Weitverbreitete Lohnexzesse in der Schweiz
In der Schweiz wachsen die Saläre des Top-Managements laut Travail.Suisse weiterhin stärker als die Löhne der Arbeitnehmer. Die Lohnschere öffne sich innerhalb der Schweiz stärker als in den Ländern der EU.
Die Lohnungerechtigkeit in der Schweiz sei derart gestiegen, dass sich die Gewerkschaften Sorgen um das «Erfolgsmodell Schweiz» machten, das bisher auf gegenseitigem Vertrauen und einer tiefen Regelungsdichte der Arbeits- und Lohnmärkten basierte.
Travail.Suisse, der Schweizer Dachverband der Arbeitnehmenden, hat am Montag seine vierte Topmanager-Lohnstudie veröffentlicht. Dabei vergleicht der Verband in einer Stichprobe von 28 Unternehmen die Entwicklung der Löhne des Top-Managements mit jener der Arbeitnehmerschaft.
«Innerhalb der letzten sechs Jahre hat sich die Lohnschere in unserer Stichprobe um 80% geöffnet», sagt Susanne Blank, Leiterin Wirtschaftspolitik bei Travail.Suisse.
Dabei zeigten die Zahlen, dass 2007 trotz Hypothekenkrise und beginnender konjunktureller Abkühlung ein Rekordjahr sei, was das Auseinanderdriften der Löhne betreffe.
Eigentlich hatte sich 2007 bei der Reallohnentwicklung der Arbeitnehmer eine Trendwende nach oben ergeben. Und dennoch, so Travail.Suisse, konnten sie in keiner Weise mit dem oft zweistelligen Lohnwachstum der Top-Manager mithalten.
Vergleich mit dem Ausland
Diese Lohnunterschiede entsprächen kaum dem Bild der Schweiz, das man sich im Ausland mache, sagt Matthias Humbel von Travail.Suisse gegenüber swissinfo.
Was die Bruttobezüge der Schweizer Top-Managener betrifft, stehen sie im internationalen Vergleich an zweiter Stelle, nach den USA. Erst mit Abstand folgen die Bezüge deutscher, kanadischer, mexikanischer und japanischer CEOs (Generaldirektoren) , zitiert Humbel eine Studie, deren Daten bis 2006 erhoben wurden.
Zwar ist die Lohnschere zwischen Top-Management und Mitarbeitern in der Schweiz kleiner als in den USA. Doch im EU-Vergleich ist das Einkommensgefälle gross.
Das 80%-ige Salärwachstum des Schweizer Top-Managements seit 2002 müsse mit dem 2,8%-igen Reallohnwachstum der Arbeitnehmer verglichen werden, so Blank. «Damit ist die Lohnerhöhung beim Top-Management in der vorliegenden Stichprobe rund 30 mal höher.»
Wobei diese 80% einen Durchschnittswert darstellen: Bei 10 Unternehmen der Stichprobe (zum Beispiel Roche, Swiss Life, Implenia etc.) betrug die Schere über 100%, bei Migros und etlichen Bundesbetrieben wie Post, Swisscom und Ruag oder bei Credit Suisse bis 30%.
Dieses Ungleichgewicht, so Blank, springe noch stärker ins Auge, wenn man die 2,8% Lohnerhöhung der Arbeitnehmer mit den 11,3% vergleiche, um die das Bruttoinlandprodukt (BIP) seither zugenommen habe.
Travail.Suisse ortet deshalb einen «gänzlichen Verlust der Integrität von Führungsgremien».
Verwaltungsräte – Abnicker
Was die Verwaltungsräte der in der Stichprobe ausgesuchten Unternehmen betrifft, hätten sich die Salärexzesse weniger verschärft als früher, so die Travail.Suisse-Studie. Bei 14 der 28 befragten Unternehmen ging die Schere auseinander, bei 12 schloss sie sich. Grund: 2007 fielen die Aktienkurse nach langer Zeit wieder.
Wie eng Verwaltungsräte und Top-Manager verflochten seien, zeige der Umstand, dass der Verwaltungsrat die «exzessiven Lohnerhöhungen» seiner Direktion oft einfach absegne, anstatt kritische Distanz zu wahren.
«Mehr Macht statt Markt» vermutet Travail.Suisse deshalb in diesem Top-Bereich, und hat ein «Kartell der Lohnhaie» erstellt. Dieses umfasst 55 Manager aus 12 Unternehmen, deren Manager-Löhne 2007 den jeweils tiefsten Lohn in ihrem Unternehmen um den Faktor 100 überschreitet.
Im Jahr 1364 mit der Arbeit beginnen
Wem dieser Faktor nichts sagt, so Travail.Suisse-Präsident Martin Flügel, soll sich vorstellen, dass zwischen Daniel Vasella von Novartis und seinem betreffenden Tiefstlohnarbeiter der Faktor 641 liegt. Mit anderen Worten hätte dieser Mitarbeiter rechnerisch im Jahr 1364 mit seiner Arbeit beginnen sollen, um heute gleich gut dazustehen wie sein Chef in einem einzigen Jahr.
Laut Martin Flügel haben die Ungerechtigkeiten in der Einkommensverteilung politische Folgen – «und zwar nicht nur bei den Gewerkschaften, sondern weit ins Lager der Arbeitgeber hinein.»
So sei im Frühjahr die so genannte Abzocker-Initiative eingereicht worden – und zwar von einem Arbeitgeber. Und auch die Aktienrechts-Revision befasse sich mit der Festlegung der Löhne im Top-Management.
Flügel fürchtet, die Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter könnte angesichts derart extremer Lohnunterschiede abnehmen. Anstelle des gegenseitigen Vertrauens werde der Ruf nach mehr staatlichen Regulierung lauter, was der Effizienz des Arbeitsmarkts schade.
«Eine kleine Gruppe von Top-Managern hat die Grundlage des Schweizer Erfolgsmodells über Bord geworfen», so der Travail.Suisse-Präsident. Ausgerechnet die Prediger für ‹weniger Staat› stünden heute deshalb hinter der Abzocker-Initiative.
Rückkehr zu Fixlöhnen?
Flügel sieht auf Grund dieser Zahlen nicht mehr ein, weshalb sich die Gewerkschaften bei den Lohnforderungen zurückhalten sollten. Zweitens fordert er eine Rückkehr zu Fixlöhnen für Top-Manager, und wendet sich drittens gegen eine politische Bevorzugung dieser Kaderleute, beispielsweise durch Rabatte für Mitarbeiter-Beteiligungen, wie sie der Ständerat beschlossen habe.
Ein Referendum dagegen werde Travail.Suisse aktiv unterstützen.
swissinfo, Alexander Künzle
Travail.suisse untersucht seit 2002 periodisch Unternehmen auf die Auseinander-Entwicklung der Löhne einerseits des Top-Managements und andererseits der Mitarbeitenden.
Die jüngste Untersuchung für 2007 ist die sechste.
Lohnerhöhungen (gegenüber dem Vorjahr) um 10% sind die Regel.
Lohnerhöhungen von über 20% keine Seltenheit.
Helvetia Patria führt die Liste 2007 mit einer Lohnscherenöffnung von 69% (Konzernleitungs-Durchschnitt – Tiefstlohn) an.
Die Untersuchung erlaubt es, eine Liste all jener Top-Manager in der Direktioni und im Verwaltungsrat aufzustellen, deren Lohn den Tiefstlohn in ihrem Unternehmen um mindestens das 100-fache übersteigt.
Das sind dieses Jahr 55 Top-Manager in 12 Unternehmen.
1. Rang: Daniel Vasella, Novartis (Lohnschere 1: 643)
2. Rang: Brady W. Dougan, Credit Suisse (1:464)
3. Rang: Franz B. Humter, Roche (1: 419)
4. Rang. Peter Brabeck, Nestlé (1:390)
5. Rang: Thomas Limberger, Oerlikon (1:330)
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