Eritrea-Problematik: Italien könnte Vorbild für die Schweiz werden
Die Schweiz unterstützt seit 2017 entwicklungspolitische Projekte in Eritrea, um den Dialog mit den dortigen Behörden zu fördern. Doch trotz diplomatischer und humanitärer Bemühungen geht die eritreische Regierung in keiner Weise auf Forderungen ein, die Zwangsrückführung ihrer Bürgerinnen und Bürger zuzulassen. Schweizer Politikerinnen und Politiker fordern nun einen Strategiewechsel.
Hans Furrer ist Berufsschullehrer und Erwachsenenbildner. In den vergangenen 40 Jahren ist er als Experte wiederholt nach Eritrea gereist, zuletzt im März 2024, um dort verschiedene Kooperations- und Entwicklungsinitiativen zu begleiten.
Das wichtigste Projekt ist das «Massawa Workers Vocational Training Centre»Externer Link, das in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Unterstützungskomitee für Eritrea (SUKE) und dem eritreischen Gewerkschaftsbund (NCEW) in der Hafenstadt Massawa umgesetzt wird.
«Dieses Projekt bietet den jungen Männern und Frauen in Eritrea eine Perspektive. Wer in unserer Berufsschule eine Lehre oder Weiterbildung absolviert hat, hat das Land nicht mit dem Ziel Europa verlassen», sagt Furrer.
Seit ihrer Eröffnung im Jahr 2017 ist die Berufsschule stetig gewachsen und nimmt nun jedes Jahr rund 300 Schülerinnen und Schüler auf, die Ausbildungen in sieben verschiedenen Berufen machen können.
«Die Partnerschaft mit dem NCEW war der Schlüssel zu unserem Erfolg», so Furrer weiter. «In Eritrea, wie in allen Ländern des Globalen Südens, ist es sehr wichtig, sich nicht wie Neokolonialisten zu verhalten und zu glauben, wir wüssten, was nicht funktioniert und was verändert werden muss.»
Dank der Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft hätten rasche Kontakte zu lokalen Unternehmen hergestellt und die Bedürfnisse in der Lehrlingsausbildung ermittelt werden können.
Furrer betont zudem, dass von den vielen Projekten in Afrika dasjenige in Eritrea das nachhaltigste sei: «Während der Pandemie konnten wir nicht nach Eritrea reisen, und die eritreischen Lehrenden haben in dieser Zeit völlig selbständig neue Projekte entwickelt und in den Städten Keren und Barentu neue Berufsschulen eröffnet.»
Wiederaufnahme der Kooperation
Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit Deza hatte sich im Jahr 2006 aus Eritrea zurückgezogen, weil die Beziehungen zu den Behörden sehr schwierig waren und eine nachhaltige Weiterführung der Projekte vor Ort nicht möglich war.
Doch Anfang Oktober 2017 kam es zur WiederaufnahmeExterner Link der Unterstützung von Kooperationsprojekten, namentlich zu einem finanziellen Beitrag an das das Projekt «Massawa Workers Vocational Training Centre».
Damit waren zwei Ziele verbunden: Zum einen wollte man die Kompetenzen der jungen Eritreerinnen und Eritreer in ihrem Herkunftsland stärken, um ihren Zugang zu Beschäftigung und besseren Lebensperspektiven zu verbessern.
Zum andern ging es darum, das gegenseitige Vertrauen zwischen den beiden Regierungen zu stärken und so den bilateralen Dialog auszubauen, besonders über Migrationsfragen.
Nach einer ersten Pilotphase, die zwei Jahre dauerte und 2019 endete, wollte das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) die Zusammenarbeit mit Eritrea fortsetzen.
Die zweite PhaseExterner Link wird Ende September 2024Externer Link enden. Eine dritte Phase sei derzeit nicht geplant, erklärt die Deza auf Anfrage von SWI swissinfo.ch.
«Keine innenpolitischen Ziele der Schweiz»
Es gibt Stimmen, wonach die Rückkehr nach Eritrea nach zehn Jahren Unterbrechung eher innenpolitisch motiviert war als durch den Wunsch nach humanitärer und entwicklungspolitischer Hilfe.
EDA-Sprecher Jonas Montani widerspricht jedoch: «Dieses Projekt verfolgt keine spezifischen migrationspolitischen Ziele, sondern die Verbesserung der Lebensperspektiven junger Eritreerinnen und Eritreer sowie der bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Ländern.»
Er weist jedoch darauf hin, dass sich das Engagement der Deza durchaus positiv auf die migrationspolitischen Ziele der Schweiz auswirken könnte.
Rund 43’000 Menschen aus Eritrea leben in der Schweiz. Die Zahl der Asylgesuche ist seit Jahren rückläufig: von 9928 im Jahr 2015 auf 2109 im Jahr 2023. Auch die Zahl der ausreisepflichtigen Eritreerinnen und Eritreer ist zuletzt leicht gesunken: Ende 2022 waren es 309, Ende 2023 noch 278.
Die wichtigsten Herkunftsländer der Personen, die im Juni 2024 in der Schweiz einen Asylantrag stellten, waren Afghanistan, die Türkei, Eritrea, Algerien und Marokko.
Wie in anderen europäischen Ländern kam es auch in der Schweiz im Jahr 2023 zu Auseinandersetzungen zwischen der Gegnerschaft und Befürwortenden des eritreischen Regimes.
Anfang September gerieten in Opfikon, einer Gemeinde in der Nähe von Zürich, mehrere hundert Menschen eritreischer Nationalität aneinander. Bei den Streitigkeiten gab es ein Dutzend Verletzte, die Polizei musste eingreifen.
Ein weiterer ähnlicher Vorfall ereignete sich Ende 2023 in Grellingen im Kanton Basel-Landschaft.
Bei eritreischen Kulturfestivals kommt es regelmässig zu Ausschreitungen zwischen dem Pro- und Kontralager des eritreischen Präsidenten Isaias Afewerki. Für die Anhängerinnen und Anhänger ist er der Held, der das Land 1993 in die Unabhängigkeit führte, für die Gegnerinnen und Gegner ein rücksichtsloser Diktator, der seit über 30 Jahren mit eiserner Faust regiert und Eritrea in ein Gefängnis verwandelt hat, in dem es keine Pressefreiheit, keine Verfassung und kein Parlament gibt.
Nach diesen gewalttätigen Vorfällen nahmen Ständerat und Nationalrat im März beziehungsweise Juni 2024 eine Motion von FDP-Ständerat Andrea CaroniExterner Link an, die Massnahmen gegen Ausländerinnen und Ausländer fordert, die mit Gewalt das Regime verteidigen, vor dem sie geflohen sind.
Das Parlament folgte somit dem Bundesrat nicht, der zuvor die Motion zur Ablehnung empfohlen hatte, weil er der Ansicht war, dass die rechtliche Handhabe, um gegen solche Personen vorzugehen, schon bestehe.
Hintergrund dieser Debatte ist die Unmöglichkeit der Rückführung von Eritreerinnen und Eritreern, deren Asylgesuch von der Schweiz abgelehnt wurde. Eritrea lehnt eine zwangsweise Rückführung kategorisch ab.
Das Thema ist in jüngster Zeit regelmässig im Parlament aufgeworfen und diskutiert worden. Dies spiegeln die zahlreichen parlamentarischen Vorstösse, die in den letzten Jahren von Politikerinnen und Politikern aller Couleur eingereicht wurden.
So hat der Nationalrat in der letzten Sommersession der Motion der freisinnigen Ständerätin Petra GössiExterner Link zugestimmt (zuvor bereits der Ständerat). Damit wird die Regierung beauftragt, einen neuen Ansatz für die Rückführung von abgewiesenen eritreischen Asylsuchenden zu finden.
Die Idee dieser Motion ist es, die abgewiesenen Asylsuchenden aus Eritrea zuerst in ein Drittland zu schicken, mit dem die Schweiz ein Transitabkommen unterzeichnet. Von dort sollen sie in ihren Heimatstaat gelangen.
Die Linke und einige Vertreterinnen und Vertreter der Mitte sprachen sich dagegen aus und wiesen darauf hin, dass dieser Vorschlag nur unnötige Kosten verursachen würde.
Justiz- und Polizeiminister Beat Jans ist seinerseits überzeugt, dass Eritrea seine Bürgerinnen und Bürger nicht zurücknehmen wird, auch wenn sie über einen anderen afrikanischen Staat reisen.
«Einen Fuss in der Tür»
In einem Schlussbericht zur ersten Phase der Wiederaufnahme des Deza-Engagements in EritreaExterner Link wird festgehalten, dass sich die Position der Schweiz im Vergleich zur Situation 2017 markant verändert hat:
«Sie hat bedeutend mehr Informationen über die Situation vor Ort als damals, sie hat Zugang zu Regierungsstellen, sie hat eine gewisse Vertrauensbasis geschaffen, und damit hat sie im Hinblick auf weitere Entwicklungen ‹einen Fuss in der Tür›.»
Auch für die zweite Phase hat die Deza eine externe Evaluation in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse demnächst veröffentlicht werden sollten.
Für FDP-Nationalrat Damian Müller sind die bisher erzielten Resultate ungenügend. Er schlägt einen Strategiewechsel vor, da der eingeschlagene Weg ein Misserfolg sei.
«Die Tatsache, dass Eritrea weiterhin Zwangsrückführungen ablehnt, beweist dies», sagt Müller, der Mitglied der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats ist. Eritrea habe keinerlei Interesse an der Entwicklungshilfe des Bundes, argumentiert er.
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Eine andere Meinung vertritt Sibel Arslan. Die Vertreterin der Grünen im Nationalrat sagt, die Projekte in Eritrea seien wichtig und die Schweiz solle diese auch in Zukunft unterstützen. «Solidarität, die Unterstützung von Menschen in Not und der Kampf gegen Armut sind in unserer Verfassung verankert», sagt Arslan.
«Die Grünen haben sich immer gegen eine Vermischung von internationaler Zusammenarbeit und Migrationspolitik ausgesprochen», so Arslan. Als Vizepräsidentin der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats spielt sie damit auf die Strategie der Regierung an, internationale Zusammenarbeit und Migrationspolitik strategisch zu verknüpfenExterner Link.
«Diese Verknüpfung ist gescheitert», sagt Arslan und verweist auf die Notwendigkeit, Lösungen im Dialog zu finden. Die Schweiz könne in dieser Hinsicht auf eine lange Tradition bauen.
Diese Idee unterstützt auch Damian Müller: «Ich schlage vor, sich mehr auf den politischen Dialog zu konzentrieren, wie es Italien im Moment tut.»
Im Januar dieses Jahres traf die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni den eritreischen Präsidenten Isayas Afewerki in Rom. Ende Juni reiste der Minister für Unternehmen und Made in Italy, Adolfo Urso, mit einer umfangreichen Delegation von Führungspersonen grosser italienischer Unternehmen in die eritreische Hauptstadt Asmara, danach folgte eine Delegation des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung des Senats.
Diese Missionen nach Eritrea sind Teil des so genannten Mattei-Plans. Neben der Stärkung der Entwicklungszusammenarbeit und der Partnerschaft mit verschiedenen afrikanischen Staaten will Italien mit diesem 5,5 Milliarden Euro schweren Finanzprogramm die Ankunft von Migrantinnen und Migranten an seinen Küsten stoppen.
Niemand kehrt freiwillig zurück
Auf der Website des Bundes ist zu lesen, dass die diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Eritrea nicht sehr intensiv sind, trotz punktueller Verbesserungen in den letzten Jahren.
«Die Zusammenarbeit mit den eritreischen Behörden hat sich verbessert, zum Beispiel im Bereich der Identifikation», sagt EDA-Sprecher Montani gegenüber SWI swissinfo.ch.
Zudem erklärte die Staatssekretärin für Migration, Christine Schraner Burgener, gegenüber dem «Sonntagsblick», dass die Schweiz eine Kontaktperson mit Sitz in Nairobi entsenden werde, die häufig nach Eritrea reisen werde, um den Dialog mit Asmara zu fördern.
«Irgendein Beamter allein bringt nichts», meint indes Hans Furrer. Nur ein gleichberechtigtes Treffen zwischen Justiz- und Polizeiminister Beat Jans und seinem eritreischen Amtskollegen könne die Verhandlungen wirklich voranbringen.
Im Jahr 2022 gab es in der EU knapp eine Million AsylanträgeExterner Link, 52,1% mehr als im Vorjahr. Es ist zugleich der höchste Stand seit 2016. Der Anstieg ist teilweise auf den Krieg Russlands in der Ukraine zurückzuführen. Mit 1400 toten oder vermissten Menschen im Jahr 2022 war der Weg via Mittelmeer die tödlichste aller Migrationsrouten nach Europa.
Die EU-Länder bewilligten fast 390’000 AsylanträgeExterner Link, während rund 430’000 Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger aufgefordert wurden, die EU zu verlassen.
2022 wurden 73 600 Nicht-EU- Bürgerinnen und -Bürger in ein Drittland rückgeführt. 54% der Rückführungen waren freiwillig, 46% waren Zwangsrückführungen.
Das Europäische Parlament fordert die EU-Länder auf, in Programme zur freiwilligen Rückkehr zu investieren, die vom Aufnahmeland finanziell oder logistisch unterstützt werden können.
In einem Herkunftsländer-Informationsbericht zu EritreaExterner Link des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen aus dem Jahr 2019 wird hervorgehoben, dass die eritreische Regierung jegliche Zwangsrückführung ihrer Bürgerinnen und Bürger ablehnt.
Im Jahr 2016 erklärte jedoch ein Vertreter des Aussenministeriums gegenüber einer britischen Delegation, dass Zwangsrückführungen akzeptabel seien, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt würden.
Zu diesen gehören beispielsweise die vorherige Kontaktaufnahme mit den eritreischen Behörden oder die Bereitstellung von finanzieller Unterstützung für die rückgeführten Personen. Als adäquater Unterstützungsbetrag für die Rückkehrenden wurden 50’000 US-Dollar genannt.
Bisher sind jedoch alle diplomatischen Bemühungen zur Lösung der Eritrea-Frage gescheitert. Im Jahr 2016 trafen sich die Bundesräte Didier Burkhalter und Simonetta Sommaruga mit dem eritreischen Aussenminister. Auch der heutige EDA-Vorsteher Ignazio Cassis besuchte Asmara zweimal, 2018 und 2019.
Und 2021 brachten die Gespräche zwischen dem Sonderberater des Präsidenten, Yemane Gebreab mit Staatssekretärin Livia Leu und Staatssekretär Mario Gattiker keine greifbaren Ergebnisse.
Eritrea bleibt bei seiner Haltung: Es lehnt jede Zwangsrückführung seiner Bürgerinnen und Bürger kategorisch sei, sei es aus der Schweiz oder aus anderen Staaten.
Die Rückkehr ins Heimatland müsse freiwillig geschehen. Genau dies war eines der Ziele, die Furrer mit seinem Projekt verfolgte. Das «Massawa Workers Vocational Training Centre» sollte auch für Eritreerinnen und Eritreer in der Diaspora Lebensperspektiven schaffen.
«Die Idee war, eritreischen Asylsuchenden die Möglichkeit zu geben, ein Lehrjahr in der Schweiz zu absolvieren und dieses dann an unserer Berufsschule in Massawa fortzusetzen», sagt Furrer.
«Leider konnte dieses Vorhaben nie realisiert werden, auch weil niemand freiwillig nach Eritrea zurückkehrt, aus Angst vor Repressionen durch die Behörden.»
Diese Tatsache ist nicht überraschend. Der jüngste UNO-Bericht zu den Menschenrechten in EritreaExterner Link spricht von systematischer Unterdrückung der Freiheitsrechte und einer dramatischen Menschenrechtslage, geprägt von willkürlichen Verhaftungen, Isolationshaft und unbefristetem Nationaldienst, der mit Zwangsarbeit vergleichbar ist.
Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob
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