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Der Sicherheitsrat versagt – das sind die Gründe

Blick in den UNO-Sicherheitsrat
Der Sicherheitsrat befasste sich ursprünglich ausschliesslich mit Kriegen zwischen souveränen Staaten. Sein Tätigkeitsgebiet hat sich kontinierlich erweitert. sda-ats

Der Sicherheitsrat trägt gemäss UNO-Charta die “Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit”, aber in den realen Konflikten ist er meistens blockiert. Mit Reformen harzt es. Hier erklären wir, warum – und wie sich die Schweiz einbringt.

Wie funktioniert der Sicherheitsrat?

Er funktioniert schlecht und recht, will heissen: so gut, wie es die Kräftekonstellation der Mächte erlaubt. Auf das Ende des Sowjetkommunismus folgte eine Periode engerer Kooperation, die vor allem der Schwäche Russlands und dem Interesse Chinas an Integration in die Weltwirtschaft geschuldet war.

Heute ist eine Gegenbewegung in Gang. China etabliert sich als Weltmacht, Russland versucht sich an der Wiederherstellung des sowjetischen Machtbereichs. Grosse Länder wie Brasilien, Nigeria, Südafrika oder Indien beanspruchen einen Platz als eigenständige Faktoren.

Der Rat zählt 15 Mitglieder. Fünf davon, die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs (USA, Grossbritannien, Frankreich, China, Sowjetunion/Russland) sind ständig dabei und können eine Entscheidung mit ihrem Veto blockieren.

Die zehn übrigen wählt die UNO-Generalversammlung auf zwei Jahre nach einem geographischen Verteilungsschlüssel (2 aus Asien, 2 aus Lateinamerika, 3 aus Afrika, 2 aus Westeuropa, 1 aus dem ehemals kommunistischen Osten).

Erste Sitzung des UNO-Sicherheitsrats
Der UNO-Sicherheitsrat trat am 17. Januar 1946 in London das erste Mal zusammen. Am Tisch sassen Polen, Russland, Grossbritannien, die USA, die UNO, Australien, Brasilien, China, Ägypten, Frankreich, Mexiko und die Niederlande. KEYSTONE

Beschlüsse, also die sogenannten Resolutionen, werden mit einer Mehrheit von 9 Stimmen gefällt, falls keines der ständigen Mitglieder (P5) sein Veto einlegt. Bei “prozeduralen” Beschlüssen gilt das Veto nicht.

Resolutionen sind für die Mitgliedsstaaten bindend, aber folgenlos, solange sie nicht unter Kapitel 7 der Charta (Zwangsmassnahmen) erlassen werden. In diesem Fall sind die Staaten aufgerufen, UNO-Soldaten, bekannt als “Blauhelme”, zur Verfügung zu stellen und müssen sie Blockademassnahmen gegen Staaten, Unternehmungen oder Einzelpersonen (Handelsembargos, Konten- und Visasperren) zwingend umsetzen. Die Schweiz tut dies automatisch.

Was sind die Probleme?

Es ist nicht so, dass der Sicherheitsrat überall und jederzeit blockiert ist. Zu den meisten der rund 50 Traktanden auf seiner Agenda fasst er Beschlüsse, so beispielsweise in diesem Jahr zur Lage in Afghanistan oder im Sudan.

Sind die Interessen der grossen Mächte direkt tangiert, verunmöglicht das Veto (oder die Vetodrohung) eine Entscheidung oder Positionierung des Rats. Aktuelle Beispiele sind Russlands Angriff auf die Ukraine oder Israels Vorgehen im Gazastreifen, aber auch Themen wie das chinesische Vorgehen gegen die muslimische Zivilbevölkerung oder die Häftlinge im rechtlosen Raum der amerikanischen Militärbasis Guantanamo.

Das sind tote Winkel im Sichtfeld des Rats, und sie sind derzeit am Wachsen. Die Verlängerung von bestehenden Mandaten wird zunehmend bestritten oder mit dem Veto belegt.

Grosse Würfe wie die Resolution 1325Externer Link (“Frieden, Frauen, Sicherheit”), welche den Einbezug von Frauen in Friedensbemühungen dauerhaft auf die Ratsagenda setzt, sind heute undenkbar. Ebenso neue grosse Blauhelmeinsätze, wie sie nach dem Ende des Kalten Krieges namentlich in Afrika etabliert wurden.

Die Schweiz entsandte Blauhelme lange bevor sie überhaupt der UNO beitrat
Die Schweiz entsandte Blauhelme lange bevor sie überhaupt der UNO beitrat. Keystone

Das Misstrauen und der Unwille zur Kooperation setzt sich in den Details des Ratsbetriebs fest. So wird die Legitimität von Redner:innen oder Delegationsmitgliedern regelmässig angezweifelt, und der Krieg in der Ukraine im Rat als “Wie Du mir, so ich Dir” fortgesetzt: Wenn westliche Ratsmitglieder eine Sitzung zum Kriegsgeschehen anberaumen, kontert Russland mit einer Sitzung über die westlichen Waffenlieferungen an Kiew.

Das frisst wertvolle Sitzungszeit (der Rat tagt pro Jahr rund 800-mal) und strapaziert die Ressourcen der monatlich wechselnden Ratspräsidentschaft, welche die Schweiz diesen Oktober zum zweiten Mal innehaben wird.

Das gehässige Klein-Klein wird durch die Absenz klarer Verfahrensregeln begünstigt. Der Sicherheitsrat hat nur eine “provisorische” Geschäftsordnung, die der Auslegung und der Improvisation, aber auch der Sabotage viel Spielraum lässt.

Die Praktiken, die sich über die Jahre herausgebildet haben, wurden 2017 in einer “Präsidialnote” (presidential note 507) zusammengefasst.

Ein weiteres Problem stellt sich dort, wo der Sicherheitsrat gut funktioniert. Gegen seine Embargo-Erlasse gibt es keine Rechtsmittel. Wer aufgrund eines Sicherheitsratsbeschlusses den Zugang zu seinen Bankkonten verliert oder keine ausländischen Visa erhält, hat keine Möglichkeit, rechtskräftig zu appellieren.

Im Bereich der Al-Kaida/ISIL-Sanktionen gibt es eine Ombudsstelle, die Fälle prüfen und allenfalls Anregungen unterbreiten kann. Für die übrigen 14 Sanktions-Regimes nimmt eine Anlaufstelle (focal point) im UNO-Sekretariat Beschwerden entgegen, die sich oft folgenlos in der Bürokratie verlieren.

Die Schweiz spielte bei dieser Ombudsstelle eine zentrale Rolle – lesen Sie hier mehr dazu:

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Welche Reformen werden vorgeschlagen?

Die zwei dringlichsten Reformen betreffen die Zusammensetzung des Rats und das Veto der P5. Die Zusammensetzung basiert auf der Lage am Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Verlierer (Deutschland, Japan) ausgeschlossen und die meisten der heutigen Staaten europäische Kolonien waren.

Der Rat müsste die Welt von heute besser abbilden, aber die Auseinandersetzungen über die rechte Formel dreht sich seit fast vier Jahrzehnten im Kreis. Dasselbe gilt für das Veto. Beides bedürfte einer Änderung der UNO-Charta, die von zwei Dritteln der Staaten beschlossen und ratifiziert und von allen P5 gutgeheissen werden muss.

Das ist nicht realistisch. Deshalb fordern Frankreich und eine grosse Zahl weiterer Staaten – darunter die Schweiz – eine freiwillige Selbstbeschränkung: Wenn es um Genozid, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht, sollen die P5 freiwillig auf das Veto verzichten.

Eine ganze Reihe von ReformvorschlägenExterner Link zielt auf die “Arbeitsmethoden” diesseits eines grossen Umbaus. Der Rat, so wie er ist, soll sich öffnen.

Gefordert werden detaillierte Rechenschaft gegenüber den restlichen Staaten, mehr Einbezug der Meinungen der “Zivilgesellschaft” oder stärkere Rücksicht auf die von Ratsentscheiden Betroffenen, insbesondere Berufungsmöglichkeiten gegen Embargoentscheide.

Im Vorfeld wurde innenpolitisch diskutiert, ob ein neutrales Land wie die Schweiz überhaupt im Sicherheitsrat sitzen könne. Wie aber gestaltet sich die Neutralität heute`? Sehen Sie dazu unser Let’s Talk:

Die Rolle der Schweiz

Die Schweiz hat sich die “Reform der Arbeitsmethoden” seit zwei Jahrzehnten auf die Fahne geschrieben. Nach dem “Weltgipfel” vom 2005 bildete sie mit Liechtenstein, Jordanien, Singapur und Costa Rica die “Kleinen Fünf” (Small Five) und kämpfte für eine Resolution in der Generalversammlung.

Der Rückhalt war beträchtlich, aber auf starken Druck der ganz grossen Drei (USA, Russland, China) wurde der Entwurf nicht zur Abstimmung gebracht. An die Stelle der “Kleinen Fünf” traten 27 Staaten die als Gruppe ACT (accountability, coherence, transparency) dieselben Ziele verfolgen.

Die Schweiz ist auch dabei. Die Reform der Arbeitsmethoden ist eine der vier Prioritäten der Schweiz im Sicherheitsrat.

Was läuft, und was sind die Chancen?

Die UNO-Charta ist seit 1945 fünf Mal ergänzt worden, aber in der heutigen Lage ist eine Änderung unwahrscheinlich. Die Verbesserung der Einsprachemöglichkeiten gegen Sanktionsmassnahmen kriecht an Ort.

Das Mandat der Ombudsstelle für Sanktionen gegen Al-Kaida- und ISIL-Unterstützer läuft im Juni 2024 aus, die USA sind für die Aushandlung einer Erneuerung zuständig. Malta ist bemüht, das Pflichtenheft des focal point für die übrigen 14 Sanktions-Regimes neu zu fassen.

Im Bereich der “Arbeitsmethoden” stehen die Zeichen nicht auf Ausbau, sondern auf Rückbau: Das Gehör für zivilgesellschaftliche Stimmen oder neue Formen der Ratsarbeit (“Dialoge”, “interaktive” Formate) wird zunehmend angefochten.

Japan arbeitet an der Fortschreibung der Präsidialnote 507 mit dem Ziel einer Einigung auf Ende Jahr. Sie konzentriert sich darauf, Erreichtes zu festigen und fällige technische Anpassungen vorzunehmen. Zum Beispiel die Zulässigkeit von Internet-Botschaften als Ersatz für den Fax in der offiziellen Kommunikation.

Editiert von Marc Leutenegger

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