Die Schweiz als Vermittlerin im Iran: «Weniger beeindruckend und wichtig als früher»
Wird der Tod von Präsident Ebrahim Raisi beim Hubschrauberabsturz den Kurs des Iran verändern? Cyrus Schayegh, Professor für internationale Geschichte am Genfer Graduate Institute, gibt Einblicke in die künftige Aussenpolitik des Iran. Und erklärt, warum der Einfluss der Schweiz in der Region schwinden könnte.
SWI swissinfo.ch: Die Amtszeit von Ebrahim Raisi war geprägt von Massenprotesten gegen die bestehende religiöse Ordnung und mehreren politischen Krisen. Wird sich nach seinem Tod am 19. Mai im Iran etwas ändern?
Cyrus Schayegh: Es gibt dazu zwei Antworten, die sich ein wenig voneinander unterscheiden. Grundsätzlich lautet die Antwort: Nein. Der Grund dafür ist, dass der Präsident im Iran nicht wirklich die Macht hat, über die Aussenpolitik zu entscheiden.
Die Aussenpolitik und die Militärpolitik werden vom Rahbar (Führer), also Ayatollah Ali Khamenei, und den Menschen in seinem Umfeld, einschliesslich der Mitglieder des Obersten Nationalen Sicherheitsrates und der Führer der iranischen Revolutionsgarde, bestimmt.
Ich glaube nicht, dass der Tod von Raisi die iranische Politik kurzfristig wirklich beeinflussen wird.
Die zweite Antwort lautet: Ja, aber vielleicht erst mittelfristig oder längerfristig. Diese Krise, dieses Verschwinden, könnte einigen die Möglichkeit geben, sich durchzusetzen. Es ist nicht klar, was das im Moment bedeutet.
Es könnte sich um einen Teil der jüngeren Generation der Hardliner handeln.
Manche Analysen besagen, dass es für den Iran sinnvoll sein könnte, das politische Feld ein wenig zu öffnen, um bei den Wahlen, die innerhalb von 50 Tagen nach der Bekanntgabe des Todes des Präsidenten stattfinden müssen, das Gesicht zu wahren. Ich schliesse mich dieser Einschätzung an.
Cyrus Schayegh ist seit 2017 Mitglied des Geneva Graduate Institute. Zuvor war er ausserordentlicher Professor an der Princeton University und Assistenzprofessor an der American University of Beirut. Sein Spezialgebiet ist Weltgeschichte und Geschichte des Nahen Ostens.
Zu seinen wichtigsten Werken zählen The Middle East and the Making of the Modern World (Harvard UP, 2017) und Globalizing the U.S. Presidency (Bloomsbury, 2020).
Und wie sieht der Iran in diesen 50 Tagen ohne Präsident aus?
Wie gesagt, das iranische Regime wird sich durch den Tod von Raisi nicht ändern. Es ist also noch nicht klar, wie Chamenei auf diese Krise reagieren wird.
Das Modell der iranischen Demokratie der letzten 30 Jahre, in dem die Reformer erfolgreich mit den Konservativen kooperiert haben, um die Macht zu halten, ist nun beendet. Welche innenpolitischen Risiken birgt der Tod des Präsidenten? Können wir von einer Legitimationskrise sprechen?
Wenn nicht etwas sehr, sehr Überraschendes passiert, glaube ich nicht, dass es einen Aufstand auf den Strassen geben wird.
Die meisten Menschen werden die kommende Wahl nutzen, um ihre Unzufriedenheit zu signalisieren, indem sie entweder gar nicht wählen gehen oder den Namen von jemandem auf ihren Stimmzettel schreiben, der nicht kandidieren durfte.
Natürlich wird das Regime um Khamenei versuchen, die Wahl zu manipulieren, so dass sich dies nicht in den offiziellen Ergebnissen niederschlägt.
Sind wesentliche Änderungen in der iranischen Politik gegenüber Russland, Israel und den Vereinigten Staaten zu erwarten?
Ich glaube auch nicht, dass es hier eine grosse Veränderung geben wird.
Seit 2022 gibt es eine engere Beziehung zu Russland, was sowohl für den Iran als auch für Russland ein opportunistischer Schachzug ist.
Die Beziehung ist diplomatisch, militärisch und teilweise auch wirtschaftlich wichtig. Die wirtschaftlichen Beziehungen zu China sind ebenso bedeutend. Sie basieren auf iranischen Ölexporten nach China sowie massiven chinesischen Finanz- und Wirtschaftsinvestitionen im Iran.
All dies wird sich nicht ändern, ebenso wenig wie die Beziehungen des Irans zu Israel und zu den Vereinigten Staaten.
Mit anderen Worten, der Iran hat einen langen Weg vor sich, nicht nur um Kontakte mit der amerikanischen Regierung zu knüpfen, sondern auch um sicherzustellen, dass die Situation im Nahen Osten nicht eskaliert – wie im April, als der Iran Israel angegriffen hat?
Die Nahostpolitik Irans, einschliesslich seiner Position und seines Einflusses im Irak, in Syrien und im Libanon, sieht aggressiv aus und ist es auch. Die Politik dient aber gleichzeitig dem Zweck der Verteidigung. Sie muss als Teil eines grösseren Systems mit mehreren Akteuren verstanden werden.
Israel, das sich mit dem Iran in einem Patt befindet, ist strukturell gesehen ähnlich aggressiv, um seine Interessen zu verteidigen.
Die Regeln des iranisch-israelischen Spiels haben sich geändert. Sie sind nach der unerwartet heftigen Reaktion des Irans auf den Angriff Israels auf seinen Botschaftskomplex in Damaskus im April nun aber unklar.
Um die Abschreckung zu maximieren, hat Teheran nämlich absichtlich nicht klargestellt, auf welche Art von künftigem israelischem Angriff es wieder mit einem direkten Angriff auf Israel reagieren würde.
Wird sich das Verhältnis zwischen der Schweiz und dem Iran ändern?
Die Beziehungen der Schweiz zum Iran werden sich nicht drastisch ändern. Verglichen mit der Situation vor 20 oder 30 Jahren ist die Schweiz als Vermittlerin zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran heute weniger wichtig.
Es gibt einfach zu viele andere Akteure, darunter Oman, Katar und die Türkei, die in der Region selbst angesiedelt sind und ein tief verwurzeltes Interesse daran haben, eine Vermittlerrolle zu übernehmen.
Diese Vermittlerrolle wird sich nicht wesentlich ändern. Sie wird entweder so bleiben, wie sie ist – also weniger beeindruckend und wichtig als früher – oder sie wird vielleicht sogar noch an Bedeutung einbüssen.
Vielleicht hat der Iran aber auch gerade deshalb ein Interesse daran, die Schweiz an Bord zu halten, weil Westeuropa für das iranische Regime an Bedeutung verliert. Aber das ist unklar.
Setzen der Iran und die USA ihre Kontakte zur Aufhebung der Sanktionen fort, wie das iranische Aussenministerium berichtet?
An ihrem Verhältnis wird sich nichts ändern. Beide Seiten sind sich bewusst, dass eine Konfrontation ausser Kontrolle geraten kann.
Daran hat keine der beiden Seiten ein wirkliches Interesse. Ein direkter amerikanischer Angriff auf den Iran würde ein Regime weiter schwächen, das ohnehin schon wenig Rückhalt in der Bevölkerung hat.
Gleichzeitig können es sich die USA nicht leisten, eine direkte bewaffnete Konfrontation mit dem Iran einzugehen. Natürlich sind sie militärisch viel stärker als der Iran. Aber man weiss nie, wie man aus einem Krieg wieder herauskommt, wenn man ihn einmal begonnen hat.
Und das wollen die Amerikaner jetzt nicht. Die Frage ist, ob die bestehenden Sanktionen des Westens unter Führung der USA aufgehoben werden können, obwohl ich nicht glaube, dass dies für den Iran derzeit von grosser Bedeutung ist.
Nachdem [der ehemalige US-Präsident Donald] Trump die USA aus dem Atomabkommen herausgeholt hat, hat sich der Iran strategisch nach Osten orientiert. Er hat seine Beziehungen zu China, zu Russland und zu einigen anderen Ländern, vor allem in Asien, aber auch in Afrika, deutlich verstärkt.
Besteht also die einzige Hoffnung auf einen Wandel nach dem Abgang des 85-jährigen Khamenei? Wie könnte der Machtwechsel aussehen? Der letzte war 1989. Würde der Übergang ähnlich verlaufen, würden der Bevölkerung neue Gesichter, neue geistige Führer präsentiert?
Es ist immer noch unklar, wer Khamenei ersetzen würde. Wir haben Grund zu der Annahme, dass es sein Sohn, Mojtaba Khamenei, sein könnte.
Es ist aber auch möglich, dass es jemand anderes sein wird; es wäre vielleicht ein bisschen zu monarchistisch, den Sohn des derzeitigen Rahbar zum neuen Rahbar zu salben. Was wir sagen können, ist, dass kein reformorientierter Kleriker der nächste Rahbar werden könnte.
Aber ebenso wichtig ist meiner Meinung nach die Frage, wer bei dieser Entscheidung eine Schlüsselrolle spielen wird und wie diese Person ihn und seine Politik beeinflussen wird.
Ich denke, man kann mit Fug und Recht behaupten, dass es innerhalb des Hofes der iranischen Revolutionsgarden Leute gibt, die sicherstellen, dass der nächste Führer jemand ist, mit dem sie zusammenarbeiten können und der ihre ideologischen und materiellen Interessen im Iran akzeptieren und schützen wird.
Editiert von Virginie Mangin/ts, aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger
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