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Migration: Importiert die Schweiz Arbeitskräfte ohne die Menschen?

Ein Bett in einer nachgebauten Saisonnierkaserne.
Ein Bett in einer nachgebauten Saisonnierkaserne in einer Ausstellung der Gewerkschaft Unia gegen die Wiedereinführung des Saisonnierstatuts 2014 in Bern. Keystone /Peter Klaunzer

So genannte zirkuläre Migrationsprogramme sind eine Möglichkeit, den Arbeitskräftemangel zu bekämpfen und die Kurzzeit-Zuwanderung zu fördern. Der Migrationsexperte Etienne Piguet über die Risiken, Herausforderungen und Chancen solcher Programme für die Schweiz.

Am 19. Januar vereinbarten die Schweiz und Tunesien, ihre seit 2012 bestehende Migrationspartnerschaft zu vertiefen, und haben dafür das Projekt «Perspektiven» unterzeichnet. Offizielles Ziel ist die «Förderung der qualifizierten zirkulären Migration zwischen Tunesien und der Schweiz».

Bei der zirkulären Migration geht es um kurzfristige Zuwanderung, besonders von Arbeitskräften. In diesem Fall wollen die Schweiz und Tunesien Praktika in beiden Ländern fördern.

Dies baut auf dem Abkommen über den Austausch von jungen BerufsleutenExterner Link von 2014 auf, das seit 2015 rund 174 tunesischen Jugendlichen ermöglicht hat, in der Schweiz ein Praktikum zu absolvieren oder eine erste Anstellung zu finden. Bisher hat lediglich eine Schweizerin vom gegenseitigen Austausch profitiert.

Die Schweiz hat 13 weitere ähnliche Abkommen für den Austausch von Stagiaires mit Drittstaaten unterzeichnet.

SWI swissinfo.ch sprach mit Etienne Piguet, Professor für Geografie der Mobilität, über die Definition, die Herausforderungen und die Auswirkungen der zirkulären Migration.

Etienne Piguet
Etienne Piguet, Professor für Geografie der Mobilität. Keystone / Lukas Lehmann

SWI swissinfo.ch: Was ist zirkuläre Migration? Und was unterscheidet sie von anderen Formen der Migration?

Etienne Piguet: Unter zirkulärer Migration versteht man die Bewegung von Personen zwischen Herkunfts- und Zielland, nicht mit dem Ziel, sich dort dauerhaft niederzulassen, sondern für Perioden von einigen Wochen bis zu weniger als einem Jahr.

In der Schweiz geschieht dies in der Regel mit einer L-Bewilligung und nicht mit einer B- oder C-Bewilligung, die eine dauerhafte Niederlassung ermöglichen.

Häufig handelt es sich um Saisonniers oder Personen, die für eine kurzfristige Beschäftigung umziehen; sie unterscheiden sich von den Touristinnen und Touristen durch eine längere Aufenthaltsdauer, die in der Regel mehr als drei Monate, aber weniger als ein Jahr beträgt.

Studierende stellen eine Zwischenkategorie dar, da sie sich nur für die Dauer ihres Studiums im Land aufhalten, dies oft jedoch für mehrere Jahre.

Das entscheidende Merkmal der zirkulären Migration ist der Rückkehrgedanke, der sie von anderen Formen der Migration unterscheidet.

Eine engere Definition geht davon aus, dass zirkuläre Migration bedeutet, dass Migrantinnen und Migranten nicht nur für kurze Zeit bleiben, sondern mehrmals zurückkehren, etwa die Saisonniers.

Würden Sie sagen, dass die zirkuläre Migration ein relativ neues Phänomen in der Schweiz und in der politischen Landschaft der Europäischen Union ist? Oder hat sie tiefere historische Wurzeln?

Ja, das Konzept der zirkulären Migration ist zwar terminologisch relativ neu, hat aber tiefe historische Wurzeln. Es umfasst Migrationsmuster, die bereits in der Vergangenheit beobachtet wurden.

Dazu gehören etwa die saisonale Migration von Arbeitskräften in der Schweiz in den 1960er-Jahren und sogar frühere Migrationen, die bis ins 18. und 19. Jahrhundert zurückreichen. Dazu gehört auch die vorübergehende Auswanderung aus der Schweiz in andere europäische Länder.

Dies war beispielsweise der Fall bei jungen Schweizerinnen und Schweizern aus bäuerlichen Familien, vor allem Frauen, die eine Zeit lang als Hausangestellte in wohlhabenderen Haushalten jenseits der französischen Grenze arbeiteten.

Das Konzept der zirkulären Migration wurde in der EU durch internationale politische Bemühungen eingeführt, die positiven Auswirkungen der Migration auf die Entwicklung zu maximieren.

Auf EU-Ebene wurde es als ein Instrument zur Steuerung der Migrationspolitik durch Rechtsinstrumente sowie formelle bilaterale und multilaterale Programme und Projekte betrachtet.

Zirkuläre Migration wurde zu einem der Instrumente der Generaldirektion für Migration und Inneres der Europäischen Kommission, um die Einwanderung einzudämmen. Sie war Teil ihres sicherheitsorientierten Migrationskonzepts, das den Schwerpunkt eher auf Rückführung und Rückübernahme als auf die Erleichterung legaler Migration legte.

Seit 2001 versucht die EU, diese Form der Migration zu fördern. Fast 20 Jahre später ist es jedoch immer noch schwierig, eine klare und kohärente Politik zu finden, die den Ansatz der EU zur zirkulären Migration beschreibt.

Quelle: Vankova, Z. (2020): The Formulation of the EU’s Approach to Circular Migration. In: «Circular Migration and the Rights of Migrant Workers in Central and Eastern Europe»Externer Link. IMISCOE Research Series. Springer, Cham.

Forschende argumentieren, dass zirkuläre Migrationsprogramme den Wunsch der Zielländer widerspiegeln, Arbeitskräfte gewissermassen ohne die Menschen zu importieren. Teilen Sie diese Einschätzung?

In weiten Teilen ja, vor allem mit Blick auf die Programme für Gastarbeitende der Vergangenheit. Es ist aber wichtig, zwischen Einzelfällen zu unterscheiden, etwa wenn Menschen mit einer Kurzaufenthaltsbewilligung aus der Europäischen Union in die Schweiz kommen, was nicht unbedingt eine Diskrepanz zwischen der Schweizer Politik und persönlichen Wünschen widerspiegelt.

Diese Migrantinnen und Migranten haben aufgrund des Freizügigkeitsabkommens zwischen der Schweiz und der Europäischen Union bis zu einem gewissen Grad die Wahl [der Freizügigkeit].

Italienische Saisonniers, historische Aufnahme
Italienische Saisonniers, die in der Schweiz arbeiten, trinken in ihrer Freizeit im Wohnzimmer ihrer Baracke Bier und sehen fern, aufgenommen 1972 in Adliswil. Keystone / Ruedi Rohr

Aber es stimmt, wenn ein zirkuläres Migrationsprogramm umgesetzt wird, dann stimme ich zu, dass es wahrscheinlich ein Kompromiss zwischen dem Einwanderungsland und dem Auswanderungsland ist, Migrantinnen und Migranten mit kurzfristigen Genehmigungen aufzunehmen, ohne sich um die Auswirkungen der langfristigen Migration zu kümmern.

Der Fall der Praktika ist anders, da hier eine Win-Win-Win-Situation angestrebt wird: Das Ziel ist, dass bestimmte Fähigkeiten in das Herkunftsland zurückgebracht werden können.

Würden Sie die zirkuläre Migration als eine «Politik der halben Öffnung» bezeichnen, wenn Sie an Ihr Buch «Einwanderungsland Schweiz. Fünf Jahrzehnte halb geöffnete Grenzen» denken?

Auf jeden Fall.  Die Schweiz hat in der Vergangenheit erklärt, dass sie keine dauerhafte Einwanderung wünscht, aber temporäre Migration akzeptiert.

Das macht die zirkuläre Migration in der Tat zu einer Form der kontrollierten Öffnung oder «halben Öffnung».

Zirkuläre Migrationsprogramme wie «Perspektiven» werden als «Dreifachgewinn» bezeichnet. In diesem Fall wäre es ein Gewinn für die Schweiz, für Tunesien und für die betroffenen Menschen. Wie stichhaltig ist diese Aussage?

Dieses Konzept steht im Zentrum der Debatte um die zirkuläre Migration. Die Idee eines Triple-Win-Szenarios ist ein spannendes, aber anspruchsvolles Ziel.

Es ist schwierig, vor allem wenn eine der betroffenen Parteien – also die Person, die migriert – keine völlig freie Wahl hat. Aber ich bin überzeugt, dass es sich lohnt, solche Programme aufzulegen. Zumindest ist es besser, als einfach die Grenzen zu schliessen.

Einige Forschende weisen darauf hin, dass Personen, die keine längerfristige Aufenthaltsgenehmigung erhalten können, keine Freizügigkeit geniessen.

Die Zielländer, die eine solche Politik verfolgen, werden jedoch bis zu einem gewissen Grad auch von anderen Kräften eingeschränkt, beispielsweise von Kräften, die einer dauerhaften Einwanderung ablehnend gegenüberstehen.

Der Begriff «zirkuläre Migration» wird erst seit Anfang der 2000er-Jahre im Zusammenhang mit internationaler Migration verwendet.

Befürwortende dieses Konzepts argumentieren, dass sowohl die Zielländer als auch die Herkunftsländer sowie die Migrantinnen und Migranten selbst davon profitieren, also ein «Dreifachgewinn».

Quelle: «Circular Migration: Triple Win, or a New Label for Temporary Migration?»Externer Link, 2014.

Um den Erfolg zirkulärer Migrationsprogramme zu gewährleisten, müssen die Rechte und Pflichten aller Beteiligten klar definiert werden. Welche Massnahmen sollten ergriffen werden, um die Migrantinnen und Migranten zu schützen und sowohl die Herkunfts- als auch die Zielländer positiv zu beeinflussen?

Jüngste wissenschaftliche Untersuchungen legen nahe, dass mehr Verhandlungen zwischen dem Herkunftsland, dem Einwanderungsland und den Gewerkschaften, welche die Migrantinnen und Migranten vertreten, für alle Beteiligten von Vorteil sind.

So können faire Bedingungen für alle Parteien erreicht werden. Die Umsetzung solch ausgewogener Verhandlungen bleibt jedoch eine Herausforderung.

Historische Erfahrungen, besonders mit italienischen Saisonniers in der Schweiz, zeigen, dass Verbesserungen der Arbeitsbedingungen nicht durch individuelle Verhandlungen mit den Arbeitgebern, sondern durch effektive Lobbyarbeit des italienischen Staats erreicht wurden. Dies unterstreicht die Bedeutung einer spezifischen Vertretung für zirkuläre Migrantinnen und Migranten.

Es ist denkbar, dass die tunesische Regierung das Wohlergehen der Migrantinnen und Migranten aktiv überwacht, um Missbrauch oder Misshandlung zu verhindern.

Dies könnte bedeuten, dass tunesische Gewerkschaften, ähnliche Einrichtungen wie NGOs und möglicherweise internationale Organisationen einen umfassenden Ansatz zum Schutz der Rechte und des Wohlergehens von Migrantinnen und Migranten gewährleisten.

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Kann man bei Abkommen zwischen Ländern wie der Schweiz und Tunesien von einem Gleichgewicht der Kräfte sprechen?

Das Kräfteverhältnis bei Verhandlungen ist komplex und beruht nicht nur auf wirtschaftlichen Unterschieden.

Damit Abkommen wirklich auf Gegenseitigkeit beruhen, müssen sie auf den gegenseitigen Interessen der beteiligten Länder beruhen und gleichzeitig an die sich verändernde Dynamik der Arbeitsmarktbedürfnisse und der Migrationspolitik angepasst werden.

Die Landschaft hat sich seit den 1960er-Jahren stark verändert. Damals war der gegenseitige Nutzen noch überschaubar. Italien profitierte von der Entsendung von Arbeitskräften ins Ausland, und die Schweiz brauchte diese Arbeitskräfte für ihr Wirtschaftswachstum.

Heute geht es bei Abkommen wie jenem mit Tunesien um ein komplizierteres Geflecht von Interessen. Dazu gehören die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts und die Erwartung der Schweiz, dass Tunesien die Rückkehr von abgewiesenen Asylsuchenden schneller akzeptiert.

Langzeitmigrantin, Langzeitmigrant: «Eine Person, die sich für einen Zeitraum von mindestens einem Jahr (12 Monate) in einem anderen Land als dem ihres gewöhnlichen Aufenthalts niederlässt, so dass das Zielland de facto zu ihrem neuen gewöhnlichen Aufenthaltsland wird. Aus der Sicht des Herkunftslands handelt es sich um eine langfristig ausgewanderte, aus der Sicht des Ziellands um eine langfristig eingewanderte Person.»

Kurzzeitmigrantin, Kurzzeitmigrant: «Eine Person, die sich für einen Zeitraum von mindestens drei Monaten und weniger als einem Jahr (12 Monate) in ein anderes Land als das Land begibt, in dem sie ihren gewöhnlichen Wohnsitz hat – es sei denn, die Reise in dieses Land erfolgt zu Erholungszwecken, zu Urlaubszwecken, zum Besuch von Freunden oder Verwandten, aus geschäftlichen Gründen, zur medizinischen Behandlung oder im Rahmen einer religiösen Pilgerfahrt.»

Rückkehrende Migrantin, rückkehrender Migrant: «Eine Person, die nach einem (kurz- oder langfristigen) Aufenthalt als internationale Migrantin oder internationaler Migrant in einem anderen Land in ihr Herkunftsland zurückkehrt und beabsichtigt, mindestens ein Jahr in ihrem Herkunftsland zu bleiben.»

Quelle: United Nations Economic Commission for Europe, 2016

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

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