«Tunesien hat bedeutende Fortschritte gemacht»
Am Sonntag finden in Tunesien erstmals Kommunalwahlen statt – ein wichtiger Schritt auf dem beschwerlichen Weg des Landes zur Demokratie. Die Schweiz unterstützt diesen Weg seit der Revolution 2011. Rita Adam, noch bis Sommer Schweizer Botschafterin in Tunis, zieht Bilanz.
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Sie wurden viermal verschoben, doch jetzt ist es soweit: Am Sonntag finden die ersten Lokalwahlen in der Geschichte des unabhängigen Tunesien statt. Über sieben Millionen Wahlberechtigte bestellen rund 350 Lokalbehörden. Von dieser Dezentralisierung erhoffen sich viele Menschen nicht zuletzt auch eine Verbesserung ihrer teils prekären Lebenssituation.
Das Gesetz für die Lokalwahlen schreibt die Parität von kandidierenden Männern und Frauen fest. Ebenso die angemessene Vertretung der Jungen in den neuen Kommunalräten. Die Unter-35-Jährigen bilden die Mehrheit der tunesischen Gesellschaft (siehe Box).
Terroranschläge, Wirtschafts- und Finanzkrise, Korruption: Trotz grösster Schwierigkeiten hat die Schweiz Tunesien auf seinem Weg zu mehr Freiheiten konsequent gestützt. Tunesien ist das einzige Land des so genannten Arabischen Frühlings, dessen Revolution glückte und in eine demokratische Verfassung mündete.
swissinfo.ch: Frau Botschafterin, wie beurteilen Sie die schweizerische-tunesisch Zusammenarbeit nach sieben Jahren des demokratischen Übergangs?
Rita Adam: Nach dem Sturz von Ben Ali 2011 wurde sich die Schweizer Regierung sehr rasch den Herausforderungen des Wandels bewusst. Sie entschloss sich umgehend, die Reformen in Tunesien zu unterstützen, denn dies entspricht den Zielen der Schweizerischen Aussenpolitik.
Laut der Schweizerischen Verfassung hat diese den Auftrag, Demokratie und Menschenrechte international zu fördern.
Auf politischer Ebene fokussiert die Zusammenarbeit auf die Stärkung der demokratischen Prozesse und der Menschenrechte. Auf wirtschaftlicher Ebene liegen die Schwerpunkte auf Wirtschaftsreformen und Beschäftigung. Dritte Ebene ist die Migration einschliesslich des Schutzes verletzlicher Personen.
Bern und Tunis haben bereits 2012 ein erste Migrationspartnerschaft vereinbart. Darin diskutierten beide Parteien sämtliche Fragen der Migration, einschliesslich deren Rolle in der sozioökonomischen Entwicklung.
Bei Auslaufen des Kooperationsprogrammes von 2011 zogen wir 2016 Bilanz. Dabei entschieden wir, unser vorerst begrenztes Engagement mittelfristig weiterzuführen.
Im Oktober 2017 lancierte dann Bundesrätin Simonetta Sommaruga bei ihrem Besuch in Tunesien die zweite Phase der Zusammenarbeit. Sie besteht aus einer neuen Kooperationsstrategie für die Jahre 2017 bis 2020.
Heute ist die Schweizer Zusammenarbeit in Tunesien gut verankert, und die Schweiz hat sich dort als zuverlässiger und respektierter Partner etabliert.
swissinfo.ch: Tunesiens Weg zur Demokratie ist immer noch von enormen Problemen begleitet, politisch, wirtschaftlich und sozial. Ist das Land heute auf einem guten Weg?
R.A.: Als externe Beobachterin stelle ich in Tunesien seit 2011 bedeutende Fortschritte fest, was Freiheitsrechte und Demokratie betrifft.
Lokalwahl-Premiere
Grundlage der Kommunalwahlen ist Art. 130 der tunesischen Verfassung.
Kandidierende: 53’668
Männer: 50,74%
Frauen: 49,26%
Listen: 2074
Parteienlisten: 1055
Unabhängige Listen: 860
Koalitionen: 159
Kandidierende unter 35 Jahren: 52%
Kandidierende unter 45 Jahren: 76%
Topkandidaten Listen der Menschen mit Behinderung: 13 Männer, 5 Frauen
Besonders hervorzuheben sind die Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung 2011 sowie die Annahme der neuen, demokratischen Verfassung und die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Jahr 2014.
Speziell erwähnen möchte ich, dass die tunesischen Behörden im Bereich öffentliche Sicherheit in den letzten drei Jahren grosse Verbesserungen erzielt haben.
Ich habe oft den Eindruck, dass viele Menschen in Tunesien ungeduldig sind, wenn sie sagen, dass das, was getan wurde, nicht ausreicht. Angesichts der grossen sozioökonomischen Herausforderungen und der Forderungen nach Würde während der Revolution kann ich diese Ungeduld verstehen. Wir müssen zugeben, dass Übergänge nicht einfach sind und oft lange dauern.
Deshalb halte ich es für wichtig, Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben und realistische Ziele zu kommunizieren. Gleichzeitig zähle ich auf alle beteiligten tunesischen Akteure, ob aus dem politischen Leben, der Zivilgesellschaft oder dem Privatsektor, um die Dynamik des Wandels aufrechtzuerhalten.
Ich denke dabei insbesondere an die vollständige Umsetzung der Verfassung von 2014, aber auch an die Wirtschaftsreformen, die immer dringender werden.
swissinfo.ch: Was hat die Schweiz konkret zum Demokratisierungsprozess beigetragen?
R.A.: Sie sprechen die bevorstehenden Kommunalwahlen an, bei denen die Zusammenarbeit eine wichtige Rolle spielt. Wie schon 2011 und 2014 unterstützen wir auch jetzt bei den der Lokalwahlen konsequent die Durchführung.
Man hat sehr viel von den Wahlurnen gesprochen, welche die Schweiz jeweils zur Verfügung gestellt hat. Dies war ein gut sichtbarer Beitrag. Aber ich denke, das Wichtigste ist die Arbeit, die in Partnerschaft mit tunesischen Akteuren auf institutioneller Ebene geleistet wurde.
swissinfo.ch: Welche dieser tunesischen Partner haben am meisten vom Schweizer Know-how profitiert?
R.A.: Für die Wahlen haben wir mit ihnen unabhängige Gremien aufgebaut. So etwa die Unabhängige Oberste Wahlkommission (ISIE) und die Unabhängige Aufsichtsbehörde für audiovisuelle Kommunikation (HAICA). Diesen kommt bei Wahlen eine grundlegende Rolle zu.
So unterstützt die Schweiz Tunesien
Nach dem Sturz von Ben Ali 2011 durch das tunesische Volk hat die Schweiz rasch reagiert. Seither unterstützt sie den heiklen Übergang der Ex-Diktatur zur Demokratie.
Dies mit über 100 Projekten im Umfang von knapp 170 Mio. Franken. Sie betreffen die Bereiche wirtschaftliche Kooperation, Bildung, Friedensförderung und menschliche Sicherheit.
Konkret auf die Lokalwahlen vom 6. Mai ist das Programm zur Unterstützung des WahlprozessesExterner Link in der Höhe von 4,1 Mio. Franken gemünzt. Im Zentrum steht die Schaffung zweier unabhängiger Aufsichtsgremien zur Begleitung der Gemeindewahlen.
Weitere abgeschlossene oder laufende Projekte (Auswahl): Aufstellung einer verbindlichen Ehrencharta für die Parteien für einen gewaltfreien und fairen Wahlprozess; ein nationaler Mechanismus zur Folterprävention; Förderung Berufsbildung und Beschäftigung; Förderung von Lokalmedien; öffentliche Rechenschaftspflicht für staatliche Akteure; verbesserter Marktzugang für traditionelle, hochwertige Agrarprodukte und Lebensmittel (z. B. Harissa, Djebba- und Kaktusfeigen).
Daran waren zwei Hauptpartner beteiligt: das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) und der International Foundation for Electoral Systems (IFES). Mit beiden werden wir auch weiter zusammenarbeiten.
swissinfo.ch: Auf dem politischen Parkett ist der Austausch zwischen der Schweiz und Tunesien wieder intensiver geworden. Ist das Interesse am einzigen demokratischen Prozess im südlichen Mittelmeerraum wieder gestiegen?
R.A.: Ich denke schon. Nach der Revolution 2011 gab es einen ersten Besuch der Schweizer Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey. Die erste Phase des Übergangs endete 2014, markiert durch die Verabschiedung der demokratischen Verfassung und die Schaffung demokratisch gewählter Institutionen. Dies hat die Türen geöffnet für verstärkte bilaterale Besuche auf höchster Ebene.
swissinfo.ch: Die Einwanderung ist nach wie vor ein heikles Thema. Gibt es trotz der Differenzen zwischen den beiden Seiten Fortschritte in diesem Dossier?
R.A.: Was Fragen der Migration betrifft, funktioniert die Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern gut. Ich wiederhole, dass Bundesrätin Simonetta Sommaruga 2012 eine Migrationspartnerschaft lanciert hat.
Damit wurde ein institutionalisierter Rahmen für den Dialog geschaffen, der die Fachleute beider Seiten einmal im Jahr zusammenbringt. Dieser Rahmen trägt wesentlich zum besseren gegenseitigen Verständnis bei.
Unter dem Dach dieser Migrationszusammenarbeit wurden zwei Migrationsabkommen abgeschlossen und verschiedene weitere Formen der Zusammenarbeit initiiert.
Wir sind sehr zufrieden mit dieser Partnerschaft. Es ist jedoch klar, dass es immer Divergenzen und Probleme geben kann, aber diese werden in einer offenen und konstruktiven Atmosphäre benannt.
swissinfo.ch: Was nehmen Sie persönlich mit aus ihrer Tätigkeit in Tunesien?
R.A.: Es ist eine sehr schöne Aufgabe, Botschafterin der Schweiz in Tunesien zu sein. Es ist für jeden Diplomaten und jede Diplomatin spannend, Beobachter eines Landes und einer Gesellschaft zu sein, die sich in einem Übergangsprozess befindet.
Die Station ist unvergesslich, dies aus drei Gründen: Erstens, weil sie diese historische Gelegenheit einer Übergangserfahrung ermöglicht. Zweitens, weil es mein erster Posten als Missionsleiterin war und schliesslich einfach, weil Tunesien ein grossartiges Land ist. Ich weise die Gedanken immer noch weit von mir, von hier wegzugehen. Gott sei Dank werde ich nicht weit entfernt sein.
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