Das Weltrechtsprinzip wird wieder wichtiger – so funktioniert es
Schwere Verbrechen sollen in allen Staaten der Welt verfolgt werden – das will das Weltrechtsprinzip. Entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg, erlebt es erst jetzt seinen Durchbruch, auch in der Schweiz. Warum und mit welchen Folgen?
Wenn die Schweiz eine Straftat verfolgen und vor Gericht bringen will, braucht sie einen Anknüpfungspunkt: Entweder muss die Tat in der Schweiz begangen worden sein, oder die mutmassliche Täterin oder das Opfer müssen die Schweizer Staatsbürgerschaft besitzen.
Das sogenannte Weltrechtsprinzip bricht mit diesem Grundsatz. Bei schwersten Verbrechen sind sämtliche Staaten zur Verfolgung und Anklage ermächtigt – auch wenn kein klassischer Anknüpfungspunkt vorliegt.
Die Idee dahinter: Gewisse Vergehen sind so schlimm, dass die gesamte internationale Gemeinschaft ein Interesse hat, sie zu verfolgen. Unter das Weltrechtsprinzip fallen dementsprechend Kriegsverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Folter.
Zuletzt haben Gerichtsfälle nach dem Weltrechtsprinzip zugenommen, gerade in der Schweiz. Die Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Wie kam es zum Weltrechtsprinzip?
Entstanden ist das Weltrechtsprinzip nach dem Zweiten Weltkrieg. 1949 wurde es in den Genfer Konventionen das erste Mal festgeschrieben. Auch später geschlossene völkerrechtliche Verträge, etwa die UN-Antifolterkonvention, enthalten das Prinzip.
Jedoch wenden die Staaten das Weltrechtsprinzip erst seit den 1990er-Jahren an. «Nach den Prozessen in Nürnberg und Tokio in den 1940er-Jahren hat das Völkerrecht sein Momentum verloren“, sagt dazu Anna Petrig, Professorin für Völkerrecht und öffentliches Recht an der Universität Basel. Der Kalte Krieg mit den zwei Blöcken habe eine Weiterentwicklung des Völkerrechts und so auch des Völkerstrafrechts weitgehend blockiert, da internationale Institutionen in ihrer Arbeit gelähmt waren.
Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs intensivierten sich die Debatten um die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts auf der internationalen Bühne. Wissenschaft und Regierungen arbeiteten verschiedene Prinzipien dazu aus, immer mehr Staaten nahmen das Weltrechtsprinzip in ihr Strafrecht auf – was nötig ist, um Verfahren vor den eigenen Gerichten durchzuführen.
Mit der Anklage des ehemaligen chilenischen Diktators Pinochet durch Spanien 1998 kam schliesslich der Durchbruch: Es war das erste Verfahren, das gestützt auf das Weltrechtsprinzip erfolgte. Es hatte Vorbildwirkung für andere Staaten und erhöhte den Druck, Verantwortliche von Völkerstraftaten zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen.
Warum häufen sich Fälle nach Weltrechtsprinzip?
In den letzten Jahren hat die Anwendung des Weltrechtsprinzip deutlich zugenommen. In der Europäischen Union ist die Anzahl der Fälle zwischen 2016 und 2021 um 44 ProzentExterner Link gestiegen; weltweit zwischen 2022 und 2024 um 33 ProzentExterner Link.
Eine Entwicklung hat auch die Schweiz hinter sich. Sie sei lange nicht sehr aktiv gewesen, sagt Petrig. Das hat sich aber geändert, seit das Bundesstrafgericht in Bellinzona 2021 das erste Mal eine Person gestützt auf das Weltrechtsprinzip verurteilt hat. Das Gericht sprach damals den liberianischen Kommandanten Alieu Kosiah wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig.
Im Mai 2024 dieses Jahres verurteilte das Bundesstrafgericht den früheren gambischen Innenminister Ousman Sonko wegen mehrfachen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren.
Petrig sagt, es hätte eine «Normalisierung» des Weltrechtsprinzips eingesetzt: «Je mehr Staaten solche Verfahren durchführen, desto salonfähiger und normaler werden sie.» Viele Länder hätten inzwischen spezialisierte Einheiten geschaffen, um Delikte des Völkerstrafrechts zu verfolgen und zu verurteilen.
Welche Rolle spielen NGOs?
Zur Zunahme der Verfahren trage auch bei, dass es immer mehr NGOs Fälle bei den Behörden anzeigen, so Petrig. Eine in diesem Bereich weltweit führende NGO ist Trial InternationalExterner Link. Sie wurde 2002 in Genf gegründet, um dafür zu kämpfen, dass Verstösse gegen das Völkerrecht nicht ungeahndet bleiben.
Das Weltrechtsprinzip ist ein zentrales Element des Mandats von Trial International. Die NGO hat mehrere Fälle in der Schweiz, Frankreich und anderen Teilen der Welt initiiert. Sie führt eine Datenbank mit abgeschlossenen und laufenden Fällen und publiziert jährlich einen Report. Zudem reicht sie Strafanzeigen ein. Zum Beispiel geht der Fall von Ousman Sonko auf eine Anzeige von Trial International zurück.
«Dank unseres Netzwerks werden wir über die Anwesenheit von Verdächtigen in der Schweiz oder anderswo informiert. Auf unserer Website gibt es auch ein FormularExterner Link, über das sich insbesondere Opfer oder Zeuginnen direkt mit uns in Verbindung setzen können. Und wir führen auch eigene Ermittlungen durch», sagt Benoit Meystre, Rechtsbeistand bei Trial International.
In der Schweiz kann die Organisation nur Anzeige erstatten, wenn die beschuldigte Person innerhalb der Landesgrenzen aufhält. Denn nur dann dürfen die Behörden eine Untersuchung eröffnen.
Darum recherchiert die NGO, ob und wann sich potenzielle Täter im Land befinden. Weil viele internationale Organisationen in der Schweiz angesiedelt sind, komme das immer wieder vor, so Meystre. Zum Beispiel, wenn die gesuchten Personen eine Konferenz besuchen oder Termine bei ihrer Bank hätten.
Welche politische Bedeutung haben die Gerichtsfälle?
Ob die Behörden tatsächlich eine Untersuchung eröffnen und wie ambitioniert sie diese vorantreiben, ist eine andere Frage. Petrig weist auf das politische Umfeld hin: «Je nach Herkunftsstaat des potenziellen Täters befürchtet man Brüche oder Spannungen in den diplomatischen Beziehungen.»
Manche Staaten würden auch andere Staaten bewusst schützen, erklärt Petrig. Russlands Präsident Wladimir Putin etwa unternehme Auslandsreisen, obwohl ein Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen gegen ihn hängig ist. Jedoch reist er nur in Länder, die Russland wohlgesinnt sind und wo er deswegen nicht mit einer Festnahme rechnen muss.
Auch das Personal beeinflusst, wie rasch und umfassend eine Behörde ermittelt: Seit Januar 2022 leitet Stefan Blättler die Bundesanwaltschaft. Er hat das Völkerstrafrecht zu einem seiner Schwerpunkte erklärt. Seit Blättlers Amtsantritt gebe es eine «positive Entwicklung», sagt Meystre.
Was könnte die Schweiz besser machen?
Trotzdem sieht Meystre viel Potenzial zur Verbesserung in der Schweiz. Frankreich, Deutschland und die Niederlande etwa stünden im Völkerstrafrecht viel mehr Ressourcen zur Verfügung: «Die Schweiz liegt im Vergleich weit zurück.»
Gäbe es mehr spezialisiertes Personal in der Schweiz, würden die Ermittlungen weniger lange dauern und wären effizienter. Das sei wichtig, sagt auch Petrig. Weil die angeklagten Verbrechen oft mehrere Jahrzehnte zurückliegen, bestehe die Gefahr, dass die Verantwortlichen sterben würden, bevor ein Urteil vorliege.
Als aktuelles Beispiel nennt sie den ehemaligen algerischen Verteidigungsminister Khaled NezzarExterner Link: Sein Fall wäre zwölf Jahre nach dem Start der Ermittlungen im Juni und Juli 2024 in der Schweiz vor Gericht gekommen. Doch Ende Dezember 2023 ist er gestorben, und das Verfahren wurde eingestellt.
Im Prozess gegen Ousman Sonko hat Meystre ein zusätzliches Defizit im Schweizer Verfahren geortet: «Die Übersetzung reichte nicht aus.» Trial International beantragte, das ganze Verfahren auf Englisch zu übersetzen. Das Gericht aber hat nur Wesentliches übersetzt.
«Die Klägerinnen, der Angeklagte und auch die gambischen Journalisten verstanden nichts. Dabei wäre es so wichtig, dass am Ort des Verbrechens über den Prozess berichtet wird», bedauert Meystre.
Welche Entwicklung nimmt das Weltrechtsprinzip?
Anna Petrig und Benoit Meystre vermuten beide, dass sich die Anwendung des Weltrechtsprinzips in der Zukunft zunehmend auf Verfahren gegen Unternehmen ausdehnen wird. Ein Beispiel ist der Prozess gegen zwei ehemalige Chefs des Ölkonzerns Lundin, der seit 2023 in Schweden läuft.
Sie werden verdächtigt, zwischen 1997 und 2003 im sudanesischen Bürgerkrieg die sudanesische Armee bezahlt zu haben, damit sie die Bevölkerung aus ölreichen Gebieten vertreibt und Lundin dort Geschäfte machen kann. Mit dem ehemaligen Lundin-CEO Alex Schneiter steht auch ein Schweizer vor Gericht.
Auch der Umweltschutz dürfte zunehmend ein Thema des Weltrechtsprinzips werden, mutmasst Meystre. Trial International zählt aktuell drei Verfahren in diesem Bereich. Es geht um Plünderungen von Holz und anderen natürlichen Ressourcen in Kriegsregionen.
Die Zunahme der Fälle und der Anwendungsbreite zeigen, dass das Weltrechtsprinzip lebt und dass Völkerrechtsverbrechen geahndet werden.
Es sei ein wichtiges Signal, findet Petrig: «Im Moment kann man nicht die Zeitung aufschlagen, ohne über massive Verstösse gegen das Völkerrecht zu lesen. Doch der Moment wird kommen, in dem zumindest einige der Verantwortlichen dafür einstehen müssen. Selbst wenn es Dekaden dauert.» Immerhin diese Hoffnung könne das Weltrechtsprinzip den Opfern von Konflikten bieten.
Editiert von Marc Leutenegger
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