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Ist die Schweiz noch neutral? Nein, sagen diese Russland-Fans

Sergei Garmonin, Remko Leimbach, Jean Daniel Ruch, Peter Hänseler
Kein "Mainstream-Event": Der russische Botschafter Sergei Garmonin, Moderator Remko Leimbach, Diplomat Jean Daniel Ruch, Blogger Peter Hänseler. swissinfo.ch

Die Schweiz habe ihre Neutralität aufgegeben, lautet die offizielle Haltung Russlands. Einige in der Schweiz glauben das auch. Ein Besuch bei einem "Dinner mit Input".

«Darf man versuchen, Russland zu verstehen?» So ist der Anlass angekündigt, mit Diskussionen, kulinarischen und musikalischen Highlights.

Zum Hauptgang wird Rindfleisch-Stroganoff mit Kartoffelstampf gereicht. Der russische Name dieser Speise rührt der Legende nach von der Kaufmannsfamilie Stroganow her, die im 16. Jahrhundert für den Zaren Sibirien kolonisierte.

Es soll um Russland, die Schweiz und die Neutralität gehen. Unter dem Patronat von «Aufrecht Zürich», einer Gruppierung, die sich während der Pandemie aus massnahmenkritischen Personen formierte, sind 300 zahlende Gäste nach Kloten gekommen.

«Russland ist böse. Die Ukraine verteidigt unsere Demokratie. Und die Erde ist eine Scheibe.» Mit diesen Worten leitet Gastgeber Remko Leimbach ein, heimst Applaus und heiteres Gelächter ein und setzt den Ton für den Abend. Man verstehe sich als ein «anti-Mainstream-Veranstalter», sagt er.

In diesem Veranstaltungsformat sind in der Vergangenheit Leute wie der Schweizer Buchautor Daniele Ganser, der deutsche Ex-Geheimdienstchef Hans-Georg Massen und der Youtube-Kanalbetreiber Ken Jebsen aufgetreten – sie alle sind im deutschsprachigen Raum als Grössen in den Kreisen der Verschwörungstheoretiker bekannt.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Giannis Mavris

Welche Zukunft hat das Schweizer Neutralitätsmodell?

Kann es in Zeiten der Blockbildung und des geopolitischen Antagonismus überhaupt einen neutralen Weg geben?

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Stehende Ovationen für den Botschafter

Drei Referenten sind angekündigt, zwei davon haben eindeutig die Sympathien des Publikums auf ihrer Seite. Das erste Referat hält Peter Hänseler, ein Schweizer Unternehmer, der in Moskau lebt und einen Blog betreibt.

Seine Sicht der Dinge lässt sich folgendermassen zusammenfassen: Russland wird nicht respektiert; hinter dem Krieg in der Ukraine stecken in Wirklichkeit die USA; Europa hat bloss eine Statistenrolle.

In einem wilden Ritt durch die Geschichte leitet Hänseler mit historischen Versatzstücken her, wie es zur heutigen Situation kam und weshalb der Untergang des Westens mit dem kommenden Aufstieg der BRICS-Staaten zwingend sei. Die Witze sitzen, auf dem Tisch die Häppchen, seine Worte stossen auf Enthusiasmus. Gute Stimmung im Saal.

Als Stargast des Abends ist der russische Botschafter in der Schweiz, Sergei Garmonin, aufgeboten worden. Mit weniger Unterhaltungswert, aber mit umso mehr Ehrfurcht vonseiten des Publikums legt er die offizielle Haltung Russlands dar: Das «Kiewer Nazi-Regime» habe in den beiden sogenannten Volksrepubliken Donbass und Lugansk die Bevölkerung terrorisiert, worauf Russland «keine Wahl hatte», als zur Befreiung der Territorien einzumarschieren.

Die westliche Öffentlichkeit sei leider nicht aufgeklärt, da die Medien dies absichtlich ausblenden würden – die Medienschelte erhält einen Zwischenapplaus. Die Medien, immer wieder an diesem Abend: Man kann ihnen nicht trauen, das ist hier Konsens.

Mit einigem Sarkasmus kommentiert Garmonin die theoretischen Gedankenspiele, Russland würde nach der Ukraine weiter Richtung Westen marschieren. Die Schweiz insbesondere müsse keine Angst vor Russland haben – immerhin seien seit zwei Jahrhunderten keine russischen Soldaten mehr in der Schweiz einmarschiert (das war 1799 unter General Suworow).

Sein Referat wird herzlich beklatscht, ein Grossteil der Anwesenden erhebt sich von den Sitzen, bis der Botschafter von der Bühne tritt.

Ein Poster für die Neutralitätsinitiative neben einem Mülleimer
Sehnsucht nach wahrer Neutralität: Ein Poster für die Neutralitätsinitiative der SVP. sw

Die Realität ist nicht eine Frage der Interpretation

Für ein Stimmungstief hat zuvor der Vertreter der offiziellen Schweiz gesorgt, Jean Daniel Ruch, bis vor kurzem noch Botschafter in der Türkei. Im Vorfeld der Veranstaltung weckte sein Auftritt die mediale AufmerksamkeitExterner Link, denn vor einigen Monaten wurde er als Staatssekretär für Sicherheitspolitik im Verteidigungsdepartement gehandelt.

Aufgrund seines Lebenswandels, so wurde kolportiert, trat er den strategisch wichtigen Prestige-Job jedoch nicht an, er wird bald auch gänzlich aus dem diplomatischen Dienst ausscheiden.

Man war nun gespannt, welcher Haltung sich Ruch also verpflichtet fühlte: Ist des jene der Schweiz, für die er lange diente? Oder ist es eine abweichende, eine alternative?

Das klärt sich schnell, der Schweizer Diplomat begibt sich nicht auf Glatteis. Er unterstreicht, dass die Schweiz weltweit weiterhin als neutraler Staat anerkannt werde – zum Missfallen einer lauten Mehrheit im Saal, die das mit höhnischem Gelächter und einigen Buh-Rufen quittiert.

Mit ähnlicher Skepsis werden seine Ausführungen zum NeutralitätsrechtExterner Link (die Schweiz beteiligt sich nicht an Kriegen) und der Neutralitätspolitik (als ein aussenpolitisches Konzept) aufgenommen.

In diesem Saal dominierte die russische Sichtweise. Ruch sorgt immerhin für etwas Heiterkeit mit seiner Bemerkung, dass die hier Anwesenden in der Schweiz offenbar nicht in der Mehrheit sind. Damit ist man eindeutig einverstanden.

Die Entlarvung kommt zum Schluss

Welche gedanklichen Volten das Publikum zu akzeptieren bereit ist, zeigt eine Analogie des russischen Botschafters. Er will mit einem fiktiven Beispiel das russische Vorgehen in der Ukraine erklären:

Man stelle sich vor, im Tessin gebe es eine Partei namens Fratelli del Ticino (eine Anspielung auf die rechtsradikale Fratelli d’Italia), die das Ergebnis der schweizerischen Parlamentswahlen nicht anerkenne. Sie marschiere nach Bern und campiere vor dem Bundeshaus (eine Anspielung auf die Maidan-Proteste).

Dort werde nach einem Putsch, das mit Garantien von ausländischen Mächten wie Deutschland und Frankreich unterstützt werde, ein faschistisches Regime eingesetzt, welches wiederum Deutsch und Französisch als offizielle Landessprachen verbieten würde.

Die Analogie erhält vom fast ausschliesslich deutschsprachigen Publikum zustimmendes Lachen. Eine Pointe ist allerdings nicht zu verorten; Hauptsache es kommen «Faschisten» und «ausländische Mächte» vor.

Flyer von "Aufrecht Schweiz"
Die Gruppierung «Aufrecht» wurde während der Pandemie von Massnahmenkritiker:innen gegründet. Für sie geht der Kampf weiter. swissinfo.ch

Entlarvend für den Abend ist ein Votum des Bloggers Hänseler, der die Unterschiede zwischen der Schweiz und Russland herausstreichen will: «Die Russen funktionieren anders», versucht er den Mangel an Demokratie in seiner Wahlheimat zu deuten. Und: «Dieses System muss autoritär sein», denn anders sei ein solch grosses Land gar nicht zu regieren.

Er sagt das in einem Saal voller Menschen, die sich nach eigenem Verständnis gegen autoritäre Tendenzen in der Schweiz auflehnen. Niemand scheint darin den Widerspruch zu sehen. Darf man versuchen, das zu verstehen?

Editiert von Balz Rigendinger

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