Magnitski-Affäre: Die Schweiz und die verdächtigen Millionen aus Russland
Eine exklusive Recherche von SWI swissinfo.ch zeigt, wie es die Schweiz versäumt hat, mutmasslichem Schwarzgeld in Millionenhöhe aus einem Steuerbetrug in Russland nachzugehen.
1. Prolog
Im Jahr 2020 enthüllte eine viel beachtete Recherche der unabhängigen russischen Zeitung Novaya GazetaExterner Link, dass «Schweizer Staatsangehörige nach Russland flogen, um Bären und ‹russische Schweine› zu jagen und im Gegenzug versuchten, die Ermittlungen zum Mord an Sergej Magnitski zu behindern». Sergei Magnitski war ein russischer Anwalt, der 2009 unter verdächtigen Umständen im Gefängnis starb, als er in einem grossen Betrugsfall gegen das russische Finanzministerium ermittelte.
Eine der Schlüsselfiguren in dieser Untersuchung war Vinzenz Schnell, der offiziell bei der Schweizer Bundespolizei angestellt war, aber eigentlich für die Generalstaatsanwaltschaft an Fällen mit Russlandbezug arbeitete. Die Recherche der Novaya Gazeta deckte seine Treffen mit russischen Beamten in gehobenen Schweizer Restaurants sowie zahlreiche luxuriöse Reisen nach Russland auf.
Schnell sagte, sein Management habe darauf bestanden, dass diese informellen Treffen notwendig seien, um Informationen für die «besonders wichtigen» Ermittlungen der Schweiz im Zusammenhang mit Russland zu sammeln.
Zu Schnells Aufgabenbereich gehörte die Untersuchung von Geldwäsche aus Russland in der Schweiz. Er überwachte die Schweizer Seite dessen, was heute als » Magnitski-Fall» bekannt ist.
Im Jahr 2016 wurde Andreas Gross, ein ehemaliger sozialdemokratischer Parlamentarier, der 2013-2014 für den Europarat einen Bericht über Magnitskis Tod verfasst hatte, von der Schweizer Staatsanwaltschaft zur Befragung vorgeladen. Gross ist eine der wenigen Personen, die für diese Untersuchung kontaktiert wurden und die unsere Bitte um ein Interview beantwortet haben.
Er wurde von Schnell einen ganzen Tag lang verhört. Das Ziel des Verhörs war es laut Gross, ihn und seinen Bericht zu diskreditieren.
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Schnell selbst stand 2019 wegen einer Reise nach Russland vor Gericht, bei der er persönlich profitiert haben soll. Schnell hielt damals fest, dass das Geldwäscheverfahren im Magnitski-Fall schon lange hätte eingestellt werden sollenExterner Link. Deshalb sei es notwendig gewesen, Gross’ Bericht zu «diskreditieren» und Gross zu «entlarven», so Schnell 2019 gegenüber dem Gericht.
«Mein bester Freund [der ehemalige Ständerat und Staatsanwalt] Dick Marty sagte mir, dass ich nicht verpflichtet sei, zu Schnells Befragung zu erscheinen», hält Gross gegenüber SWI swissinfo.ch fest. «Ich fand aber, dass wir gemeinsam die Wahrheit ans Licht bringen könnten, also erklärte ich mich einverstanden.»
2021 wurde das Schweizer Kapitel der Magnitski-Affäre, eines russischen Korruptionsskandals, mit einer Einstellungsverfügung der Bundesanwaltschaft abgeschlossen. DarinExterner Link wurde festgehalten, dass kein erhärteter Tatverdacht vorliege, der eine Anklage in der Schweiz rechtfertigen würdeExterner Link.
Im Rahmen der Ermittlungen hatte die Schweizer Bundesanwaltschaft 18 Millionen Franken auf Schweizer Bankkonten eingefroren, die drei russischen Staatsangehörigen gehörten: Vladlen Stepanov, Ehemann von Olga Stepanova, einer hochrangigen russischen Steuerbeamtin, Dmitry Klyuev und Denis Katsyv.
Sie sollen finanzielle Nutzniesser des Betrugs gewesen sein und dafür Geld auf ihre Schweizer Konten erhalten haben. Die Bundesanwaltschaft zog 4 Millionen Franken ein und überwies die restlichen 14 Millionen an die drei Russen zurück.
Die Bundesanwaltschaft rechtfertigte ihren Beschluss damit, es habe nur für einen Teil der eingezogenen Gelder ein Zusammenhang zwischen der Schweiz und den in Russland verübten Straftaten hergestellt werden können.
Die Ermittlungen im Fall Magnitski ergaben eine Summe von 230 Mio. US-Dollar, die aus der russischen Staatskasse abgezweigt wurden. Magnitski vertrat den damals bedeutendsten ausländischen Investmentfonds in Russland, Hermitage Capital Management.
Er deckte den Betrug auf, der von einem russischen Geschäftsmann eingefädelt worden war. Danach wurde Magnitski exakt von denjenigen russischen Beamten verhaftet, denen er den Betrug zur Last gelegt hatte.
Er verbrachte fast ein Jahr in Untersuchungshaft und starb 2009, nachdem er vom Gefängnispersonal verprügelt worden war.
Nach seinem Tod warfen die russischen Behörden Magnitski und Bill Browder, CEO und Gründer von Hermitage, Betrug und Steuerflucht vor, Anschuldigungen, die wenig plausibel erschienen.
Für seinen Kampf gegen Korruption erhielt Magnitski 2010 posthum den Integritätspreis von Transparency International. Im Januar 2014 verabschiedete der Europarat eine Resolution mit dem Titel «Keine Straffreiheit für die Mörder von Sergei Magnitski».
In der Folge wurden internationale Sanktionen gegen russische Beamte verhängt, die in Verdacht stehen, den Tod von Magnitski mitverursacht zu haben. Ebenso wurden Gesetze erlassen, um russische Staatsangehörige wegen Verstössen gegen Menschenrechte belangen zu können.
2012 wurde in den USA der nach Sergei Magnitski benannte «Magnitsky Act» verabschiedet. Er wurde später in der Europäischen Union, Grossbritannien, Kanada, Australien und anderen Ländern übernommen – nicht aber in der Schweiz.
Hermitage Capital, gemäss US-Justizministerium das Opfer des russischen SteuerbetrugsExterner Link, hat in allen Ländern, wo die veruntreuten Gelder gewaschen worden sein sollen, Verfahren angestrengt.
Die Schweizer Bundesanwaltschaft eröffnete im März 2011 als Reaktion auf die Klage eine Strafuntersuchung wegen Geldwäscherei. Hermitage Capital wurde als Privatklägerin zugelassen und beteiligte sich an den Ermittlungen, die zehn Jahre später eingestellt wurden.
Die Einstellungsverfügung der Bundesanwaltschaft führte weltweit zu Erstaunen unter Geldwäschereifachleuten, besonders weil die Schweiz nur gerade ein Viertel der eingefrorenen Gelder eingezogen und drei Viertel an drei russische Staatsbürger zurückbezahlt hatte.
Die Schweiz war das einzige Land, das die mutmasslich veruntreuten Gelder an Russland zurückbezahlt hat. Die Helsinki-Kommission in den USA, die zum Ziel hat, die Einhaltung von Menschenrechten und militärische Sicherheit in 57 Ländern zu fördern, forderte im Juni 2023, Michael Lauber, Patrick Lamon, den früheren Staatsanwalts, der für den Fall Magnitski in der Schweiz verantwortlich war, sowie Vinzenz Schnell zu sanktionieren.
Das Bundesamt für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und die Bundesanwaltschaft wiesen die Anschuldigungen der Helsinki-Kommission jedoch entschieden zurück. Ein abschliessendes Urteil durch ein US-Gericht steht noch aus.
SWI swissinfo.ch erhielt über eine Drittpartei Zugang zur Einstellungsverfügung der Bundesanwaltschaft und hat die schweizerischen und zypriotischen Gerichtsdokumente und Bankkonten im Zusammenhang mit dem Fall überprüft.
Wir werteten insgesamt über 400 Seiten Rechts- und Bankdokumente aus verschiedensten nationalen und internationalen Quellen aus. Daraus geht hervor, dass zusätzlich zu den ursprünglichen 18 Mio. Franken im Zentrum der Untersuchung wahrscheinlich weitere 10 Mio. US-Dollar im russischen Finanzministerium abgezweigt wurden und auf Schweizer Bankkonten zweier prominenter Russen landeten.
In beiden Fällen stehen die Banktransfers in Zusammenhang mit Dmitry Klyuev, der gemäss US-Behörden der Drahtzieher des Steuerbetrugs gewesen sein sollExterner Link. Damals war Klyuev Inhaber von sieben Firmenkonten und einem Privatkonto bei der UBS Schweiz. Die Firmenkonten wurden 2010–2011 geschlossen.
Diese Transfers, sowie sämtliche von Klyuevs Konten, waren aktenkundig – untersucht wurden sie von den Schweizer Behörden jedoch nie.
SWI swissinfo.ch hat die Herkunft dieser unbeachteten 10 Mio. US-Dollar unter die Lupe genommen und zeichnet nach, wie sie in die Schweiz gelangten und warum sie von der Schweizer Bundesanwaltschaft nie untersucht wurden. Das Geld gehörte dem russischen Senator Dmitry Savelyev und dem russischen Investmentbanker Igor Sagiryan.
Sämtliche in dieser Recherche genannten Beträge stehen so in den Originaldokumenten.
Journalist:innen von Novaya Gazeta, einem russischen Medienportal, und des OCCRP, eines internationalen Journalist:innenkonsortiums, haben das Vorgehen beim Steuerbetrug in der Magnitski-Affäre ausführlich nachgezeichnet.
Russische Polizeibeamt:innen hatten Dokumente und Firmenstempel der russischen Tochtergesellschaften des Hermitage Fund, einer britischen Investment-Firma, beschlagnahmt und so Firmen auf einen anderen Besitzer überschrieben.
Anschliessend machten verschiedene Briefkastenfirmen, die von den gleichen Personen gegründet worden waren, Scheinforderungen gegen die illegal gekaperten «Tochtergesellschaften» des Hermitage Fund geltend.
Damit waren sie gleichzeitig Kläger und Beklagte und brachten die russischen Schiedsgerichte so dazu, ein Urteil zu fällen, das zu einem massiven Buchverlust führte, wodurch die Firmen rückwirkend gar keinen Gewinn erwirtschaftet hatten.
Damit hatten die Täter einen Beleg dafür, dass die Firmen gar nichts hätten versteuern müssen, und reichten deshalb offiziell Steuerrückforderungen in Höhe von 230 Mio. US-Dollar ein, die der russischen Staatskasse zuvor als Einkommenssteuer überwiesen worden waren. Das auf diesem Weg ertrogene Geld wurde dann ausser Landes gebracht und auf diverse Offshore-Konten verteilt.
2. Eine diskreditierte Schweizer Untersuchung
Die vom russischen Fiskus abgezweigten 230 Mio. US-Dollar verteilten sich über ein komplexes Netz an Briefkastenfirmen und Bankkonten in verschiedenen europäischen Ländern mit zweifelhaften Rechtssystemen.
Von diesen 230 Mio. US-Dollar wurden zwischen 2011 und 2013 insgesamt 18 Mio Franken auf Schweizer Konten der Credit Suisse und der UBS eingefroren. Fast die Hälfte dieses Betrags – 8 Mio. Franken bei der Credit Suisse – gehörten Vladlen Stepanov, dessen damalige Ehefrau Olga Stepanowa Moskaus leitende Steuerbeamtin war. Sie hat auch den grössten Teil der betrügerischen Steuerrückvergütungen 2007 genehmigt.
Der Rest des eingezogenen Geldes gehörte zwei anderen russischen Staatsbürgern, Denis Katsyv (8,2 Mio. US-Dollar bei der UBS und der Edmond de Rothschild Bank in der Schweiz) und Dmitry Klyuev (37’000 US-Dollar bei der UBS).
Verschleierung über Verschleierung
Geldwäscherei ist ein mehrstufiger Prozess, der in drei Phasen abläuft: Die erste Phase wird als «Platzierungsphase» bezeichnet. Hierbei wird das inkriminierte Geld erstmals ins Finanzsystem einschliesslich Banken, die Börse und Versicherungsfirmen eingebracht.
Als zweites folgt die so genannte «Verschleierungsphase», in der das Geld zwischen verschiedenen Konten von Briefkastenfirmen verschoben wird, um seine Herkunft zu verschleiern.
Die dritte und letzte Phase heisst «Integrationsphase». Dabei wird das Geld dann auf einem Bankkonto geparkt oder investiert, beispielsweise in Immobilien.
Das von der russischen Staatskasse abgezweigte Geld durchlief mindestens vier oder fünf Verschleierungsstationen, bis es an sein endgültiges Ziel in der Schweiz oder anderswo gelangte.
Eine derartige Verschleierungstaktik macht es Behörden extrem schwer, Geldwäscherei aufzudecken. Ob eine Untersuchung erfolgreich ist, hängt deshalb massgeblich von der Zusammenarbeit zwischen den Behörden der involvierten Länder ab.
Bisweilen vermischt sich gewaschenes Geld auch mit sauberem Geld, womit es für die Behörden noch schwieriger wird, die Herkunft des inkriminierten Geldes zu klären.
Damit in der Schweiz der Tatbestand der Geldwäscherei erfüllt ist, muss die Bundesanwaltschaft nachweisen, dass erstens der Geldwäscherei eine Vortat (ein Straf- oder Steuerdelikt) vorausgegangen ist, zweitens, dass das Geld aus diesem Delikt zurückgeholt werden könnte, drittens, dass die Täterin oder der Täter international eine Handlung mit dem Ziel vollzogen hat, die Rücknahme des Geldes zu vereiteln und viertens, dass diese oder dieser wusste oder hätte wissen müssen, dass das Geld aus einem Straf- oder Steuerdelikt stammt.
In der Einstellungsverfügung zur Magnitski-Affäre begründet die Bundesanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens damit, dass «keine Beweise zutage gefördert werden konnten, die eine Anklage in der Schweiz rechtfertigen würden», dass aber «ein Zusammenhang zwischen einem Teil der in der Schweiz beschlagnahmten Vermögenswerte und der in Russland begangenen Straftat nachgewiesen werden konnte».
Auf Grundlage der «Methode der proportionalen Berechnung» können laut Bundesanwaltschaft 4 Mio. Franken der eingefrorenen Gelder eingezogen werden, während der Rest nicht zum russischen Budget zurückverfolgt werden konnte.
Mit anderen Worten: Die Bundesanwaltschaft hat den Betrag der mit jeder Verschleierungsstufe noch mehr verwässerten Gelder einfach geschätzt und so berechnet, welche Summe letztlich eingezogen wurde.
Diese Berechnungsmethode ist verschiedenen Fachpersonen zufolge fragwürdig.
«Wenn diese Angaben der Bundesanwaltschaft stimmen, wären wir [die Schweiz] das Geldwäschereiparadies schlechthin. Und vielleicht sind wir das ja auch», sagt Mark Pieth, ehemaliges Mitglied der G7-Geldwäscherei-Taskforce FATF und ehemaliger Leiter der Sektion Wirtschaftsstrafrecht beim Bundesamt für Justiz.
Und er ergänzt: «Falls es Hinweise gibt, dass dieses Geld illegalen Ursprungs ist, muss es eingefroren werden.»
In der Einstellungsverfügung wird Hermitage Capital auch der Status als Privatklägerin entzogen, womit Hermitage das Urteil nicht mehr anfechten kann. Damit hat Hermitage keine rechtliche Handhabe, gegen die Rückführung eines Grossteils des Geldes an die drei Russen vorzugehen.
Die Bundesanwaltschaft kommt somit zum Schluss, die einzige durch den Betrug in Russland geschädigte Partei sei das russische Steueramt. Während diese Einschätzung exakt der Darstellung der russischen Behörden entspricht, widerspricht sie diametral der Einschätzung des US-Justizministeriums.
Hermitage Capital hat vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona Berufung eingelegt, wurde jedoch abgewiesen. Im Dezember 2022 gelangte Hermitage deshalb ans Bundesgericht, dessen Urteil noch aussteht.
Ein kontroverses Urteil
Die Einstellungsverfügung der Bundesanwaltschaft führte zu breiter Kritik, sowohl für den Entscheid, die eingefrorenen Gelder wieder zurück nach Russland zu überweisen, als auch dafür, dass der Status von Hermitage Capital als Privatklägerin aufgehoben wurde.
Die Behörden in den USA, Kanada und Grossbritannien kamen zum gegenteiligen Schluss und erliessen Sanktionen gegen die Stepanovs und gegen Klyuev.
«Illegale Gelder müssen eingezogen werden, ob das Opfer nun der russische Staat ist oder Hermitage», sagt Pieth. «In beiden Fällen hätte die Bundesanwaltschaft die Pflicht gehabt, die Gelder zu blockieren und zu beschlagnahmen. Der frühere Bundesanwalt hatte eine ziemlich gute Beziehung zum russischen Generalstaatsanwalt. Sie sind mit dem Fall nicht angemessen umgegangen», ist Pieth überzeugt.
Über die engen Verbindungen des früheren Bundesanwalts Michael Lauber mit russischen Beamten wurde in Schweizer und internationalen Medien ausführlich berichtet, unter anderem über ausschweifende Diners, Jagdausflüge, von den russischen Behörden bezahlte Flüge mit Privatjets und das Verharmlosen von Geldwäscherei durch russische Beamte.
Lauber, unter dessen Leitung die Magnitski-Affäre neun Jahre lang untersucht worden war, trat 2020 zurück, nachdem das Schweizer Parlament zum ersten Mal überhaupt ein Amtsenthebungsverfahren gegen einen Bundesanwalt eingeleitet hatte.
Sein Nachfolger Patrick Lamon, dessen Verbindungen zu russischen Behörden ebenfalls bekannt waren, führte die Untersuchung bis März 2021 fort. Er wurde durch seine Stellvertreterin Diane Kohler abgelöst, die vier Monate nach Amtsübernahme den Fall zum Abschluss brachte.
Schnells Prozess 2017 zeigte, dass er aus seinen Verbindungen zu russischen Beamten persönlich Vorteile in Form von Jagdausflügen gezogen hatte, die von Oligarchen finanziert worden waren.
3. Neues Geld auf alten Konten
SWI swissinfo.ch hat die vollständige Einstellungsverfügung der Bundesanwaltschaft, öffentlich verfügbare Rechtsakten sowie Bankkorrespondenz im Zusammenhang mit den Ermittlungen der Bundesanwaltschaft ausgewertet.
Aus den Dokumenten geht hervor, dass die Bundesanwaltschaft weiteren 10 Mio. Franken auf Schweizer Bankkonten nicht nachgegangen ist, obwohl es für deren problematische Herkunft gemäss Fachleuten klare Hinweise gegeben hat.
Das Geld, das auf zwei Schweizer Banken – BSI LTD (Banca Svizzera Italiana, die 2017 mit EFG International fusioniert wurde) und Bordier & Cie – überwiesen wurde, konnte zwar Klyuev zugewiesen werden, wurde aber von der Bundesanwaltschaft nie untersucht.
Klyuev unterhielt mehrere Bankkonten bei der UBS, darunter zwei Firmenkonten und ein Privatkonto. Im Zusammenhang mit der Untersuchung im Fall Magnitski wurde zwischen 2008 und 2011 Geld von diesen Konten auf andere Konten in der Schweiz verschoben. Auch diese anderen Konten wurden von der Bundesanwaltschaft trotz früherer Anklagen gegen Klyuev in Russland nicht näher unter die Lupe genommen.
Die Verbindung zu Klyuev
Der mutmassliche Steuerbetrug in der Magnitski-Affäre war nicht Klyuevs erster Betrugsversuch. Er war bereits 2006 für den Versuch verurteilt worden, Aktien des grössten russischen Eisenerzunternehmens Mikhailovsky GOK in seinen Besitz zu bringenExterner Link. In der russischen Presse wird Klyuevs Name zudem mit verschiedenen mysteriösen Todesfällen und Mordversuchen in Verbindung gebracht.
Gemäss einer Untersuchung des US-Justizministeriums war Klyuev bereits 2006 an einem Betrug am russischen Steueramt in Höhe von 107 Mio. US-Dollar beteiligt. Dieser mutmassliche Diebstahl wurde vom russischen Staat jedoch nicht als Straftat taxiert und deshalb auch nicht untersucht.
Klyuev war damals Besitzer der Universal Savings Bank, einer kleinen Moskauer Bank, die ihm als Schaltzentrale für seine betrügerischen Aktivitäten diente.
2015 gab Klyuev gegenüber der Schweizer Staatsanwaltschaft an, dass er seine Bank 2006 aufgrund ihres «hoffnungslos beschädigten Rufs» für 1 Mio. US-Dollar an einen engen Bekannten verkauft habe, den russischen Geschäftsmann Semen Korobeinikov.
Korobeinikov konnte Klyuevs Aussage aber weder bestätigen noch dementieren: Er starb 2008 durch den Sturz aus dem Fenster einer Penthouse-Wohnung, die er in möglicher Kaufabsicht im Rohbau besichtigte. Eine Strafuntersuchung zu Korobeinikovs Tod wurde in Russland eingeleitet, später aber eingestellt.
Anlässlich der Eröffnung neuer Konten 2008 bei der UBS in Zürich behauptete Klyuev dann aber wieder, dass er weiterhin alleiniger Eigentümer der Universal Savings Bank sei, die beim Steuerbetrug über die 230 Mio. US-Dollar die Hauptbank war.
Gemäss den Dokumenten, die er der Bank einreichte, erwähnte er dabei weder Korobeinikov noch den Verkauf seiner Bank. Klyuev hat also seine Bank weiter für seine mutmasslich illegalen Finanzaktivitäten genutzt.
Die Einstellungsverfügung der Bundesanwaltschaft und Bankdokumente aus den Ermittlungen zeigen übereinstimmend, dass 14,5 Mio. US-Dollar aus dem russischen Steuerbetrug durch Klyuevs Bankkonten bei der UBS Schweiz geflossen sein dürften.
Aus Klyuevs Privatkonto und seinen Firmenkonten bei der UBS wurden insgesamt 4,9 Mio. US-Dollar auf ein Konto der Altem Invest Limited, BVI, bei der zypriotischen FBME Bank überwiesen. Ein Teil dieses Geldes wurde danach bei der gleichen Bank auf das Konto einer anderen Firma mit dem Namen Zibar Management Inc. transferiert.
Gemäss der Klage, die Hermitage Capital in Monaco eingereicht hat, erhielten die beiden Firmen von den 230 Mio. US-Dollar, um die das russische Steueramt betrogen worden war, insgesamt 30,4 Mio. US-Dollar.
Offizielle Dokumente, die FMBE den zypriotischen Behörden zur Verfügung gestellt hat und von SWI swissinfo.ch eingesehen werden konnten, belegen die Verbindung beider Firmenkonten zu Klyuev.
Ein Teil des Geldes verblieb zur Deckung von Klyuevs persönlichen Auslagen in der Schweiz. Für die Ausbildung seines Sohns an einer internationalen Privatschule in der Schweiz überwies er zwischen 2007 und 2010 insgesamt 218’000 Franken von seinem UBS-Konto auf die Banque Cantonale Vaudoise.
Nachdem Klyuevs Konto 2011 saldiert worden war, wurden die Rechnungen der Schule 2010 und 2011 vom Altem-Konto bei der FBME Bank in Zypern beglichen, 2012 dann vom Zibar-Konto bei der gleichen Bank.
Die Bankauszüge belegen zudem, dass Klyuev 2008 und 2009 Spitalrechnungen für seine Ex-Frau Olga Tamarkina von seinem Schweizer UBS-Konto beglich.
Aus der Einstellungsverfügung der Bundesanwaltschaft geht zweifelsfrei hervor, dass ihr diese Transaktionen bekannt waren. Gemäss Urteil können die Gelder von Russland über Moldawien, die Ukraine und Lettland zurückverfolgt werden, bevor sie Klyuevs Konten bei der UBS in Zürich gutgeschrieben wurden.
Die Schweizer Behörden haben ursprünglich 37’000 US-Dollar auf Klyuevs Konten eingefroren, fanden dann im Rahmen der Ermittlungen aber keine Anhaltspunkte, um die Gelder zu beschlagnahmen.
Alte Seilschaften
Im September 2019 wurden mindestens 2 Mio. US-Dollar von Klyuevs UBS-Konten auf ein anderes Geschäftskonto in der Schweiz transferiert. Dieses gehörte der Athina Corporation, die als Unternehmen in Panama registriert ist und bei Bordier & Cie, einer Schweizer Privatbank in Genf, ein Konto unterhält.
Wirtschaftlich Berechtigter dieses Kontos ist gemäss Untersuchungen der Bundesanwaltschaft der russische Investmentbanker Igor Sagiryan.
Sagiryan ist in der Magnitski-Affäre kein Unbekannter. Schon vor dem Steuerbetrug pflegte er geschäftliche Beziehungen zu Klyuev. Dieser erhielt 2002 ein Beratungsmandat für Sagiryans Bank, die Renaissance Capital Group, von der gemäss US-Justizministerium eine direkte Verbindung zum Steuerbetrug in Russland besteht.
2023 enthüllte eine Recherche unter der Leitung des Organized Crime and Corruption Reporting ProjectExterner Link (OCCRP − Projekt zur Erfassung und Veröffentlichung von organisierter Kriminalität und Korruption), einem internationalen Konsortium von Medienleuten, und Important Stories, einer russischen Website, die auf Investigativjournalismus spezialisiert ist, dass beide Geschäftsmänner Teile des veruntreuten Gelds in das zypriotische Luxus-Resort Cap St Georges investiert haben.
Sagiryan steht auch mit anderen Personen im Betrugsfall in Verbindung, unter anderem mit den Stepanovs. Eine interne Ermittlung von Hermitage CapitalExterner Link förderte zutage, dass die beiden Männer 2008 gemeinsam nach Dubai gereist waren.
SWI swissinfo.ch kontaktierte Sagiryan für eine Stellungnahme, er hat sich jedoch nicht dazu geäussert.
Man kennt sich…
In den Akten der Schweizer Bundesanwaltschaft findet sich noch ein weiterer Geldtransfer in die Schweiz: 2012 und 2013 tauchten insgesamt 8 Mio. US-Dollar auf zwei Firmenkonten des russischen Senators Dmitry Savelyev und seiner Frau Olga auf.
Die Konten der beiden Firmen Green Island Investors Corp, BVI, und Roy Finance SA lagen bei BSI LTD, heute EFG International, einer Schweizer Bank in Lugano. Die Überweisungen erfolgten direkt von Zibar Management Inc., einer von Klyuevs Firmen mit Konten bei der FBME Bank in Zypern.
In der Zwischenzeit wurde Savelyev in den USAExterner Link, GrossbritannienExterner Link, der EUExterner Link und der Schweiz aufgrund seiner Unterstützung der russischen Invasion in der Ukraine auf die Sanktionsliste gesetzt.
Es ist dies das erste Mal, dass Savelyevs Namen mit der Magnitski-Affäre in Zusammenhang gebracht wird. Er ist der ranghöchste Beamte, der mutmasslich in den Betrug verwickelt ist.
Savelyev ist in Russland eine bekannte Persönlichkeit: Von 1999 bis 2016 war er Abgeordneter der Duma, des russischen Unterhauses, seit 2016 ist er Repräsentant im Föderationsrat, dem russischen Oberhaus.
SWI swissinfo.ch ist einer möglichen Verbindung zwischen Klyuev und Savelyev auf die Spur gekommen. Beide waren in Afghanistan stationiert und dürften sich dort ziemlich sicher getroffen haben.
Savelyev wurde 1986 von der sowjetischen Armee eingezogen und zum Dienst nach Afghanistan entsandt. Zur gleichen Zeit diente Klyuev dort als Befehlshaber einer militärischen Aufklärungstruppe. Beide verfügen über militärische Auszeichnungen.
Journalisten innen und Journalisten von Important Stories, die zu den gleichen Quellen Zugang hatten wie SWI swissinfo.ch, haben Savelyev und seine Frau um ein Interview gebetenExterner Link. Bis zur Publikation dieser Recherche hat Savelyev nicht darauf reagiert.
Für Schweizer Banken besteht gemäss Geldwäschereigesetz (GwG) eine Meldepflicht, wenn der Verdacht besteht, dass Geldüberweisungen mit einer strafbaren Handlung in Zusammenhang stehen.
Obwohl Klyuev 2006 verurteilt wurde und dies öffentlich bekannt war, behielt er seine Bankbeziehung zur UBS Schweiz, sowohl unter seinem eigenen Namen als auch als wirtschaftlich Berechtigter verschiedener Firmen.
«Letztlich liegt es in der Verantwortung der Bank, mit welcher Kundschaft sie Geschäfte tätigt» sagt Ilya Shumanov, Leiter von Transparency Russia. «Uns sind mehrere Beispiele in der Schweiz bekannt, wo Politiker:innen und Beamt:innen bei Banken unbehelligt Konten unterhalten, obwohl sich bei der Herkunftsabklärung der Gelder Fragen stellen.»
In der Schweiz ist nicht vorgeschrieben, wie Kund:innen die Herkunft ihres Geldes zu belegen haben, die Banken verlangen teilweise unterschiedliche Dokumente.
Einigen reicht bereits die Selbstdeklaration durch die Kund:innen selbst, bei anderen müssen umfangreiche Dokumente eingereicht werden, die eine Rückverfolgung des Geldes über Jahrzehnte ermöglichen.
«Früher waren die Banken mit einer kurzen Internet-Recherche zu ihren Kund:innen zufrieden», sagt Carlo Lombardini, Rechtsprofessor an der Universität Lausanne. «Heute ist man da vorsichtiger. Was früher möglich war, dürfte heute nicht mehr durchgehen.»
SWI swissinfo.ch bat die UBS, EFG und Bordier &Cie um eine Stellungnahme, alle haben abgelehnt.
«Kein russischer Oligarch spaziert einfach so in eine Schweizer Bank» sagt Shumanov, der mit seinem Team von Transparency Russia im Exil arbeitet.
«Die Verbindung kommt immer über Anwältinnen oder Anwälte in der Schweiz zustande, über ausländische Briefkastenfirmen, Treuhänder:innen und Firmen, die Finanzgeschäfte und Steuerfragen in der Schweiz abwickeln. Dieses System gewährleistet, dass die Schweizer Banken ihre Compliance-Anforderungen formell einhalten, gleichzeitig erweckt es den Anschein, das Geld sei sauber.»
4. Unbeantwortete Fragen
In seiner 179-seitigen Einstellungsverfügung begründet die Bundesanwaltschaft ihren Entscheid, die beiden Überweisungen auf die Konten von Savelyev und Sagiryan sowie auf Klyuevs Konten in der Schweiz nicht zu untersuchen.
SWI swissinfo.ch legte die Verfügung verschiedenen Anwält:innen und Expert:innen vor. Sie bestätigen, dass das Dokument die Frage aufwirft, inwiefern die Schweiz überhaupt gewillt war, den Betrug aufzuklären, und verweisen auf mögliche Mängel in der Untersuchung durch die Bundesanwaltschaft.
«Anders als in der Bevölkerung wahrgenommen, ist die Staatsanwaltschaft in der Schweiz stark politisch geprägt, besonders die Bundesanwaltschaft. Die Öffentlichkeit geht davon aus, dass unsere Strafverfolgungsbehörden unabhängig und neutral handeln. Dies trifft jedoch nicht zu», sagt Giorgio Campà, ein Genfer Anwalt für Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsdelikte.
Zu Klyuevs Konten steht in der Verfügung, dass die Bundesanwaltschaft «nicht klären kann, ob dort auch Gelder vom russischen Steueramt liegen», weil «die Komplexität der Diagramme […] es unmöglich macht, den Geldfluss nachzuvollziehen».
Das Dokument zeigt jedoch auch, dass von den gleichen Briefkastenfirmen Zahlungen auf Klyuevs Konten bei der UBS eingegangen sind, die auch Geld auf die Schweizer Konten der Stepanovs überwiesen haben – während Letzteres von der Bundesanwaltschaft untersucht und teilweise eingezogen wurde.
Die beiden Briefkastenfirmen Nomirex Trading Ltd. und Bristoll Export Ltd. unterhielten Konten bei der Trasta Komercbanka in Lettland, der die Europäische Zentralbank die Banklizenz 2018 wegen Verstössen gegen Geldwäschereibestimmungen entzogen hat. Beide haben den Klyuev und Stepanov zugeschriebenen Firmen gleichzeitig Geld überwiesen.
Unklar bleibt, weshalb die Bundesanwaltschaft die Zahlungen an Stepanov als illegal und betrügerisch taxiert, während sie für Zahlungen aus der gleichen Quelle auf Klyuevs Konten angibt, es sei «unmöglich, den Geldfluss nachzuvollziehen».
«Wenn Geld zuerst in die Schweiz überwiesen wird, dann nach Zypern transferiert wird, und am Schluss in anderer Verpackung wieder auf Firmenkonten der BSI in die Schweiz landet, dann ist das nichts anderes als klassische Geldwäscherei», sagt Pieth zum Beschluss der Bundesanwaltschaft, Klyuevs Konten nicht zu untersuchen. «Nur: Welche Rolle spielt die Schweiz in der ganzen Geschichte?», fragt er.
Pieth war knapp drei Jahrzehnte lang Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Basel und hat den Fall von Anfang an genau mitverfolgt. Er hat gegenüber der Helsinki-Kommission eine formelle Stellungnahme über den Umgang der Schweiz mit diesem Fall abgegeben.
«Es ist mir unerklärlich, wie man als ernstzunehmender Bundesanwalt davor die Augen verschliessen kann», sagt Pieth. «Das ist ein Skandal. Die Behauptung, die Rückverfolgung der Gelder sei zu komplex, würde der Geldwäscherei ja Tür und Tor öffnen. Es fällt schwer, zu glauben, dass diese Behörde ihre Aufgabe wirklich wahrnimmt.»
«Entscheid nicht vertretbar»
Die Bundesanwaltschaft hält in der Einstellungsverfügung fest, dass «die Firmen [von Dmitry Klyuev] schon vor der Straftat Zahlungen getätigt haben». Dies würde bedeuten, dass gegen eine Firma, die bereits vor einer Straftat existiert hat, nicht ermittelt werden kann.
Ihren Entscheid, Savelyevs Konten bei BSI LTD nicht zu untersuchen, rechtfertigt die Bundesanwaltschaft damit, dass die Bankbeziehungen «fast dreieinhalb Jahre» nach dem Steuerbetrug eröffnet wurden und dass sowohl gegen Dimitry Savelyev als auch gegen seine Frau zum damaligen Zeitpunkt keine Ermittlungen liefen.
«Folgerichtig besteht kein Anlass, diesem Antrag Folge zu leisten, der hiermit abgewiesen wird», hält die Verfügung in Bezug auf die beiden Konten fest.
Damit widerspricht die Bundesanwaltschaft ihrer eigenen Logik und Rechtspflege.
Die Bundesanwaltschaft bestätigt, dass die Firma im Besitz von Stepanov, Faradine Systems, im März 2010 gegründet wurde, also zweieinhalb Jahre nach dem Betrug – was die Schweiz aber nicht daran gehindert hat, von exakt diesem Konto 4 Mio. Franken einzuziehen.
Ebenfalls nie untersucht wurde eine Überweisung von einem Firmenkonto Klyuevs bei der UBS in Höhe von 2 Mio. US-Dollar auf das Konto von Sagiryans Athina Corporation, auf die in der Verfügung verwiesen wird.
Sagiryans Name taucht in der Verfügung ohnehin nur im Zusammenhang mit der Frage an Vladlen Stepanov auf, ob er und Sagiryan sich kannten – was Stepanov gemäss Bundesanwaltschaft verneinte.
Die Bundesanwaltschaft teilte auf Anfrage mit, man könne zu einem laufenden Strafverfahren keine Stellung nehmen. «Gegen die Einstellungsverfügung haben mehrere Parteien Berufung eingelegt, weshalb die Zuständigkeit und damit die Gerichtsbarkeit an das Bundesstrafgericht und das Bundesgericht übergegangen ist. Damit wurde auch die Befugnis, zum Fall zu kommunizieren, an die Gerichte übertragen», schreibt das Büro des Bundesanwalts per E-Mail an SWI swissinfo.ch.
Wir haben mehrere Anwält:innen, Parlamentsmitglieder und Rechtsprofessor:innen kontaktiert und sie um eine Stellungnahme zur Verfügung und den sich daraus ergebenden Ungereimtheiten gebeten.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Recherche haben sich erst wenige der Angefragten bereiterklärt, öffentlich und mit Namen Stellung zu nehmen. In informellen Gesprächen mit SWI swissinfo.ch gaben einige Anwält:innen an, dass sie eine Verfügung der Bundesanwaltschaft lieber nicht kritisieren würden.
Der Genfer Anwalt Giorgio Campà spricht jedoch Klartext: «Diese Verfügung scheint mir rechtlich nicht haltbar. Sie wirkt wie ein Ermessensentscheid, was die Schweizer Strafprozessordnung in Artikel 7 jedoch ausschliesst und ein Verfahren zwingend vorschreibt», sagt er.
«Gerade wenn die Faktenlage wie in diesem Fall komplex ist, muss ein Verfahren auch auf Aspekte ausgeweitet werden, die direkt damit in Zusammenhang stehen. Die Staatsanwaltschaft kann nicht einfach beschliessen, wegzuschauen. Sie darf sich in ihrer Arbeit einzig von der Suche nach der Wahrheit leiten lassen.»
Laubers Russland-Connection
Der frühere Bundesanwalt Michael Lauber, der die Untersuchung über weite Strecken geleitet hat, hatte bekanntermassen enge Beziehungen zu Russland. Seine Amtszeit (2011–2020) war überschattet von Anschuldigungen, dass russische Korruptionsfälle vertuscht worden seien.
Dazu gehört auch eine Untersuchung gegen die frühere Landwirtschaftsministerin Yelena Skrynnik, die zwischen 2007 und 2012 ungefähr 140 Mio. US-Dollar auf Schweizer Bankkonten transferiert haben sollExterner Link.
Eine weiteres Beispiel ist das Verfahren im Zusammenhang mit Immobilienkäufen in der Schweiz durch Artyom Chaika. Der Sohn des russischen Generalstaatsanwalts Yury Chaika gehörte zum engeren Kreis um den russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Beide Verfahren wurden mangels Beweisen eingestellt. In beiden Fällen wurde gegen Lauber nie ein Verfahren eröffnet.
Vincenz Schnell war für die Fälle im Zusammenhang mit Russland zuständig, darunter auch die Magnitski-Affäre. Das russische Medium Novaya Gazeta hat Schnell auch schon als «Einflüsterer des [russischen] Generalstaatsanwalts» bezeichnet.
Er unterhielt Beziehungen zum stellvertretenden russischen Generalstaatsanwalt, Saak Karapetyan, der später in einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, und zur Anwältin Natalya Veselnitskaya, die im Zusammenhang mit Manipulationsvorwürfen bei den US-Präsidentschaftswahlen 2014 befragt wurde und der das US-Justizministerium «Behinderung der Justiz» vorwirftExterner Link.
Wegen «Korruption» und anderer Verbrechen in Zusammenhang mit einer privaten Reise nach Russland 2016 hat die Schweizer Bundespolizei Fedpol 2017 Klage gegen Schnell eingereicht. Die Anschuldigungen wurden später umformuliert zu «sich Vorteile in Form von Jagdausflügen verschaffen». Unsere Interviewanfrage via seinen Anwalt liess Schnell unbeantwortet.
«In der Magnitski-Affäre gibt es zahlreiche Hinweise auf aktive Einflussnahme des russischen Geheimdiensts und der Schweizer Bundesanwaltschaft», sagt Ilya Shumanov, Leiter von Transparency International Russia.
«Wir hatten Zweifel, ob die Schweizer Behörden diesen Fall neutral beurteilen würden. Eigentlich hätte die Magnitski-Affäre in der Schweiz hohe Wellen werfen müssen. Nun entsteht aber vielmehr der Eindruck, dass es der Schweiz am politischen Willen fehlt, Straftaten dieser Art aufzuklären.»
Lauber trat 2020 «im Interesse der Institutionen» zurück, nachdem parlamentarische Ausschüsse ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet hatten.
Vorausgegangen waren weitere prominente Fälle unter Laubers Führung, namentlich ein nicht protokolliertes Treffen mit Gianni Infantino, Präsident des Weltfussballverbands Fifa. 2023 wurde das Strafverfahren zu diesem Treffen eingestellt.
Den parlamentarischen Ausschüssen zufolge bestand gegen Lauber der Verdacht auf «Amtsmissbrauch, Amtsgeheimnisverletzung und Begünstigung».
«Aufgrund des Amtsgeheimnisses, dem ich weiterhin unterstehe, kann ich Ihre Fragen nicht beantworten. Ich kommentiere keine Vermutungen, falschen Anschuldigungen und Gerüchte in den Medien. Des Weiteren nehme ich keine Stellung zu Einschätzungen angeblicher Experten, die sich in Unkenntnis der Fakten äussern», liess Lauber SWI swissinfo.ch per E-Mail über seinen Anwalt ausrichten.
Fortsetzung folgt…
2020 hielt die Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft in einem Disziplinarverfahren gegen Lauber fest, dass sich dieser erhebliche Pflichtverletzungen habe zuschulden kommen lassen und durch dieses Verhalten «den Ruf der Bundesanwaltschaft der Schweiz beschädigt habe».
Nach Laubers Rücktritt hat das Schweizer Parlament Reformen bei der Bundesanwaltschaft angestossen und zwei Berichte angefordert. Eine mögliche Reform besteht in der Einschränkung der Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft.
«Zwar ist die Arbeit der Gerichtskommission, die für die Bundesgerichte und die Bundesanwaltschaft zuständig ist, nicht öffentlich. Wir sind aber dabei, uns mit der Aufsicht und Sanktionen zu befassen. Gegenwärtig gab es eine Veränderung in der Leitung mit dem klaren Willen des Staatsanwalts, das Gesetz umzusetzen», sagt Carlo Sommaruga, Ständerat und Mitglied der Gerichtskommission.
Im Juni 2023 hielt die Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft fest, dass die Dossierverwaltung der Bundesanwaltschaft zwischen 2016 und 2020 «lückenhaft und veraltet» gewesen sei.
Von 6400 geprüften nicht-aktiven Fällen seien drei von vier Verfahren eingestellt worden, ohne dass Beschuldigte einvernommen worden wären. In strafrechtlichen Ermittlungen fand nur in jedem zehnten Fall eine Einvernahme statt.
Epilog
«[Schnell] verhielt sich schlimmer als ein russischer Untersuchungsbeamter unter Stalin, der korrekter und freundlicher gewesen wäre als Schnell mir gegenüber», erinnert sich Gross an die Befragung.
«Einziger Unterschied: In Russland wäre ich ins Gefängnis geworfen oder in einen Gulag im Osten des Landes verfrachtet worden. So weit konnte Schnell nicht gehen.» Er habe sich damals «völlig hilflos» gefühlt, sagt Gross, der heute im Ruhestand ist.
Als Mitglied des Europarats bis 2016 befasste sich Gross von 2008 bis 2014 mit Russland. Er war zudem Berichterstatter zu Menschenrechten in Tschetschenien von 2004 bis 2007.
Gross hat Putin 2000 persönlich getroffen und über ein halbes Dutzend Wahlen in Russland beobachtet. Mit dem Auftrag, einen Bericht zur Straffreiheit der Mörder von Sergei Magnitski zu erstellen, reiste er zwischen 2011 und 2013 mehrfach nach Moskau.
Gross traf Lauber nur einmal in Bern, als er seinen Bericht zu Magnitskis Tod verfasste. «Ich fragte ihn, ob er es sich vorstellen könne, dass in Russland Steuerbeamte Steuergeld für private Zwecke entwendet haben könnten. Lauber meinte, er sei sich dessen bewusst.»
Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Lorenz Mohler
Dieser Artikel wurde am 14. November 2024 angepasst. In einer früheren Version wurde eine Begegnung zwischen Andreas Gross und einer Person beschrieben, die behauptete, die Schwester von Vinzenz Schnells zu sein.
Diese Passage wurde entfernt, da Vinzenz Schnell SWI versichert hat, dass er keine Schwester hat. SWI hat nicht die Möglichkeit, diese Behauptung zu überprüfen. Diese Klarstellung ändert nichts am Inhalt des Artikels.
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