Lucio Caracciolo: «Die Schweiz wird unterschätzt»
Die langjährige Erfahrung in der Diplomatie, ihre neutrale Position und ihre wirtschaftliche Stärke machen die Schweiz zu einem wichtigen Land in der geopolitischen Weltordnung – dennoch werde ihr Machtstatus oft übersehen und unterschätzt: Das sagt Lucio Caracciolo, Direktor der italienischen Zeitschrift Limes, die eine der Schweiz gewidmete Ausgabe veröffentlicht hat.
Im Herzen Europas liegt ein kleines Land, das seine komplizierte geografische Lage zu seiner grössten Stärke gemacht hat.
Die Schweiz hat einen langen Weg zurückgelegt: Vom neutralen Pufferstaat, den die europäischen Imperien nach dem Sturz Napoleons 1814 dringend brauchten, um die Region zu stabilisieren, bis hin zu einer florierenden Wirtschaft, bekannt für die Stabilität ihrer Institutionen.
Doch obwohl sie nach wie vor eine wichtige Rolle in der geopolitischen Weltordnung spielt, wird die Schweiz oft als ein isoliertes Land betrachtet, einzigartig in seinen Charakteristika: Es will in Europa sein, ohne der Europäischen Union anzugehören, und es will den Ausgang des Kriegs in der Ukraine beeinflussen, ohne der Nato beizutreten.
Kurz: Die Schweiz ist eine unterschätzte Macht. «Wir unterschätzen die Schweiz, weil wir sie für selbstverständlich halten. Dabei ist sie eines der wichtigsten Länder der Welt», sagt Lucio Caracciolo, Herausgeber der italienischen geopolitischen Zeitschrift LimesExterner Link.
Caracciolo präsentierte am 19. Februar in Bern die aktuelle, der Schweiz gewidmete Ausgabe mit dem bezeichnenden Titel «Die Schweiz, die verborgene Macht»Externer Link.
Wir sprachen mit ihm, um herauszufinden, warum die Eidgenossenschaft seiner Meinung nach ein Schlüsselland ist. Nicht nur für Italien und Europa, sondern für die ganze Welt.
SWI swissinfo.ch: Sie sagen, die Schweiz sei eines der wichtigsten Länder der Welt für die hohe Kunst der Diplomatie. Genügt das, um sie als «verborgene Macht» zu bezeichnen?
Lucio Caracciolo: Die Schweiz hat in der Geschichte immer eine sehr wichtige Vermittlerrolle gespielt.
Neben dem Aspekt der Gewaltbegrenzung war die Schweiz zum Beispiel eines der treibenden Länder bei der Gründung der Helsinki-Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa [KSZE, die von 1973 bis 1975 in Helsinki und Genf stattfand, Anm. d. Red.]. Diese Konferenz leitete die Öffnung des sowjetischen Systems ein.
Noch heute, während des Kriegs in der Ukraine, führen die russische und die ukrainische Seite Geheimverhandlungen in der SchweizExterner Link. Kurz: Die Schweiz ist begehrt und damit eine Macht in diesem Bereich.
Wenn wir dann die quantitativen Daten der Schweizer Industrie nehmen, wird die Macht der Schweiz noch deutlicher.
Und dann ist da noch die technologische Macht, die ausgezeichneten Institute wie die Eidgenössischen Technischen Hochschulen. Es ist kein Zufall, dass die besten deutschen, italienischen und französischen Forschenden in die Schweiz kommen, um hier zu arbeiten.
Natürlich, weil sie hier doppelt so gut bezahlt werden. Aber auch, weil sie ihre Forschung in effizienten Strukturen durchführen können.
Ganz zu schweigen von der Fähigkeit der Schweiz, einen beeindruckenden Anteil an Ausländerinnen und Ausländern aufzunehmen [rund 26% der Bevölkerung im Jahr 2022, Anm. d. Red.].
Glauben Sie nicht, dass die Abwesenheit der Schweiz an den entscheidenden Diskussionstischen der Europäischen Union und der Nato eine Schwäche dieser Macht darstellt?
Ich würde sagen, Nein: In dem Sinn, dass dies nicht unbedingt die entscheidenden Tische sind. Vielmehr sind es oft jene Gespräche, welche die Schweiz – nicht immer sichtbar – für diejenigen organisiert, die Probleme wie zum Beispiel einen Krieg zu lösen haben. Hier zeigt sich die «verborgene» Seite der Schweizer Macht.
Auch wenn die Schweiz einen Beitritt zur EU und zur Nato stets abgelehnt hat, bedeutet dies nicht, dass sie nicht Bereiche der Zusammenarbeit mit beiden finden möchte.
In jüngster Zeit hat die Schweiz beispielsweise einen Durchbruch erzielt, indem sie die europäischen Sanktionen gegen Russland umgesetzt oder zumindest mitgetragen hat.
Andererseits wissen wir, dass die Schweiz auch während des Kalten Kriegs formell neutral blieb, sich aber im Kriegsfall auf die Seite der Nato gestellt hätte. Man muss also ein wenig hinter die Abkürzungen schauen.
Und vielleicht haben die Schweizerinnen und Schweizer erkannt, dass die EU und die Nato nicht mehr genügend attraktiv sind, um etwas aus ihnen herausholen zu können, was sie nicht schon haben. Während ausserhalb davon ihre Vielfalt, ihre Besonderheit deutlicher spürbar ist.
Welche Rolle kann die Schweiz in diesem sehr heiklen geopolitischen Moment spielen, der durch zwei Kriege – in der Ukraine und im Nahen Osten – gekennzeichnet ist, welche die Weltmächte stark in Anspruch nehmen? Die Vermittlung verlagert sich doch in Richtung Türkei und arabische Halbinsel?
Ich glaube, dass die Schweiz immer noch eine grosse Vermittlungskapazität hat, vor allem, weil sie in der Lage ist, Probleme zu lösen und auf jeden Fall eine Vermittlerin ist.
Und das, obwohl Russland durch Sergei Lawrow [den russischen Aussenminister, Anm. d. Red.] offiziell sagt, die Schweiz sei kein neutrales Land mehr.
In Wirklichkeit scheint der Kreml die Schweiz zumindest für nützlich zu halten, denn er nutzt sie auch für die Verhandlungen mit der Ukraine.
Die Schweiz wird auch Gastgeberin einer ersten Runde von Friedensverhandlungen sein, wenn auch eher einseitiger Natur, weil die Ukraine dabei sein wird, Russland aber nicht.
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Mit dem Krieg in der Ukraine und den von der Schweiz beschlossenen Sanktionen gegen Russland scheint sich das Verständnis der Schweizer Neutralität zu verändern. Wohin wird sich die Schweizer Neutralität entwickeln?
Die Neutralität ist kein Kodex, sie ist fast ein Gefühl, eine Seins- und Handlungsweise, die von aussen eher anerkannt als von innen bestätigt wird.
In der Tat ist sie kein Ziel an sich, das in der Schweizer Verfassung verankert ist. Sie ist vielmehr Teil von etwas, das wichtiger ist als die Verfassung, nämlich des schweizerischen Identitätsgefühls. Dies erklärt die mangelnde Bereitschaft der Schweizerinnen und Schweizer, dieses Tabu in Frage zu stellen. Denn es ist ein Tabu.
Und hier wird die verborgene Seite der Schweizer Macht noch besser verstanden: Neutral zu sein erlaubt es, an allen Fronten etwas mehr Deckung zu haben.
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Aber die Schweiz scheint voller Widersprüche zu sein: Einerseits ist es ihr gelungen, alle sprachlichen, kulturellen und religiösen Unterschiede zu integrieren und eine Nation zu schaffen. Andererseits ist sie ein Land, in dem die stimmenstärkste Partei den Isolationismus und den Kampf gegen Einwanderung auf ihre Fahnen geschrieben hat. Wie interpretieren Sie das alles?
Die politischen Parteien in der Schweiz sind nicht so, wie wir sie in Italien und in den meisten anderen Ländern verstehen. Das heisst, sie sind keine entscheidenden Faktoren in einem System, das auf Konsens und Verträgen basiert. Denn es beruht auf einer Art permanenter Verhandlung.
Die Probleme werden an der Basis [durch Eidgenössische VolksabstimmungenExterner Link, Anm. d. Red.] angegangen. Und dann werden sie auf oft sehr pragmatische und uneinheitliche Weise durch Verhandlungen zwischen Interessengruppen gelöst, die sich gegenseitig als solche anerkennen. Auch wenn sie sehr unterschiedliche Vorstellungen haben.
Es gibt also eine gewisse Homogenität unter den Schweizer Eliten, die es ihnen ermöglicht, ideologischen Zwängen zu widerstehen.
Sie haben gesagt, die Schweiz sei das Land der Verwaltung, Italien das Land der Politik. Doch so unterschiedlich die beiden Nachbarn auch sind, sie verbindet eine sprachliche und kulturelle Verwandtschaft. Sollten sie ihre Beziehungen vertiefen?
Es gibt noch viel zu tun, um die Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien zu verbessern. Trotz der Tatsache, dass in der Schweiz rund eine Million italienischer, italienischsprachiger und italophiler Personen leben, fehlen noch einige grundlegende Elemente.
So sind beispielsweise die infrastrukturellen Verbindungen im Vergleich zum Potenzial bescheiden. Und die gegenseitigen Investitionen, besonders die schweizerischen in Italien, sind zwar bedeutend, könnten aber in wirtschaftlicher Hinsicht noch verstärkt werden.
Zudem bleiben die italienisch-schweizerischen Beziehungen allzu oft zwischen dem Tessin und der Lombardei stecken. Jenem Paar, das man manchmal liebt, manchmal hasst – und vielleicht mehr hasst als liebt. Das droht die Beziehungen zwischen Bern und Rom zu beeinträchtigen.
Editiert von Daniele Mariani, Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub
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