Die Schweiz und die UNRWA: Timeline einer steinigen Beziehung
Während das UNO-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge UNRWA vor einer existenziellen Krise steht, stellt sich die Schweiz in Frage, ob sie die Organisation weiterhin finanzieren soll. Es ist das jüngste Kapitel in der turbulenten Geschichte des Landes mit dem Hilfswerk.
Die Zukunft der UNRWA, die 5,9 Millionen palästinensische Flüchtlinge unterstützt, ist ungewiss. Im Oktober billigte das israelische Parlament ein Gesetz, das dem Hilfswerk die Arbeit im Gazastreifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem verbietet. Zuvor hatte Israel behauptet, mehrere UNRWA-Mitarbeiter seien an den Hamas-Anschlägen vom 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen, bei denen 1200 Menschen getötet wurden.
Nach zwei Untersuchungen – von denen eine Externer Linkbei neun Mitarbeitern mögliche Verbindungen zu den Anschlägen feststellte und die andere keine Beweise für die israelische Behauptung erbrachte – nahmen die meisten grossen Geber mit Ausnahme der USA die vorübergehend ausgesetzte Finanzierung der UNRWA wieder aufExterner Link. Einige, wie Spanien und Katar, erhöhten sogar ihre Spenden. Das Hilfswerk, das auch in Jordanien, Syrien und im Libanon tätig ist, ringt darum, den beispiellosen Bedarf an humanitärer Hilfe in der Region zu decken.
Die Schweiz, 2023 die zwölftgrösste Geberin der Organisation, erwägt nun jedoch, ihre Beiträge komplett einzustellen.
Zuvor hat die Schweiz ihre Hilfe für die UNRWA seit deren Gründung vor 75 Jahren schrittweise aufgestockt. Im Vergleich zu Staaten wie Deutschland ist der Beitrag jedoch nach wie vor gering – und wird stets von Debatten um das Hilfswerk begleitet, wie ein Bericht der Regierung von 2020Externer Link zeigt. Auch die Legislative hat in den letzten Jahren die Höhe der Schweizer Unterstützung zunehmend in Frage gestellt. Der heutige Aussenminister stellte sogar die Rolle des Hilfswerks in Frage.
Bescheidene Anfänge
Mai 1950 – Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten UNRWA nimmt die Arbeit auf. Es geht auf eine Resolution der UNO-Generalversammlung von 1949 zurück, mit der ein Hilfswerk für humanitäre Hilfe und Arbeitsprogramme für Palästinenser:innen gegründet wurde, die nach dem arabisch-israelischen Krieg von 1948 vertrieben worden waren. In den ersten Jahren beschränkt sich die Schweizer Hilfe auf die Unterstützung von Projekten im Gesundheitsbereich im Libanon und in Jordanien. Die Ausgaben zwischen 1958 und 1960 erreichen 600’000 CHF.
1960er-Jahre – Die Schweizer Regierung erklärt dem Parlament, dass die UNRWA trotz ihrer begrenzten Mittel einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung der palästinensischen Flüchtlinge leistet. 1965 beginnt die Regierung, Bildungsinitiativen zu unterstützen. Ziel ist es, jungen Geflüchteten zu helfen, sich in ihren Gastländern zu integrieren oder auszuwandern, da die Aussichten auf eine politische Lösung gering sind.
1970er-Jahre – Die Schweiz leistet einen jährlichen Beitrag von durchschnittlich einer Million Franken an die Organisation und spendet darüber hinaus Hunderte von Tonnen Mehl und Milchpulver. Vom Parlament kommt aber Kritik und die Forderung einer Lösung der Flüchtlingskrise, durch Förderung der Integration in den Aufnahmestaaten.
Hilfe, die «im Wesentlichen politischer Natur» ist
1980er-Jahre – Eine Analyse von Schweizer Behörden kommt zum Schluss, dass die Agentur trotz schwieriger Bedingungen – und ständigen Geldmangels – gute Arbeit leistet. Sie stellt aber auch fest, dass die von der UNRWA geleistete Hilfe im Wesentlichen politischer Natur ist. Nur eine kleine Minderheit von Geflüchteten ist gemäss dem Bericht auf humanitäre Hilfe im Sinne des schweizerischen Gesetzes über die Auslandhilfe angewiesen, und viele Flüchtlinge halten an ihrer UNRWA-Registrierungskarte fest, vor allem, um ihre palästinensische Identität zu wahren. Der Bericht zeigt aber keine alternative Lösung zur weiteren Unterstützung des Hilfswerks auf.
1990er-Jahre – Die Schweiz erhöht ihren finanziellen Beitrag auf rund 10 Millionen Franken pro Jahr für das Kernbudget und die Nothilfe und auch ihr politisches Engagement für die UNRWA. Dabei unterstützt sie eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Aufnahmestaaten, den Geberländern und dem Hilfswerk unterstützt.
2000er-Jahre – Die Schweiz erörtert Reformen für die UNRWA, darunter die Verbesserung der Effizienz ihrer Betriebsstruktur und ihrer Fähigkeit, auf Krisen in der Region zu reagieren. Sie tritt der beratenden Kommission des Hilfswerks bei, um den Generalkommissar bei seiner Arbeit zu unterstützen. 2015 übersteigt der Schweizer Beitrag zum UNRWA-Kernbudget erstmals die Grenze von 20 Millionen Franken.
Schweizer sorgen für Kontroversen
2018 – Nach einem Besuch in Jordanien sagt der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis, dass die Palästinenser:innen, solange sie in Flüchtlingslagern leben, von einer Rückkehr in ihre Heimat träumen können und dass die UNRWA «Teil des Problems geworden ist». Er fügt hinzu: «Indem wir die UNRWA unterstützen, halten wir den Konflikt am Leben. Das ist eine perverse Logik.»
Seine Äusserungen lösten einen Aufschrei aus, vor allem bei linken Parlamentarier:innen, aber laut Cassis haben sie in der Schweiz eine Debatte über die Rolle des Landes bei der UNRWA-Unterstützung ausgelöst. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass die USA als grösste Geberin ihre Beiträge vorübergehend zurückhalten – was mehrere Länder, darunter die Schweiz, dazu veranlasst, einen Teil des Defizits auszugleichen. Ein Jahr zuvor hatte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu gesagtExterner Link, dass die UNRWA «das palästinensische Flüchtlingsproblem aufrechterhält» und aufgelöst werden sollte.
2019 – Im Juli setzen die Schweiz und andere Geberländer die UNRWA-Finanzierung vorübergehend aus, nachdem unter der Leitung des Schweizers Pierre Krähenbühl, seit 2014 Generalkommissar, Vorwürfe von sexuellem Fehlverhalten, Vetternwirtschaft, Diskriminierung und anderem Machtmissbrauch laut geworden waren.
Krähenbühl tritt am 6. November zurück und verweist auf politischen Druck – insbesondere aus den USA – und auf die seiner Meinung nach konzertierten Bemühungen, die Agentur zu untergraben. Eine interne Untersuchung spricht ihn von Betrug oder Missbrauch von UNRWA-Geldern frei, weist aber auf Managementprobleme hin.
2020 – Die Schweiz drängt Philippe Lazzarini, den neuen schweizerisch-italienischen Chef der UNRWA, zur «raschen Umsetzung» von Reformen. Insbesondere für mehr Transparenz, Überwachung und Kontrolle der Prozesse des Hilfswerks.
Schweizer Finanzierung in Frage gestellt
Dezember 2023 – Zwei Monate nach den Hamas–Anschlägen vom 7. Oktober beschliesst der Schweizer Nationalrat, die jährlichen Mittel für die UNRWA aus dem Entwicklungshilfebudget zu streichen. Der Ständerat erzielt jedoch einen Kompromiss, der eine Kürzung des Gesamtbudgets für humanitäre Hilfe um 10 Millionen Franken vorsieht.
Januar 2024 – Nach Anschuldigungen Israels, gemäss denen mehrere UNRWA-Mitarbeiter an den Hamas–Anschlägen beteiligt waren, hält die Schweiz ihren Beitrag für 2024 in Höhe von 20 Millionen CHF zurück, bis eine Untersuchung abgeschlossen ist.
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Was Israel der UNRWA im Gazastreifen vorwirft
Mai 2024 – Nach einer unabhängigen Untersuchung der UNRWA durch die ehemalige französische Aussenministerin Catherine Colonna beschliesst die Regierung, die Hälfte der 20 Millionen Franken auszuzahlen. Diese sollen ausschliesslich für dringende humanitäre Bedürfnisse in Gaza verwendet werden, wo bis zu diesem ZeitpunktExterner Link rund 35’000 Menschen gestorben sind (mittlerweile sind es gemäss UNO-AngabenExterner Link mehr als 45’000). Bei einer internen Untersuchung Externer Linkwerden später bei neun Mitarbeitern mögliche Verbindungen zu dem Anschlag vom 7. Oktober festgestellt, die alle entlassen werden.
September 2024 – Der Nationalrat nimmt einen Antrag von David Zuberbühler von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) an, die Finanzierung des UNRWA einzustellen – mit einer Mehrheit von 99 zu 88 Stimmen (bei sieben Enthaltungen). Die Regierung kündigtExterner Link an, die verbleibenden 10 Millionen Franken, die für das Hilfswerk im Jahr 2024 vorgesehen sind, nicht auszugeben.
Dezember 2024 – Der Nationalrat billigt einen weiteren Vorschlag Zuberbühlers, die UNRWA-Finanzierung aus dem Entwicklungshilfebudget zu streichen. Der Ständerat vertagt seinerseits die Abstimmung über die Streichung der Mittel, während Aussenpolitische Kommission Anhörungen über das Hilfswerk durchführt. Die Regierung wird nach Abschluss der Parlamentsdebatten – voraussichtlich im Frühjahr 2025 – über die weitere Finanzierung entscheiden.
Editiert von Lindsey Johnstone/livm/ts. Übertragung aus dem Englischen: Giannis Mavris
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