Niemand will die Taliban anerkennen. Und doch kehrt die Schweiz zurück nach Afghanistan
Die politische Isolation der Taliban durch die Weltgemeinschaft ist gescheitert. Leidtragende der Sanktionen ist die Bevölkerung, vor allem Mädchen. Jetzt weichen viele Staaten ihre Politik auf und suchen zumindest mit humanitären Zielen den Kontakt zu den Taliban. Auch die Schweiz. Was ist davon zu halten? Eine Analyse.
Es war eine dramatische Zäsur, deren Bilder sich bis heute ins Gedächtnis eingebrannt haben: Tausende Menschen, die im Sommer 2021 das Rollfeld des Kabuler Flughafens stürmten, sich in ihrer Verzweiflung gegenseitig niedertrampelten und sich an die Tragflächen startender Flugzeuge klammerten.
Innerhalb weniger Tage übernahmen damals die Taliban nach fast zwei Jahrzehnten erneut die Macht in Afghanistan, während sich die internationale Gemeinschaft fluchtartig aus dem Land zurückzog.
Bis heute hat kein Land der Welt die neuen Machthaber offiziell anerkannt, die das Land mittlerweile erneut mit eiserner Hand beherrschen. Die internationale Gemeinschaft hatte sich nach der Machtübernahme zunächst darauf verständigt, sie international zu isolieren.
Eine offizielle Anerkennung der Regierung und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen wurden bisher stets an die Einhaltung der Menschenrechte, insbesondere der Rechte von Frauen und Mädchen, sowie an die Bildung einer inklusiven Regierung geknüpft.
Die Isolation der Taliban bröckelt
Doch drei Jahre nach der Machtübernahme könnte dieser Konsens nun zu bröckeln beginnen. Während viele westliche Staaten Beziehungen zu den Taliban bisher strikt ablehnen, haben laut einer Studie Externer Linkdes Washington Institute for Near East Policy inzwischen immer mehr Regierungen offizielle oder informelle Beziehungen zu den Taliban aufgenommen. Dazu gehören neben Russland und China auch westliche Staaten wie Norwegen oder Grossbritannien.
Als eines der ersten europäischen Länder will nun auch die Schweiz im Herbst nach Afghanistan zurückkehren und das ehemalige Büro der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) zur Koordination der humanitären Hilfe wieder eröffnen.
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Das DEZA-Büro war nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 zunächst geschlossen und das Personal in die pakistanische Hauptstadt Islamabad evakuiert worden.
Nun sollen vier Angehörige des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe wieder permanent in Kabul stationiert werden und die Umsetzung der von der DEZA finanzierten Projekte in Afghanistan begleiten. Diese arbeitet in Afghanistan bisher vor allem mit multilateralen und internationalen Organisationen wie der UNO oder der Weltbank, aber auch mit internationalen und lokalen NGOs zusammen.
Die Schweiz könnte damit in Europa eine Art Vorreiterrolle einnehmen, während Länder wie Frankreich oder Deutschland sich bisher strikt gegen ein direktes Engagement vor Ort stellten und ihre Hilfsgelder zuletzt weiter reduziert hatten. Deutschland hatte kürzlich zudem für 2025 den vollständigen Rückzug seiner staatlichen Entwicklungsorganisation GIZ angekündigt, die ihre Arbeit bisher nur mit lokalen Mitarbeitern fortgesetzt hatte.
Denn drei Jahre nach der Machtübernahme stellt die Politik der Taliban viele Regierungen zunehmend vor ein Dilemma: Trotz jahrelanger Bemühungen westlicher Diplomat:innen zeigen sich die Taliban bisher wenig kompromissbereit.
Im Gegenteil: Immer rigoroser hatte die Regierung unter Emir Hibatullah Achundsada zuletzt ihren radikalen Kurs fortgesetzt. Erst im August erliess die Regierung ein neues «Tugendgesetz» mit dem nun noch strengere Kleidungs- und Verhalts Vorschriften vor allem für Frauen und Mädchen. Beiden ist bis heute der Besuch von weiterführenden Schulen und Universitäten verwehrt.
Hungern müssen vor allem die Mädchen in Afghanistan
Die Situation in Afghanistan sei von Anfang an nicht richtig eingeschätzt worden, um eine wirksame Strategie zu entwickeln, sagt der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze, ehemaliger Direktor des Nahost-Instituts in Bern.
Während die Taliban von Anfang an jede Kritik als Verletzung ihrer Souveränität betrachteten, habe sich die internationale Staatengemeinschaft mit den Sanktionen und Restriktionen gegen die Taliban eher selbst ein Hindernis geschaffen. Diese seien zwar politisch notwendig, um dem Regime der Taliban die Legitimität zu entziehen – aber gesellschaftlich kontraproduktiv, da sie auf Dauer die Nachhaltigkeit der humanitären Hilfe unterliefen.
Denn eine weitere Isolierung des Landes könnte langfristig vor allem die afghanische Bevölkerung selbst treffen. Abgeschnitten vom internationalen Bankenverkehr und mit wirtschaftlichen Restriktionen belegt, hat sich die afghanische Wirtschaft bis heute nicht von ihrem Zusammenbruch erholt, während jährlich Hunderttausende junger Afghanen auf den Arbeitsmarkt strömen.
Das Land befindet sich in einer der grössten humanitären Krisen der Welt: Mehr als ein Drittel der 40 Millionen Afghan:innen könnte nach UN-Angaben in diesem Jahr von Ernährungsunsicherheit betroffen sein. Nach Angaben der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen liegt die Sterblichkeitsrate bei Mädchen um fast 90% höher als bei Jungen.
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Gleichzeitig sind die internationalen Hilfsgelder zuletzt drastisch zurückgegangen. Bezifferte die UNO ihr Spendenziel zu Beginn dieses Jahres auf knapp 3,2 Milliarden US-Dollar, so ist bis heute erst knapp ein Viertel davon zusammengekommen.
Zwar waren auch die Schweizer Gelder nach der Machtübernahme deutlich gesunken, von knapp 60 Millionen Franken im Jahr 2022 auf etwa 24 Millionen in diesem Jahr, doch gehört die Schweiz noch immer zu den grössten humanitären Akteuren im Land.
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Die Taliban spielen auf Zeit
Den Taliban sei längst klar, dass es langfristig keine offizielle Anerkennung ihrer Regierung durch die internationale Staatengemeinschaft geben werde, sagt auch der Afghanistan-Experte Ibrahim Bahiss von der internationalen Denkfabrik Crisis Group. Zu sehr stünden die Ideologie der Taliban und ihre Auslegung des Islam im Widerspruch zu Grundwerten wie etwa der Menschenrechtscharta der UNO.
Gleichzeitig spiele das Regime aber auch auf Zeit, wohl wissend, dass viele Staaten – vor allem in der unmittelbaren Nachbarschaft – aus sicherheits- und wirtschaftspolitischen Gründen über kurz oder lang keine andere Wahl hätten, als zumindest informelle Beziehungen mit ihnen aufzunehmen.
Auch die Vereinten Nationen hatten sich zuletzt um einen pragmatischeren Umgang mit der neuen Regierung in Kabul bemüht und die Taliban Anfang Juni erstmals zu offiziellen Gesprächen mit Sondergesandten von 20 Nationen in die katarische Hauptstadt Doha eingeladen, um unter anderem über Möglichkeiten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, etwa im Privatsektor, zu sprechen.
Das Treffen soll der Beginn eines Prozesses sein, der langfristig zur Reintegration des isolierten Landes in das internationale System führen soll, um der afghanischen Bevölkerung nachhaltig zu helfen.
Doch das Engagement ist nicht unumstritten: Bereits im Vorfeld hatte es heftige Kritik gegeben. Eine Gruppe der Hauptgeberländer, darunter unter neben Frankreich und Deutschland auch die USA, hatten in einem Brief an die UN-Zentrale in New York gedroht, dem Treffen fernzubleiben oder ihre Beteiligung einzuschränken.
Sie forderten neben den Taliban müssten auch die Stimmen der afghanischen Zivilgesellschaft gehört und die Menschenrechtssituation im Land auf die Tagesordnung gesetzt werden. Die Taliban lehnen dies jedoch strikt ab. Erst im Februar hatten sie deshalb ein anderes Treffen platzen lassen.
Ein Schweizer Mittelweg als Ausweg?
Mit der Eröffnung des DEZA-Büros im Herbst könnte die Schweiz nun zumindest einen Mittelweg gehen, ihre humanitäre Hilfe vor Ort auszubauen, während die Schweizer Botschaft aus politischen Gründen weiter geschlossen bleibt. Laut DEZA sollten die Mitarbeitenden im begrenzten Rahmen dafür auch Kontakte mit den Taliban aufnehmen, die sich jedoch auf die humanitäre Hilfe beschränken sollen.
Martin Hongler, Vizepräsident der Schweizer Afghanistanhilfe, einer privaten Hilfsorganisation, die seit Jahrzehnten mit privaten Spenden Hilfsprojekte in Afghanistan realisiert, unterstützt den Schritt der DEZA.
Diese habe bereits in der Vergangenheit geholfen, Hilfsprojekte wie den Betrieb eines Gesundheitszentrums zu realisieren. «Es ist schwierig, Hilfe zu leisten und die Situation zu beurteilen, wenn man nicht vor Ort in Afghanistan ist», sagt Hongler. Es sei ein Irrglaube, dass man den Menschen helfen könne, ohne dass die Taliban-Behörden mit einbezogen würden oder indirekt davon profitierten: «Man sollte den Menschen aber nicht die Hilfe verweigern, nur weil sie die falsche Regierung haben.»
Editiert von Marc Leutenegger
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