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Migration: Ist die Partnerschaft zwischen der Schweiz und Tunesien wirklich eine «Win-Win»-Beziehung?

Simonetta Sommaruga mit dem ehemaligen tunesischen Aussenminister Rafik Abdessalem
Die ehemalige Bundesrätin Simonetta Sommaruga mit dem ehemaligen tunesischen Aussenminister Rafik Abdessalem. Keystone

Vor zwölf Jahren unterzeichneten die Schweiz und Tunesien eine Absichtserklärung, in der die Migrationspolitik zwischen den beiden Ländern festgelegt wurde. Ziel war, den Zustrom tunesischer Migrant:innen in die Schweiz zu kontrollieren und gleichzeitig junge Berufsleute aus beiden Ländern auszubilden. Wie erfolgreich war die Partnerschaft, und vor welchen Herausforderungen steht sie heute?

2012 veranlasste der Zustrom tunesischer Asylbewerber:innen in die Schweiz die beiden Länder zur Unterzeichnung einer Absichtserklärung, die den Grundstein für ein formelles Abkommen über die Zusammenarbeit im Bereich der Migration legte.

Die Erklärung stützte sich auf zwei Säulen: Die Schweiz stimmte einem Austausch von jungen Fachkräften mit Kurzzeitvisa zu, Tunesien erklärte sich im Gegenzug bereit, abgelehnte Asylsuchende wieder aufzunehmen.

Die Vereinbarung war eine Reaktion auf die zunehmende illegale Migration aus Tunesien nach dem Arabischen Frühling und der Revolution, die den damaligen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali stürzte. Als Folge war der tunesische Staat nicht mehr in der Lage, seine Grenzen zu sichern.

Diese bilateralen Migrationsabkommen waren nicht neu. Neben Tunesien hat die Schweiz sieben ähnliche Partnerschaften mit Bosnien und Herzegowina, Georgien, Kosovo, Nordmazedonien, Nigeria, Serbien und Sri Lanka. Weiter hat sie Rückübernahmeabkommen mit 52 Ländern und Berufsbildungsabkommen mit 14 Ländern abgeschlossen.

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Diese Abkommen waren damals bereits umstritten. Da die Europäische Union ihre Grenzen zurzeit verschärft und ihre Migrationspolitik an Drittländer auslagert, sind sie es umso mehr.

So geriet der Plan des Vereinigten Königreichs in die Kritik, Asylbewerber:innen nach Ruanda zu schicken, damit ihre Anträge dort bearbeitet werden können. Letztes Jahr erklärte der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs diesen Plan für rechtswidrig, da er gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstösst.

Die Rückübernahme ist nichts anderes als «eine juristische Beschreibung dessen, was in Wirklichkeit eine erzwungene Abschiebung ist», sagt Majdi Karbai, Migrationsaktivist und ehemaliges Mitglied des tunesischen Parlaments.

«Wie die Länder der EU zwingt die Schweiz Tunesien, die Ausweisung seiner Bürger:innen im Gegenzug für ein bestimmtes Kontingent an regulären Einreisevisa zu akzeptieren», sagt er.

«Win-Win» oder «Win-Lose?»

Mehr als zehn Jahre nach der Umsetzung des schweizerisch-tunesischen Abkommens zeigen die Zahlen eine widersprüchliche Bilanz. Während die Rückübernahme und die Zahl der Tunesier:innen, die illegal in die Schweiz einreisen, nach Angaben der Schweizer Behörden niedrig geblieben sind – eines der erklärten Ziele des Abkommens –, hat Tunesien bisher wenig von der Ausbildung seiner jungen Bevölkerung profitiert.

Tunesien hat im Einvernehmen mit der Schweiz 451 Personen wieder aufgenommen. Zwischen 2014 und 2023 sind weitere 402 freiwillig zurückgekehrt, wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) gegenüber SWI swissinfo.ch mitteilt.

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Karbai argumentiert, dass die Partnerschaft immer eine «Win-Lose»-Beziehung gewesen sei, da «es viele Komplikationen gibt, die verhindern, dass dieses Kontingent überhaupt in vollem Umfang genutzt werden kann. Etwa die Verfahren zur Erlangung eines Visums und die Bedingungen für dessen Erfüllung.» Die Zahlen der Kontingente werden nicht veröffentlicht.

SWI swissinfo.ch fragte das SEM per E-Mail nach seiner Einschätzung der Ergebnisse der Rückübernahmepartnerschaft: «Die Zahl der von freiwilliger und unfreiwilliger Rückkehr betroffenen Personen bleibt relativ gering. Ebenso gibt es in der Schweiz relativ wenig Asylgesuche und irreguläre Einreisen.»

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Gemäss dem Abkommen übernimmt die Schweiz die Rückreisekosten mit einem kommerziellen Flug und stellt allen abgewiesenen Asylsuchenden einen nicht genannten Geldbetrag zur Verfügung, der es ihnen auf dem Papier ermöglicht, «günstige Bedingungen für ihre soziale und wirtschaftliche Wiedereingliederung zu schaffen». Tunesien verpflichtet sich seinerseits, abgewiesene Asylbewerber:innen zurückzunehmen.

Im vergangenen Jahr haben insgesamt 5742 Personen die Schweiz verlassen, entweder freiwillig oder gezwungenermassen. Dies entspricht einer Zunahme von 19% im Vergleich zu 2022.

Mögliche Probleme in der Zukunft

Ein Problem im Zusammenhang mit der Rückübernahme, welches Menschenrechtsaktivist:innen am meisten Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass ein Staat Nicht-Staatsbürger:innen zurücknehmen kann mit der Begründung, dass sie auf ihrem Weg nach Europa gerade seine Grenzen passiert haben.

Das heisst, theoretisch könnte Tunesien auch Asylbewerber:innen, die keine Ausweispapiere haben, rückübernehmen: Viele, welche die Grenze überqueren, zerstören ihre Ausweispapiere, weil so die Abschiebung erschwert wird. In der Praxis wurde das bisher nicht angewandt, was sich jedoch ändern könnte, da die EU ihre Haltung zur illegalen Migration verschärft.

«Alle Länder prüfen diese Möglichkeit», sagt Karbai. Das bedeutet, dass ein Migrant aus Mali, der auf seinem Weg nach Europa Tunesien durchquert hat, nach Tunesien zurückgeschickt werden kann. Das ist ein Problem, denn Tunesien könnte so zu einem Aufnahmeland für abgelehnte Asylsuchende werden – und das möchte es nicht.

Ein weiterer Grund zur Sorge ist, dass die Schweiz die meisten Asylanträge mit der Begründung ablehnt, Tunesien gelte als sicheres Land. Dies trifft laut NGOs und Aktivist:innen allerdings nicht mehr zu. Der im Jahr 2024 veröffentlichte Bericht «Freedom in the World» stuft Tunesien nur als «teilweise frei» ein.

«Die Gewalt ist in der Tat nach Tunesien zurückgekehrt, es gibt Angriffe auf Minderheiten, einschliesslich der LGBT-Gemeinschaft, und Verletzungen der körperlichen Integrität durch Analuntersuchungen», sagt Karbai.

«Europa ignoriert das allerdings, um die Abschiebung durch Migrationsabkommen und Vorbereitungen, Tunesien zu einem Land der Wiederansiedlung zu machen, fortzusetzen.»

Ausserdem versuchen rückübernommene Asylbewerber:innen und irreguläre Migrant:innen oft, erneut nach Europa zu gelangen. Dies ist der Fall bei einem tunesischen Migranten, der 2016 zurückgeschickt wurde. In einem anonymen Interview mit SWI swissinfo.ch bestätigte er, dass er sich auf die Rückreise aus Tunesien vorbereitet.

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Finanzierung von Erstanstellungen und Praktika

Selbst der weniger umstrittene Aspekt des Abkommens, die Zulassung einer begrenzten Anzahl qualifizierter Arbeitskräfte für einen limitierten Zeitraum, wirft Fragen auf. Profitiert Tunesien tatsächlich von diesen Programmen?

Im Abkommen zwischen den beiden Ländern ist klar festgehalten, dass die Schweiz junge Fachkräfte ausbildet, damit diese mit den neu erworbenen Fähigkeiten in ihr Heimatland zurückkehren.

Pro Jahr sollen bis zu 150 junge Berufsleute in jedem Land von dem Programm profitieren können. Die Umsetzung der Programme hat sich jedoch als schwierig erwiesen und nur wenige haben von ihnen profitiert.

Zwischen 2015 und 2023 nahmen gerade mal 174 Tunesier:innen an Ausbildungsprogrammen in der Schweiz teil. Währenddessen profitierte nur eine Person aus der Schweiz von ähnlichen Programmen in Tunesien.

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«Der Schweizer Arbeitsmarkt ist für tunesische Jugendliche generell interessanter als der tunesische Arbeitsmarkt für Schweizer Jugendliche», sagt das SEM gegenüber SWI swissinfo.ch und fügt hinzu, dass das Abkommen zwischen Tunesien und der Schweiz im Bereich des beruflichen Jugendaustauschs trotz der schwachen Zahlen «das drittinteressanteste Abkommen nach jenen mit den Vereinigten Staaten und Kanada» sei.

Theres Meyer ist stellvertretende Direktorin für Kommunikation bei SwisscontactExterner Link, einer Organisation, die Tunesier:innen bei der Suche nach einem Ausbildungsprogramm in der Schweiz hilft. Sie sagt, die Gesamtzahl der jungen Berufsleute, die bis September 2026 in das Programm aufgenommen werden, werde nur 200 betragen, von denen 150 wieder in den tunesischen Arbeitsmarkt integriert werden sollen.

Zu den Herausforderungen für Tunesier:innen, die ein Praktikum oder eine erste Anstellung finden wollen, gehören ihr Fachgebiet und administrative Hürden.

«Perspectives» ist eines der Projekte, die von der Schweiz und Tunesien im Rahmen des Abkommens über den Austausch von jungen Berufsleuten durchgeführt werden. Das Projekt zielt darauf ab, «die tunesische Diaspora langfristig zu mobilisieren und sie dabei zu unterstützen, zu investieren, Arbeitsplätze zu schaffen und zum sozialen und wirtschaftlichen Wachstum in Tunesien beizutragen», so Meyer.

Wenig Statistiken

Ein Porträt von Insaf Neili
Insaf Neili kehrte nach einem achtmonatigen Praktikum bei einem Ingenieurbüro in der Schweiz nach Tunesien zurück. zvg von Insaf Neili

Insaf Naeli, eine 25-jährige Ingenieurstudentin, nutzte das Programm als Praktikantin in einem Architekturbüro. Nach über acht Monaten in der Schweiz ist sie kürzlich nach Tunesien zurückgekehrt.

«[Dies war] eine Gelegenheit, meine Kenntnisse und Fähigkeiten zu verbessern, da ich von erfahrenen Leuten umgeben bin», sagt sie gegenüber SWI swissinfo.ch am Telefon.

Die angehende Ingenieurin ist der Meinung, dass die Unterschiede in den Bauverfahren und der Gesetzgebung zwischen der Schweiz und Tunesien es ihr ermöglichen, «mehr Fragen zu stellen und besser zu lernen».

Sie möchte nun ihr eigenes Startup gründen und plant, mittelfristig in Tunesien zu bleiben, um ihre unternehmerische Tätigkeit auszubauen. Sie hat aber keine Absicht, sich dort dauerhaft niederzulassen. Letztlich möchte sie in Europa Arbeit finden und zu einem späteren Zeitpunkt nach Tunesien zurückkehren, um ihr Wissen und ihre Erfahrungen weiterzugeben.

Es ist schwierig, Statistiken über diejenigen zu finden, die sich nach der Teilnahme an einem Ausbildungsprogramm in Tunesien niedergelassen haben, und über jene, die das Land wieder verlassen haben, um in anderen Ländern Erfahrungen zu sammeln.

Trotz der Fragen, die solche Rückübernahmeabkommen aufwerfen, und der geringen Zahl tunesischer Jugendlicher, die vom Abkommen über den Austausch junger Fachkräfte profitiert haben, schreibt das SEM gegenüber SWI swissinfo.ch: «Die Migrationspartnerschaft mit Tunesien funktioniert seit 2012 sehr gut.»

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Claire Micallef

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