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Flucht oder Front: Ukrainische Männer im Visier der Schweizer Politik

Eine ukrainische Fahne vor einem bewölkten Himmel
Der Wind gegen schutzbedürftige Personen ist in der Schweiz rauher geworden. Das kriegen nun auch Ukrainer zu spüren. Keystone / Peter Schneider

Die Ukraine beginnt mit der Umsetzung eines neuen Gesetzes zur Mobilisierung von Truppen. Und in der Schweiz wird die Aufhebung des vorübergehenden Schutzes für kampffähige ukrainische Männer diskutiert – damit sie in der Heimat rekrutiert werden können. Andere halten die Idee für reine Heuchelei und sogar für "undurchführbar".

Taras* und seine Familie haben in der Schweiz Zuflucht gefunden – nach wochenlangen Raketenangriffen auf ihre Heimatstadt Kiew und der Flucht im März 2022 aus der Ukraine.

Der 40-jährige Unternehmer ist überzeugt, dass eine Rückkehr für ihn den sicheren Tod bedeuten würde. Nicht in Kiew, sondern als ungenügend vorbereiteter Wehrpflichtiger an der Front.

Petro, ein weiterer in der Schweiz lebender Ukrainer, stimmt dem zu: «Wenn ich heute in die Ukraine zurückkehren würde, würde ich von unseren Grenzdiensten angehalten und direkt zum Militärrekrutierungszentrum gebracht», sagt er. Von dort aus würde er zur Ausbildung und schliesslich an die Front geschickt werden.

Knapp zweieinhalb Jahre nach der Grossinvasion ist die Ukraine verzweifelt bemüht, ihre müden und dezimierten Streitkräfte auf dem Schlachtfeld gegen einen grösseren und besser ausgerüsteten Gegner zu stärken.

Einem hochrangigen Kommandanten, Juri Sodol, zufolgeExterner Link sind die russischen Truppen in der Ostukraine den ukrainischen Soldaten «sieben- bis zehnmal überlegen».

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Um dieses Defizit auszugleichen, ist ein neues Mobilisierungsgesetz in Kraft getreten, welches das Wehrpflichtalter von 27 auf 25 Jahre senkt. Es zielt jedoch auch auf ukrainische Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren im Ausland ab: Diese müssen nachweisen, dass sie beim Militär registriert sind, bevor sie konsularische Dienstleistungen wie die Erneuerung eines Reisepasses in Anspruch nehmen können.

Präsident Wolodimir Selenski hat auch die europäischen Länder aufgefordert, männliche Flüchtlinge im Rekrutierungsalter zur Rückkehr in die Ukraine zu bewegen.

Keine einheitliche Meinung zum Thema

Die Reaktionen auf dem Kontinent fielen unterschiedlich aus. Polen und Litauen erklärten sich bereit, bei der Rückführung dieser Männer zu helfen, ohne jedoch zu erklären, wie sie dies tun würden. Andere StaatenExterner Link, darunter Österreich, die Tschechische Republik, Ungarn und Estland, sehen davon ab.

In der Schweiz, wo rund 65’000 Menschen aus der Ukraine – hauptsächlich Frauen und Kinder – vorübergehenden Schutz erhalten haben, sind die Politiker:innen in dieser Frage geteilter Meinung.

Pascal Schmid von der rechtskonservativen SVP befürwortet den polnischen und litauischen Ansatz. Der Parlamentarier hat kürzlich eine AnfrageExterner Link an die Regierung gestellt: Brauchen Männer, die in der Ukraine militärdiensttauglich sind, wirklich den Schutz der Schweiz?

«Jemand muss die Panzer fahren»

Im März 2022 beschloss Bern zum ersten Mal in der Geschichte des Landes, den sogenannten Status S auszulösen und Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind, vorübergehenden Schutz zu gewähren. Ähnlich wie dies die Europäische Union tut.

Schmid sagt, es sei an der Zeit, diese Regelung zu überprüfen. «Wer ist schutzbedürftig? Frauen, Kinder und ältere Menschen sind es», sagt er. «Aber Wehrpflichtige sind keine Flüchtlinge.»

Sein Parlamentskollege Christian Wasserfallen von der liberal-konservativen FDP möchte, dass die Schweiz ein Rückübernahmeabkommen mit der Ukraine unterzeichnet, damit sie Männer im kampffähigen Alter repatriieren und «der Ukraine bei ihrem Personalproblem helfen» kann.

Andere lehnen diese Idee jedoch entschieden ab.

«Ich finde die Forderung über alle Massen heuchlerisch und unvereinbar mit der humanitären Tradition der Schweiz», sagt Céline Widmer von der linken SP. «Sie kommt ausgerechnet von jenen Parteien, die sich weigern, die Ukraine wirksam zu unterstützen, etwa mit Wiederaufbauhilfe.»

Die Mitte- und Rechtsparteien, die zusammen die Mehrheit im Parlament stellen, kritisieren das System des vorübergehenden Schutzes, weil es teuer und missbrauchsanfällig sei.

Das Parlament hat kürzlich einen Vorschlag zur Einrichtung eines Sonderfonds zur Finanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine abgelehnt. Es hat sich auch mit Verweis auf die schweizerische Neutralität gegen die Wiederausfuhr von Schweizer Kriegsmaterial in die Ukraine ausgesprochen.

Schmid bezweifelt, dass die Schweiz die Ukraine unterstützt, indem sie wehrpflichtigen Männern Schutz gewährt.

«Die Linken, die am liebsten Waffen [an die Ukraine] liefern, wollen auch Wehrpflichtige aufnehmen – aber einer muss die Panzer fahren», argumentiert er. «Es ist sicher kein Zeichen von Solidarität, wenn wir Wehrpflichtige aufnehmen.»

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Knapp 12’000 ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren haben in der Schweiz den Status S. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) sagt, es sei unmöglich abzuschätzen, wie viele von ihnen tatsächlich wehrpflichtig sind, da es AusnahmenExterner Link gebe.

Dazu gehören Väter von drei oder mehr Kindern, Väter von Kindern mit einer Behinderung oder schweren Krankheit, Männer mit Behinderungen und solche, die als militärdienstuntauglich gelten.

«In unseren Herzen haben wir die Ukraine nie verlassen»

Als Vater von drei Kindern war Taras selbst vom Kriegsrecht ausgenommen, das unmittelbar nach der russischen Invasion im Februar 2022 zur Mobilisierung ziviler Männer eingeführt wurde. Ihm wurde erlaubt, die Ukraine zu verlassen.

Bevor er die Ukraine verliess, erlebte Taras, wie sich Zivilisten bereitwillig meldeten, um ihr Land zu verteidigen. Doch die steigenden Verluste und langen Einsatzzeiten an der Front und der Mangel an Ausrüstung, Waffen, Munition und Ausbildung haben seitdem viele abgeschreckt.

Diese Männer, so Taras, leben in Angst vor Mobilisierungstrupps, die auf den Strassen der Ukraine männliche Bürger ansprechen und Vorladungen verteilen.

Verletzte ukrainische Soldaten in einem Lazarett
Hohe Verluste: Der Krieg setzt der ukrainischen Armee zu. Copyright 2020 The Associated Press. All Rights Reserved

Im Februar gab Selenski an, dass 31’000 ukrainische Soldaten in den Kämpfen gefallen seien. Beobachter:innen glauben, dass die wahre Zahl viel höher ist, aber aus Gründen der öffentlichen Moral heruntergespielt wird.

Während das Land mit der Rekrutierung im eigenen Land kämpft, werden die Männer im Ausland durch das neue Mobilisierungsgesetz unter Druck gesetzt. In diesem Frühjahr wurden die ukrainischen Konsulardienste in ganz Europa vier Wochen lang ausgesetzt – offiziell, damit die Verwaltung die Umsetzung des neuen Gesetzes vorbereiten konnte.

Aussenminister Dmytro Kuleba machte jedoch kein Hehl aus den Hintergedanken dieser Massnahme. «Ein Mann im wehrpflichtigen Alter ist ins Ausland gegangen, hat seinem Staat gezeigt, dass er sich nicht um sein Überleben kümmert, und will dann […] Dienstleistungen von diesem Staat erhalten», schriebExterner Link Kuleba in den sozialen Medien. «So geht das nicht. Unser Land befindet sich im Krieg.»

Der Ton wird rauher

Nun fallen in der Heimat und in Europa Begriffe wie «Verräter» und «Wehrdienstverweigerer».

«Wir sind keine ‹Wehrdienstverweigerer› – wir sind Einwanderer, die Schutz suchen», entgegnet Taras. «Jeder Ukrainer, den ich in der Schweiz kenne, ist ein Patriot. In unseren Herzen haben wir die Ukraine nie verlassen.» Das Heimatland zu verteidigen, beginnt seiner Meinung nach mit dem Schutz der eigenen Familie.

Taras zahlt weiterhin Steuern in der Ukraine, die zur Finanzierung der Streitkräfte beitragen. Die Verteidigung des Landes sei die Aufgabe dieser Armee und nicht die der «kleinen Leute», argumentiert er. «Welchen Nutzen habe ich für mein Land, für meine Kinder, wenn ich [in diesem Krieg] sterbe?»

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Repatriierung von ukrainischen Männern eine «undurchführbare» Idee

Auf Schmids Frage, ob ukrainische Männer im wehrfähigen Alter schutzbedürftig seien, antwortete die Regierung in Bern mit dem Hinweis auf die Kriterien, die in ihrem Dekret über den Status S für Ukrainer vom März 2022 festgelegt sind. «Ob sie in der Ukraine Militärdienst leisten müssen, ist nicht relevant», hiess es.

Um wehrpflichtige Männer vom Schutz auszuschliessen, müsste die Regierung das Dekret ändern, so das SEM. Die Regierung hat aber auch gesagt, dass sie Änderungen nur in Absprache mit der EU vornehmen werde.

Die Schweiz und die EU haben den vorübergehenden Schutz für Ukrainerinnen und Ukrainer bis März 2025 verlängert, und beide müssen in den kommenden Monaten entscheiden, was danach geschieht.

In der EU leben rund zwei Millionen Ukrainer:innen mit vorübergehendem Schutz. Laut EurostatExterner Link machen erwachsene Männer nur etwas mehr als ein Fünftel dieser Gruppe aus.

Widmer von der SP hält eine Rückführung der ukrainischen Männer für «nicht praktikabel».

Der Schutzstatus kann nur bei klaren Verstössen entzogen werden

 Das SEM sagt, es sei derzeit nicht in der Lage, einer ganzen Gruppe von Personen den Status S zu entziehen. Nur bei einzelnen Verstössen gegen die Kriterien, etwa bei der Begehung einer Straftat, sei ein Entzug und eine Ausschaffung möglich. Die Verweigerung des Militärdienstes im Heimatland ist nach dem Asylgesetz kein Grund, den Schutzstatus zu entziehen.

Selbst wenn die Ukraine die jetzt im Ausland lebenden Männer mobilisieren würde, wäre sie laut Petro gegenüber Russland, das über mehr wirtschaftliche und militärische Ressourcen verfügt, zahlenmässig im Nachteil. Er und Taras glauben, dass die beste Lösung darin besteht, den Frieden auszuhandeln und Leben zu retten.

Bis dahin sollte das Schicksal der ukrainischen Männer völlig neu überdacht werden, meint Taras.

«Sie sagenExterner Link, dass 11’000 Männer in der Schweiz in die ukrainische Armee eingezogen werden könnten», sagt er. «Wie wäre es mit: ‹Wir haben 11’000 Männer vor dem sicheren Tod bewahrt und wir haben 11’000 Frauen davor bewahrt, Witwen zu werden›? Das ist es, was wir sagen sollten.»

*Pseudonym

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Giannis Mavris

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