Oleg Radzinsky: «Ich hoffe, Alexej Nawalnys Tod rüttelt westliche Politiker auf»
Viele russische Dissidenten in der Schweiz haben Alexej Nawalny gewürdigt, der am 16. Februar im Alter von 47 Jahren in einem russischen Gefangenenlager gestorben ist. Nawalny hatte der Schweiz wiederholt Selbstgefälligkeit gegenüber Oligarchen und dem russischen Regime vorgeworfen. Oleg Radzinsky und Mikhail Shishkin, zwei in der Schweiz lebende russische Schriftsteller, reagieren exklusiv für SWI swissinfo.ch.
«Alexej Nawalny hatte keine Angst vor dem Kreml. Aber der Kreml hatte Angst vor Alexej Nawalny. Er wurde von Putins Regime getötet. Es war eine feige und hinterhältige Ermordung eines Mannes, der für das Regime gefährlich war. Ich hoffe, dass der Tod von Alexej Nawalny die westlichen Politiker aufrütteln wird.» Der russische Dissident und Schriftsteller Oleg Radzinsky, selbst ein Überlebender des russischen Gefängnissystems, nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er den Tod Nawalnys anprangert.
Mikhail Shishkin, ein weiterer in der Schweiz lebender russischer Schriftsteller, reagierte mit ähnlichen Emotionen. «Nawalny wurde getötet. Das Regime kann nicht zulassen, dass auch nur einer seiner Untergebenen widerspricht: Das Volk muss den Mund halten und sich über jedes Wort ihres Präsidenten freuen. Sie haben versucht, Nawalny zu vergiften, aber das hat nicht funktioniert, also haben sie ihn auf spektakuläre Art und Weise hingerichtet», sagte Shishkin.
Nawalny wurde im August 2020 vergiftet und liess sich in Deutschland behandeln, bevor er im Februar 2021 nach Russland zurückkehrte. Er wurde sofort verhaftet und verbüsste mehrere Gefängnisstrafen, darunter eine wegen Extremismus. Ende 2023 wurde er schliesslich in ein Gefangenenlager in Sibirien verlegt.
Nawalny war nicht nur ein unermüdlicher Kritiker des Regimes von Präsident Wladimir Putin, sondern bezeichnete auch die Schweiz bei zahlreichen Gelegenheiten als «bequemen Ort für korrupte Leute». Insbesondere warf er dem Land vor, den Kampf gegen die Korruption in Russland zu untergraben.
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In einem Interview mit der SonntagsZeitungExterner Link im Jahr 2020 kritisierte er den damaligen Bundesanwalt Michael Lauber für seine zu engen Verbindungen zur russischen Staatsanwaltschaft.
Im selben Interview erwähnte Navalny auch die Artem-Tschaika-Affäre und bezog sich dabei auf den Sohn des ehemaligen russischen Generalstaatsanwalts Juri Tschaika, der «mit zwei Millionen Dollar nach Genf kam», ohne dass «ihm jemand Fragen stellte». Im Jahr 2016 stellte die Schweizer Bundesanwaltschaft den Fall nach einer Untersuchung des Fedpol ein.
Nawalny hatte über seine Anti-KorruptionsstiftungExterner Link auch aufgedeckt, dass Lauber häufig nach Russland reiste, um seinen russischen Amtskollegen zu besuchen. Er erwähnte insbesondere eine Reise auf einem Ozeandampfer und Jagdausflüge. Seiner Ansicht nach behinderten diese Beziehungen «wichtige Ermittlungen zur Geldwäsche in der Schweiz».
Diese Kritik am Schweizer Finanzsystem wird von Mikhail Shishkin geteilt: «Alle Versuche von Alexej Nawalny und seiner Stiftung, russische Kriminelle zu entlarven, die Millionen an Schweizer Banken gespendet haben, stiessen auf Widerstand (der Schweiz) oder bestenfalls auf Untätigkeit. Leider hat Putins Regime auch dank der Schweizer Selbstgefälligkeit Erfolg gehabt», sagte er.
Der Tod Nawalnys, eines erbitterten und öffentlichkeitswirksamen Gegners von Wladimir Putin, in einem russischen Gefangenenlager hat auch weltweit Reaktionen ausgelöst.
«Die Schweiz ist bestürzt über den Tod von Alexej Nawalny, einem vorbildlichen Verfechter der Demokratie und der Grundrechte. Sie erwartet, dass eine Untersuchung über die Ursachen seines Todes eingeleitet wird. Unser Beileid und unsere Gedanken sind bei seiner Familie», postete das Schweizer Aussenministerium auf dem Kurznachrichtendienst X, vormals Twitter.
«Ich hatte ähnliche Gefühle, als (der sowjetische und russische Journalist Wladislaw) Listjew (1995) ermordet wurde», sagte der ehemalige russische Diplomat Boris Bondarev gegenüber SWI swissinfo.ch, als er vom Tod Navalnys erfuhr. Bondarev war früher Berater der russischen Gesandtschaft bei den Vereinten Nationen in Genf; er trat nach der russischen Invasion in der Ukraine zurück. Derzeit wohnt er in der Schweiz.
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«Die Schweizer Behörden hätten sich weniger mit korrupten russischen Führern anfreunden, weniger Geld von Oligarchen annehmen und vor allem mehr Waffen an die Ukraine liefern sollen», sagte der Ex-Diplomat.
Überall auf der Welt fanden Gedenkveranstaltungen zum Andenken an Alexej Nawalny statt, so auch in der Schweiz, namentlich in Zürich und Genf.
«Auf die Frage, wie man Demokratie lehren kann, gibt es nur eine Antwort: durch Vorbilder. Hätte die Schweiz der jungen russischen Demokratie der 1990er Jahre wieder auf die Beine helfen können? Ja. Die russische Bevölkerung wollte so leben wie in der Schweiz, aber sie hatte keine historische Erfahrung mit dem Leben in einem Rechtsstaat. Was hat die führende Demokratie Europas den Russen gezeigt? Nur, dass wenn es um grosse Summen geht, die Rechtsstaatlichkeit aufhört. Die russische kriminelle Diktatur gedieh dank der Unterstützung durch Schweizer Banken und Schweizer Anwälte.
Ich war damals Übersetzer und habe persönlich beobachtet, wie die Schweizer Maschinerie zur Wäsche von schmutzigem Geld aus Russland funktionierte. Der Geruch von russischem Geld hat die Schweizer überhaupt nicht gestört.
Der Rechtsstaat ist einfach: Wer das Gesetz bricht, kommt ins Gefängnis. Ich habe gesehen, wie es in der Schweiz funktioniert, wenn man im Tram ein Portemonnaie stiehlt. Wenn Sie ein ganzes Land bestohlen haben, werden Ihre Millionen von den Bankern, den Anwälten und den Beamten der Aufsichtsbehörden begrüsst.
Alexej Nawalny und seine Anti-Korruptionsstiftung haben diese Erfahrung gemacht. Alle ihre Versuche, die russischen Kriminellen zu entlarven, die Millionen an Schweizer Banken überwiesen haben, stiessen auf Widerstand (der Schweiz) oder bestenfalls auf Untätigkeit. Leider ist Putins Regime auch dank der Schweizer Selbstgefälligkeit gut gediehen.
Jetzt wurde Nawalny ermordet. Das Regime kann nicht zulassen, dass auch nur einer seiner Untergebenen widerspricht: Das Volk muss schweigen und sich über jedes Wort ihres Präsidenten freuen. Sie haben versucht, Nawalny zu vergiften, aber es hat nicht funktioniert, also haben sie ihn auf spektakuläre Art und Weise hingerichtet.
Und die Schweiz trägt eine gewisse Verantwortung für das Entstehen dieser Diktatur in Russland, die Tod und Unglück über ihr Volk und die ganze Welt bringt. Demokratie ist nicht nur ein Zeichen, sie ist ein täglicher Kampf.»
Mikhail Shishkin lebt seit 1995 in der Schweiz. Im Jahr 2000 wurde er mit dem Werkbeitrag-Stipendium des Kantons Zürich für «Die Russische Schweiz» ausgezeichnet.
«Alexej Nawalny hatte keine Angst vor dem Kreml. Aber der Kreml hatte Angst vor Alexej Nawalny. Er wurde von Putins Regime getötet. Kein Argument über die ’natürlichen Ursachen› von Nawalnys Tod ist akzeptabel, weil für ihn seit Jahren künstlich feindliche Lebensbedingungen geschaffen wurden.
Es handelte sich um eine feige und hinterhältige Ermordung eines Mannes, der für das Regime gefährlich war. Er wurde mit Nowitschok vergiftet, bei seiner Rückkehr nach Russland nach einer Behandlung in Deutschland verhaftet und zu einer Haftstrafe nach der anderen verurteilt. Seine Haftbedingungen wurden verschärft, er wurde wiederholt in eine psychiatrische Abteilung eingewiesen und bis aufs Äusserste getestet. Und er ertrug all das – ein Mann von beispielloser persönlicher und ziviler Courage. Alexej Nawalny hat bis zum Ende alles ausgehalten.
Leider können westliche Politiker, einschliesslich jene der Schweiz, im Gegensatz zu ihm nicht dasselbe sagen: Während Putin und seine Schergen die Opposition weiter zerstörten und diejenigen töteten und inhaftierten, die es wagten, gegen ihre Verbrechen zu protestieren, kauften Putins westliche ‹Partner› weiterhin russisches Öl, Gas und Metalle, erteilten den Nutzniessern des russischen Regimes Aufenthaltsgenehmigungen und lagerten deren Geld in ihren Banken.
Dieser Mangel an Prinzipien führte dazu, dass Putin sich völlig ungestraft und allmächtig fühlt und, nachdem er sein eigenes Volk unterdrückt hatte, ging er zur militärischen Aggression gegen das ukrainische Volk über.
Ich hoffe, dass der Alexej Nawalnys Tod westliche Politiker wachrüttelt und dass sie in sich selbst die Kraft und den Mut finden, dem Bösen zu widerstehen – Putins Diktatur und Aggression. Alexej Nawalny hatte keine Angst vor dem Kreml. Und deshalb hatte der Kreml Angst vor Alexej Nawalny.»
Oleg Radzinsky ist ein Schriftsteller und sowjetischer Dissident, der wegen «antisowjetischer Agitation und Propaganda» fünf Jahre im Gefängnis und in Sibirien sass. Nach seiner Entlassung wanderte er in die Vereinigten Staaten aus und lebt heute in der Schweiz und in Grossbritannien. Er hat unter anderem die Romane «Surinam» und «Random Lives» geschrieben. Im September 2023 wurde er von den russischen Behörden beschuldigt, ein «ausländischer Agent» zu sein.
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Editiert von Virginie Mangin. Übertragung aus dem Französischen von Matthias Hug
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