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WEF-Bericht: Der Tourismus muss die Balance zwischen Wachstum und Nachhaltigkeit meistern

Das Löwendenkmal in Luzern
Der schlafende Löwe von Luzern ist eine der meistfotografierten Skulpturen. Die Schweiz belegt im WEF-Report den zehnten Platz. Keystone / Mischa Christen

Dieses Jahr wird die Tourismus- und Reisebranche voraussichtlich das Niveau von vor der Pandemie erreichen – oder sogar übertreffen. Francisco Betti, Mitautor eines WEF-Berichts über den globalen Tourismus, ist überzeugt, dass der technologische Fortschritt einen entscheidenden Beitrag zur Nachhaltigkeit der Branche in den nächsten 20 Jahren leisten wird.

Jeden Januar treffen sich in Davos Staatsoberhäupter, Führungspersonen aus der Wirtschaft und Persönlichkeiten aus verschiedensten Bereichen zum Weltwirtschaftsforum (WEF).

Das Treffen in Davos ist jedoch bei weitem nicht die einzige Aktivität des WEF. Die Genfer Stiftung, die sich ursprünglich auf die Organisation internationaler Konferenzen konzentrierte, hat ihren Tätigkeitsbereich nach und nach auf eine Reihe anderer Aktivitäten ausgeweitet.

In diesem Rahmen hat das WEF im Mai in Zusammenarbeit mit der Universität Surrey den Bericht «Travel and Tourism Development Index 2024»Externer Link veröffentlicht. Er gibt  einen Überblick über den aktuellen Stand der internationalen Reise- und Tourismusbranche. Wir haben mit Francisco Betti, Co-Autor des Berichts, gesprochen.

Seit 2015 ist Francisco Betti Mitglied des World Economic Forum. Derzeit leitet er als Mitglied des Exekutivkomitees das Global Industries Team.

Dieses bringt mehr als 20 Industriegemeinschaften zusammen, um Unternehmen und Sektoren dabei zu unterstützen, aktuelle und zukünftige Trends zu antizipieren und die verantwortungsvolle Transformation von Industrien zu beschleunigen.

SWI swissinfo.ch: Welches sind die wichtigsten Ergebnisse Ihres kürzlich veröffentlichten «Travel and Tourism Development Index 2024»?

Francisco Betti: Es wird erwartet, dass die Reise- und Tourismusbranche 2024 das Niveau von vor der Pandemie erreicht oder sogar übertrifft. Das jüngste Wachstum ist auf die Wiedereröffnung der Volkswirtschaften nach der Pandemie und die steigende Nachfrage nach Reisen und Erlebnissen zurückzuführen.

Die Eröffnung neuer Flugrouten, Flughäfen, Natur- und Kulturattraktionen usw. hat natürlich zu diesem Aufschwung beigetragen. Nur wenigen ist bewusst, dass diese Branche fast 10% des weltweiten Bruttosozialprodukts erwirtschaftet und einen erheblichen Einfluss auf die Beschäftigung hat.

Welche Risiken bestehen für die Branche?

Trotz des erneuten Wachstums ist die Branche fragil und sieht sich einer Vielzahl von Herausforderungen gegenüber. Dazu gehören makroökonomische und geopolitische Unsicherheiten sowie Umwelt- und Klimarisiken. Letztere können eine ganze Region «ausser Gefecht» setzen.

Darüber hinaus verändert die Digitalisierung, zu der auch die generative künstliche Intelligenz gehört, die Branche durch das Auftreten neuer Anbieter und die exponentielle Zunahme von Online-Buchungen.

Schliesslich kann das Angebot aufgrund des Mangels an qualifizierten Arbeitskräften, fehlender Flüge und veralteter Infrastruktur nicht mit der hohen Nachfrage Schritt halten.

Ein Mann mit Dokumenten im Arm
Francisco Betti arbeitet seit 2015 für das Weltwirtschaftsforum. swissinfo.ch

Ist die Erholung der Reise- und Tourismusbranche in allen geografischen Gebieten mehr oder weniger gleichmässig?

Sie ist sehr ungleichmässig. Die ersten zehn Plätze in unserer Rangliste werden von westlichen Ländern sowie Japan und China belegt.

Die Entwicklungsländer machen zwar Fortschritte, aber ihr Rückstand auf die Spitzenreiter ist immer noch beträchtlich.

Ihr Bericht stützt sich auf Daten, die vor allem von internationalen Organisationen wie der UNO stammen. Sind diese Daten verlässlich?

Wir haben die besten verfügbaren Quellen verwendet, aber wie immer ist die Erhebung verlässlicher Daten ein sich mehrfach wiederholender und interaktiver Prozess.

Ich weiss, dass unsere Quellen, zum Beispiel die UNO-Organisationen, viel Arbeit in die Überprüfung und Harmonisierung der Daten investieren.

Die Schweiz belegt in Ihrem Ranking 2024 den zehnten Platz. Ihre grösste Schwäche ist das hohe Preisniveau – das ihr jedoch ermöglicht, zahlungskräftige Gäste anzuziehen und Übertourismus zu vermeiden.

Unser Bericht ist ein innovatives Instrument, da er nicht nur wirtschaftliche Faktoren, sondern auch Überlegungen zur Umwelt, zur Resilienz und zu den Auswirkungen auf die lokalen Gemeinschaften einbezieht.

Es ist jedoch nicht das Hauptziel unseres Berichts, eine Rangliste aufzustellen und die Länder miteinander zu vergleichen, weil jedes Land in einem anderen Kontext arbeitet.

Unser Hauptziel ist es, die Behörden und den Privatsektor in jedem Land in die Lage zu versetzen, fundierte Diskussionen zu führen und die richtigen Fragen zu stellen.

Im Fall der Schweiz ist es natürlich ein positiver Aspekt, eine bestimmte Art von Touristinnen und Touristen ansprechen zu können.

Generell darf aber nicht vergessen werden, dass die preisliche Wettbewerbsfähigkeit ein wichtiger Faktor ist, der genau beobachtet werden muss. Dieser kann sich negativ auf die Nachfrage auswirken, etwa bei einer raschen Aufwertung des Schweizer Frankens.

Auch bei den natürlichen und kulturellen Ressourcen schneidet die Schweiz gemäss Ihrem Bericht relativ schwach ab, weit hinter Spanien, Italien und Frankreich. Wie erklären Sie sich das?

Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie ein direkter Vergleich in die Irre führen kann. Natürlich verfügt die Schweiz über hervorragende natürliche und kulturelle Ressourcen und leistet eine hervorragende Förderarbeit.

In unserem Bericht berücksichtigen wir aber die Grösse des Landes. Bei den natürlichen Ressourcen etwa verfügt die Schweiz über rund 5000 km2 Schutzgebiete, darunter den Nationalpark, die man besuchen kann. Zum Vergleich: In Spanien sind es 270’000 km2 und in den USA 2,9 Millionen km2.

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Ist die Schweiz dennoch ein Opfer des punktuellen Übertourismus?

Betreffend Übertourismus sind die Herausforderungen, mit denen die Schweiz konfrontiert ist, nicht spezifisch für dieses Land. In den meisten Staaten ist der Overtourism eher lokal begrenzt (wie in Lauterbrunnen, Venedig, Kyoto usw.) als landesweit verbreitet. Zudem ist es schwierig, sich auf eine quantitative Definition von Overtourism zu einigen.

Am wichtigsten ist ein ständiger Dialog zwischen den Behörden und der einheimischen Bevölkerung, die am meisten vom Tourismus profitiert, aber auch am meisten unter übermässigem Tourismus leidet.

Durch diesen Austausch kann der beste Konsens erreicht werden. Dabei ist es wichtig, sich auf wissenschaftliche Fakten zu stützen. Etwa die Frage, wie viele Personen ein gewisses Gebiet pro Tag maximal verträgt, ohne dass die Natur Schaden nimmt.

Wie lässt sich übermässiger Tourismus am besten regulieren?

Die UNO nennt mehrere Methoden, um übermässigen Tourismus zu verhindern, wie zum Beispiel die Einführung dynamischer Preismechanismen, die Einrichtung von Fussgängerzonen oder die Verwendung von Big Data zur Überwachung der Auswirkungen.

Generell empfiehlt die UNO, die Besucherinnen und Besucher gleichmässiger über ein geografisches Gebiet (wie beispielsweise ein Land) oder über die Zeit zu verteilen. Das macht die Schweiz bereits.

Externer Inhalt

Eine der grössten Herausforderungen für den Schweizer Tourismus ist der Fachkräftemangel. Welche Lösungen schlagen Sie vor?

Es gibt keine Patentlösung für dieses gravierende Problem, mit dem alle Industrieländer konfrontiert sind. Um mehr Arbeitskräfte zu gewinnen, ist es wichtig, die touristischen Berufe attraktiver zu machen, indem die Arbeitsbedingungen verbessert und neue Arbeitskräfte gut ausgebildet werden.

Dies ist ein langwieriger Prozess, weshalb das Angebot derzeit nicht mit der Nachfrage Schritt halten kann. Wie immer ist eine gute Zusammenarbeit zwischen den Behörden und dem Privatsektor von entscheidender Bedeutung, um wirksame Massnahmen zu ergreifen.

In der Schweiz sind zahlreiche Stellen auf nationaler, kantonaler und kommunaler Ebene in die Tourismusförderung involviert. Was sind die besten Praktiken in diesem Bereich?

Meiner Meinung nach muss die ideale Organisation den Besonderheiten des jeweiligen Landes entsprechen. Bei der Schweiz haben wir es mit einem sehr föderalistischen Staat zu tun, was zu seiner Schönheit und Grösse beiträgt.

Aus diesem Grund bin ich der Meinung, dass die Tourismusförderung in der Schweiz sehr dezentralisiert sein sollte, aber mit einer guten nationalen Koordination und einer einheitlichen und gemeinsamen Marke.

Global gesehen stelle ich fest, dass sich immer mehr nationale Tourismusorganisationen der Notwendigkeit bewusst werden, Tourismusströme zu lenken, weniger bekannte Reiseziele zu fördern und alle Interessengruppen einzubeziehen.

So können sie sicherstellen, dass der Tourismus allen zugutekommt und er die lokale Kultur und Natur respektiert.

Mit anderen Worten beschränken sich diese nationalen Organisationen nicht mehr nur auf die Vermarktung und Anwerbung von Touristinnen und Touristen.

Menschen auf einem Wanderweg
Auch die Kultur ist eine Softpower: Mit dem Dreh von Folgen einer saudiarabischen Serie in der Schweiz will Schweiz Tourismus weitere Gäste aus den Golfstaaten in das Land locken. sda-ats

Im Hinblick auf die Nachhaltigkeit stellt sich die Frage, ob neue, saubere Technologien ausreichen oder ob weniger Reisen unvermeidlich sind.

Die Balance zwischen Wachstum und Nachhaltigkeit ist die Herausforderung des Jahrhunderts! Einerseits ist der technologische Fortschritt in vollem Gang. Ich denke zum Beispiel an nachhaltige Treibstoffe für die Luftfahrt, an Wasserstoff und elektrische Energie.

Es wird noch massive Investitionen und zwanzig Jahre dauern, bis unsere Industrie nachhaltig ist, aber als Technikoptimist glaube ich fest daran.

Natürlich ist es wichtig, dass alle Beteiligten auf vielfältige Weise, auch mit erheblichen Investitionen, zu den Bemühungen um Nachhaltigkeit beitragen.

Dies erfordert einen hohen Koordinationsaufwand, weshalb unser Forum regelmässig alle wichtigen Beteiligten zusammenbringt.

Schliesslich müssen auch wir als Konsumentinnen und Konsumenten unseren Beitrag leisten und so verantwortungsvoll wie möglich reisen.

Sind Konsumentinnen und Konsumenten generell bereit, für nachhaltige Lösungen mehr zu bezahlen?

Es gibt bereits teurere Lösungen, die einen Teil der CO2-Emissionen kompensieren. Und ich beobachte ein gewisses Interesse an diesen Optionen, speziell bei der jüngeren Generation in den entwickelten Volkswirtschaften.

Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

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