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Neues Land, alte Ängste: Wie es in Syrien weitergeht

Umayyad-Platz in Damaskus,
Syrer:innen feiern den Sturz der Regierung von Baschar al-Assad auf dem Umayyad-Platz in Damaskus, 20. Dezember 2024. Copyright 2024 The Associated Press. All Right Reserved

Syriens Zukunft ist unerwartet auf dem Verhandlungstisch gelandet. Welche Rolle werden Demokratie und Säkularismus spielen? Eine Analyse aus der Sicht eines in der Schweiz lebenden Syrers.

Die Nachricht vom Sturz des Regimes war für mich, wie für alle anderen Syrerinnen und Syrer auch, der schönste Moment meines Lebens. Doch als Mitglied der syrischen Diaspora in Europa stellten sich Fragen: Werden wir in unser Land zurückkehren können? Und welche Rolle werden wir nach all dem, was wir im Ausland erlebt haben, einnehmen können? Schon nach wenigen Tagen zeichneten sich erste Antworten ab, während ich die Entwicklungen von der Schweizer Stadt Burgdorf aus verfolgte.

Am 19. Dezember 2024 gab es eine Demonstration auf dem Umayyad–Platz – jenem Platz, auf dem nur wenige Tage zuvor die grösste Feier nach dem Sturz des langjährigen Diktators Baschar al-Assad am 8. Dezember stattgefunden hatte.

Slogans forderten Demokratie und einen zivilen Staat – eine häufig verwendete Umschreibung für eine nicht–religiöse Regierung, da der Begriff «Säkularismus» nach wie vor starke Vorbehalte hervorruft, insbesondere bei der sunnitischen Mehrheit. Dennoch verlangten einige Transparente der Demonstrierenden klar Säkularismus – also einen Staat, der allen Bürgerinnen und Bürgern unabhängig von ihrer Religion oder ethnischen Zugehörigkeit gegenüber neutral ist.

Vor allem in den sozialen Medien kam es zu einer heftigen Gegenreaktion gegen den Protest und seine Teilnehmenden. Kritikerinnen und Kritiker warfen einigen Demonstrierenden vor, ehemalige Regimeanhängerinnen und -anhänger zu sein, bekannt dafür, dessen Brutalität zu vertuschen. Die Empörung eskalierte und zwang einige dazu, sich öffentlich für ihre Teilnahme zu entschuldigen.

Ob die Kritik einiger nun gerechtfertigt ist oder nicht – jetzt, nach dem Sturz des Diktators, kommen neue Hindernisse an die Oberfläche: tiefe Schichten von Misstrauen, Argwohn und Rache, die in 54 Jahren absoluter Herrschaft gesät wurden. Viele befürchten, dass diese Spaltung der Gesellschaft das eigentliche Hindernis für die Verwirklichung des Traums von einem freien Syrien für das gesamte Volk darstellen werden.

Sieben Jahre lang regierte die Miliz Haiat Tahrir al-Sham (HTS) die Stadt Idlib mit einer islamistischen Agenda. Seit dem 27. November 2024 rückten ihre Kräfte dann auf Damaskus vor. Ursprünglich ein Ableger von Al–Qaida, zielt die HTS nicht mehr gegen den Westen, bleibt jedoch eine streng salafistische Organisation, die jede Ideologie ausserhalb ihrer rigiden Auslegung des Islam ablehnt.

Umayyad-Platz in Damaskus am 27. Dezember 2024.
Syrerinnen und Syrer halten eine Kopie des Korans neben einem christlichen Kreuz während einer Demonstration für die Einheit der Minderheiten und den Sturz der Regierung von Baschar Assad auf dem Umayyad-Platz in Damaskus am 27. Dezember 2024. Copyright 2024 The Associated Press. All Rights Reserved.

Warum sind Säkularismus und Demokratie in Syrien verbotene Begriffe?

Nicht lange nach der säkularen Demonstration auf dem Umayyad-Platz und den Gegenreaktionen darauf gab eine Gruppe führender syrischer Intellektueller, darunter Persönlichkeiten mit einer langen Geschichte des Widerstands gegen die Tyrannei, am 31. Januar eine gemeinsame Erklärung auf Al–JumhuriyaExterner Link, der meistgelesenen Plattform in den demokratischen Kreisen Syriens, ab.

In der Erklärung wurden sieben Grundsätze zum Schutz des neuen Syriens dargelegt. Diese Grundsätze waren allgemein akzeptabel, selbst für die derzeitige Regierung, die sie in vagen Worten und ohne konkrete Verpflichtungen wiederholte. Viele bemerkten jedoch, dass in der Erklärung die Begriffe Demokratie und Säkularismus nicht ein einziges Mal erwähnt wurden.

Einige Unterzeichnende hatten einst die “Erklärung der Neunundneunzig“ unterstützt, eine Petition, die im September 2000, zu Beginn der Herrschaft von Baschar al–Assad, veröffentlicht worden war. Die zentrale Forderung damals lautet «Demokratie» – es war ein bemerkenswert mutiger Akt in einer Zeit, in der die Tyrannei ihren Höhepunkt erreicht hatte.

Fünfundzwanzig Jahre liegen zwischen diesen beiden Erklärungen. Die Verschiebungen in den Forderungen zeigen, wie ausgelaugt das Land durch Diktatur, Revolution und Krieg ist. Während einige argumentieren, dass ein aus der Zerstörung wieder entstehendes Land eher allgemeine Grundsätze für seinen Wiederaufbau benötige als ideologische Debatten, hinterlässt das Fehlen klarer Definitionen eine gefährliche Leerstelle.

Diese Zweideutigkeit ermöglicht es anderen Kräften, die Zukunft Syriens zu gestalten. Für die HTS und ihre Verbündeten ist der Islam die einzige Lösung – Säkularismus und Demokratie sind für sie nicht nur fremde Konzepte, sondern regelrechte Ketzerei.

Damit sind diese zwei Grundprinzipien einer Nation für alle ihre Bürgerinnen und Bürger unaussprechlich geworden. In ihrem Austausch mit der internationalen Gemeinschaft bleibt die HTS hinsichtlich ihrer Ablehnung von Demokratie und Säkularismus zweideutig. Sie betont, dass sie alle Menschen in einen gefestigten Staat integrieren wolle, der die Rechte aller schützt, ohne jedoch die im internationalen Diskurs übliche Terminologie zu verwenden.

Wollen die meisten Syrerinnen und Syrer einen sunnitisch-islamischen Staat?

Etwa 70% der syrischen Bevölkerung sind sunnitische Musliminnen und Muslime, einschliesslich der Kurdinnen und Kurden, die etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die sunnitische Gemeinschaft trug die Hauptlast der Revolution und des darauffolgenden Krieges und war der brutalen Taktik des Regimes ausgesetzt.

Nachdem sie ihre Freiheit erlangt haben, wünschen sich viele Sunnitinnen und Sunniten ein System, das ihre Kultur widerspiegelt, einige treten dabei für einen modernen islamischen Staat ein.

Die meisten Kurdinnen und Kurden ziehen es vor, über ihre ethnische Identität und nicht über ihren islamischen Glauben identifiziert zu werden und streben nach Anerkennung als eigenständige Ethnie im sozialen Gefüge Syriens. Daher sinkt der Anteil derjenigen, die für ihre “ursprüngliche“ sunnitische Kultur eintreten, auf 60% der Bevölkerung.

Die arabischen Sunnitinnen und Sunniten sind sich jedoch in ihren Zielen nicht einig, und viele wollen nicht, dass die Zukunft Syriens ein islamischer Staat ist. Angesichts der Tatsache, dass die arabischen Sunnitinnen und Sunniten 60% der Bevölkerung und andere Sekten und Ethnien 40% ausmachen, könnte die Einführung eines Staates mit spezifischen religiösen oder kulturellen Merkmalen zu weiteren Konflikten führen.

Eine syrische Frau hält am 19. Dezember 2024 auf dem Umayyad-Platz in Damaskus während einer Demonstration für einen säkularen Staat Plakate in die Höhe.
Eine syrische Frau hält am 19. Dezember 2024 auf dem Umayyad-Platz in Damaskus während einer Demonstration für einen säkularen Staat Plakate in die Höhe. Copyright 2024 The Associated Press. All Rights Reserved

Wo liegt Syriens Zukunft?

Unter den Anhängerinnen und Anhängern von Ahmed al-Sharaa, dem vom Militärrat neu ernannten syrischen Präsidenten, herrscht eine überwältigende Begeisterung für eine Hinwendung Richtung Süden, zu den Ölstaaten am Golf. Dies zeigte sich bei seinem ersten offiziellen Auslandsbesuch als Staatschef – in Saudi-Arabien.

Die Enthusiastinnen und Enthusiasten in Syrien haben übersehen, dass Syrien kein ölreicher Staat ist und daher im Gegensatz zu den Golfstaaten nicht über das Potenzial für einen spürbaren Wirtschaftsboom verfügt, der einen Rückgang an sozialen und politischen Freiheiten ausgleichen könnte.

Ausserdem bieten diese Länder keine Finanzhilfen für wirtschaftliches Wachstum, sondern suchen ihrerseits politische Loyalität und Einfluss. Wir haben dies in Syrien erlebt, wo die Differenzen zwischen Saudi-Arabien, Katar und den VAE den Niedergang der Opposition zugunsten des Assad-Regimes zur Folge hatte. Auch in Ägypten führte dies in grösserem Massstab zum Scheitern des Arabischen Frühlings.

Welche Optionen gibt es für die Zukunft Syriens?

Die den Syrerinnen und Syrern zur Verfügung stehenden Optionen lassen sich nicht auf einen einzigen Ansatz beschränken, ganz gleich, was dieser verspricht. Entscheidungsmöglichkeiten sind immer mit einem politischen Preis verknüpft, der häufig das übersteigt, was wir uns leisten können. Doch wenn wir genau hinschauen, sehen wir ein Kapital, über das nur wenige Nationen verfügen: die syrische Diaspora, insbesondere in Europa, Kanada und den USA.

Nach der Flüchtlingswelle von 2014/2015 liessen sich über 1,5 Millionen Syrerinnen und Syrer in diesen Regionen nieder. Ein Jahrzehnt später haben sie sich integriert und ein hohes Mass an Fachwissen erworben, das dem ihrer Gastländer in nichts nachsteht. Diese haben eine grosse Zahl von ihnen erfolgreich aufgenommen, ausgebildet und in die Arbeitswelt integriert. Viele betrachten diese Menschen als Syriens grösste Hoffnung für die Zukunft.

Über ihre fachlichen Kompetenzen hinaus sind sie durch ihre Netzwerke innerhalb von Unternehmen, Berufsgruppen und Branchen fähig, das zu tun, was Syrien dringend braucht: Anschluss an die globale Wirtschaft, insbesondere an die freie Welt, zu schaffen und ihre Arbeitgeber im Ausland davon zu überzeugen, in Syrien als Zukunftsprojekt zu investieren. Dies erfordert jedoch zwei wesentliche Voraussetzungen:

  • Erstens: vollständige Stabilität, transparente Regierungsführung und eine klare Gewaltenteilung – derzeit noch ein ferner Traum. Stabilität muss Koexistenz und gegenseitige Anerkennung beinhalten und allen Gemeinschaften ihre Rechte garantieren.
  • Zweitens: eine unabhängige Justiz, die nicht von der Exekutive kontrolliert wird – unter dem derzeitigen Regime unmöglich. Der neue Justizminister Syriens, Shadi Al-Waisi, ist ein Kriegsverbrecher. Videobeweise zeigen, wie zwei Frauen in Idlib wegen angeblichen Ehebruchs hingerichtet werden, während er das Gericht leitet. Trotz Forderungen nach seiner Absetzung und strafrechtlichen Verfolgung bleibt er an der Macht. Schlimmer noch: Öffentliche Auspeitschungen – eine mittelalterliche Bestrafung – werden in Idlib und Umgebung fortgesetzt.

Wie kann man unter solchen Bedingungen eine Investorin, einen Partner oder eine Arbeitgeberin davon überzeugen, in einem Land zu investieren, das sich scheinbar in der Geschichte rückwärts bewegt? Selbst die am besten vernetzten Syrerinnen und Syrer im Ausland können nicht wirklich an den Erfolg ihrer Bemühungen glauben, wenn sich ihr Heimatland ins Mittelalter zurückentwickelt.

Im Gegenteil: Syrien in einen geeigneten Ort für vielfältige Investitionen zu verwandeln – der nicht nur von der Finanzierung durch die Golfstaaten abhängt – könnte Investoren auch aus den Golfstaaten, Einzelpersonen eher als Regierungen mit bestimmten politischen Forderungen, anlocken, die sich in Syrien mehr Erfolg versprechen als anderswo. In diesem Kontext sind eine demokratische Regierungsführung und Säkularismus nicht mehr Elitendiskussionen, sondern werden zu existenziellen Fragen für die syrische Wirtschaft, so wichtig sind wie Leben und Tod.

Unmittelbar nach dem Sturz des Diktators sprachen die Syrerinnen und Syrer im Exil nur noch davon, zurückzukehren und beim Wiederaufbau ihres Landes eine neue Rolle zu übernehmen. Aber ist das möglich?

Diese Frage bleibt unbeantwortet, da die Antwort der neuen Regierung noch aussteht. In der Zwischenzeit hat eine Generation von Exilantinnen und Exilanten, die das Land als Kinder verliess, eine Ausbildung im Ausland absolviert, viele von ihnen haben eine höhere Ausbildung abgeschlossen, andere studieren noch. Wie können wir diese Generation, die andere Kulturen und Fähigkeiten in sich aufgenommen hat, nutzen, wenn kein günstiges Umfeld besteht, das ihre Rückkehr befördert, damit sie beim Wiederaufbau des Landes helfen? Viele Fragen stellen sich, während dessen ist die neue Regierung, die «Hexen» der Demokratie und des Säkularismus zu jagen.

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Und was ist mit der Angst?

Als ich über die Proteste vom 19. Dezember nachdachte, wurden Erinnerungen an die vergangenen Demonstrationen während des friedlichen Aufstands in Syrien im Jahr 2011in mir wach. Viele standen damals zusammen – Alawitinnen und Alawiten, die das Regime ablehnen, einige Unentschlossene, sogar Islamistinnen und Islamisten, die der Demokratie zutiefst misstrauen. Doch im Mittelpunkt standen die Forderungen, nicht die Teilnehmenden. Was hat sich verändert?

Am 19. Dezember 2024, nur elf Tage nach dem Sturz des Diktators, herrschte noch immer Angst, die durch 14 Jahre Brutalität geschürt worden war. Der Protest war heftigen Angriffen ausgesetzt, ausgelöst durch die Anwesenheit ehemaliger Regimeanhängerinnen und -anhängern. Die Angst kehrte zurück; sie war nur für kurze Zeit verschwunden.

Ohne Transparenz und eine demokratische Regierungsführung ist es unmöglich, die Entwicklung der öffentlichen Meinung zu wirklich auszumachen. Wenn abweichenden Meinungen mit Misstrauen begegnet wird, kann jede und jeder zur Zielscheibe werden, nur weil sie oder er online seine Bedenken äussert.

Social Media Influencer, denen von der neuen syrischen Führung Vorrang eingeräumt wird, prägen die öffentliche Meinung, unabhängig von ihrem tatsächlichen Einfluss auf der Strasse – eine alarmierende Tatsache.

Der Kampf auf der Strasse stellt eine noch grössere Herausforderung dar. Solange die Angst bleibt, bietet sie jedem Diktator – oder einem aufstrebenden Diktator – einen Weg zurück an die Macht. Ohne die Überwindung der Angst wird es nie ein neues Syrien geben.

Shukri Al Rayyan ist ein in der Schweiz lebender Autor und politischer Kommentator aus Syrien. Sein Roman „Nacht in DamaskusExterner Link“ ist 2024 auf Deutsch erschienen.

Editiert von Benjamin von Wyl/ts; Übertragung aus dem Englischen mit der Hilfe von Deepl: Petra Krimphove / me

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