitrag von einem Prozent vor.
Offene Ausgangslage
Die Stimmberechtigten entscheiden am 24. November über die Vorlage (das Ständemehr ist dabei nicht relevant). Und die Linke darf sich mit ihrem Referendum durchaus Hoffnungen machen: So lehnte das Volk 1997 eine Kürzung der Taggelder an der Urne ab.
swissinfo, Eva Herrmann und Agenturen
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