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Philippe Currat: «Israels Reaktion ist völlig unverhältnismässig. Das ist keine Selbstverteidigung»

Ein palästinensischer Junge auf einem Fahrzeug.
Auf der Flucht: Palästinenser aus dem Norden des Gazastreifens gehen in Richtung Süden. Keystone

Die humanitäre Situation im Gazastreifen stellt ein Kriegsverbrechen oder sogar ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, sagt Philippe Currat, Schweizer Experte für den Internationalen Strafgerichtshof. Den Angriff der Hamas vom 7. Oktober kritisiert er scharf, stellt aber klar: Das war kein Völkermord.

In einer ersten Entscheidung im Fall Südafrikas gegen Israel wegen des Vorwurf eines «Völkermords» in Gaza hat der Internationale Gerichtshof (IGH) Sofortmassnahmen angeordnet. Israel müsse unverzüglich sicherstellen, dass seine Armee nicht gegen die Völkermordkonvention verstosse.

In den Anhörungen, die am 26. Januar wieder aufgenommen wurden, müssen die Richter:innen eine Entscheidung in der Sache treffen. Philippe Currat, Anwalt in Genf und Experte für internationales Recht, erklärt, warum dieser Prozess für die internationale Justiz wegweisend ist.

SWI swissinfo.ch: Der Internationalen Gerichtshof hat Israel aufgefordert, alle notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um einen Völkermord zu verhindern. Hält sich die israelische Regierung Ihrer Meinung nach an diese Anordnung?

Philippe Currat: Es ist kompliziert, das im Detail zu sagen. Israel muss sich innerhalb der gesetzten Frist erneut an den Gerichtshof wenden. Aber diese Präventivmassnahmen sind ganz wesentlich und fallen voll und ganz unter das Mandat des Internationalen Gerichtshofs.

Portrait von Philippe Currat, Brille, dunkler Anzug.
Philippe Currat ist Rechtsanwalt in Genf und Spezialist für internationales Strafrecht. Keystone/© Ti-Press

Philippe Currat, Rechtsanwalt in Genf, ist Spezialist für internationales Strafrecht. Er verfasste seine Doktorarbeit zum Thema «Die Straftaten gegen die Menschlichkeit in den Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs». Im Jahr 2005 wurde er vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) zum leitenden Rechtsberater des Staatsanwalts beim Sondergerichtshof für Sierra Leone ernannt.

Was passiert, wenn Israel die Forderungen des Internationalen Gerichtshofs nicht erfüllt?

Der Gerichtshof hat nicht die Mittel, um diese Entscheidungen mit Gewalt durchzusetzen, da ihm keine internationale Polizei zur Verfügung steht. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kann jedoch Schritte einleiten, um einen Staat dazu zu zwingen, seinen Verpflichtungen gemäss einer Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs nachzukommen. Hier ergibt sich allerdings das Problem eines potenziellen Vetos einiger Mitglieder des Sicherheitsrats, insbesondere der USA.

Wie beurteilen Sie den IGH-Beschluss insgesamt?

Die Anordnung ist äusserst interessant. In erster Linie, weil sie die eindeutige Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs für die Frage der Überwachung der Einhaltung der Uno-Völkermordkonvention festlegt.

Es läge im Interesse Israels, diese Anordnung sehr ernsthaft zu befolgen. Ich stelle immerhin fest, dass Israel anwesend war, sich verteidigt und seine Argumente dargelegt hat. Das ist bereits ein Akt, der an sich die Legitimität des internationalen Rechtsverfahrens vor dem IGH anerkennen lässt.

Kann die Klage Südafrikas dazu dienen, einen Dialog zwischen den Kriegsparteien zu eröffnen?

Israel hat das Ziel, die Hamas auszurotten, und die Hamas hat das Ziel, Israel zu zerstören oder zumindest nicht anzuerkennen. Davon ausgehend ist die Intervention eines Drittstaates wie Südafrika auf juristischer Ebene ein Ansatz, der uns aus der Krise herausführen und eine viel rationalere Analyse der Situation ermöglichen kann. Ich finde das sehr positiv.

Glauben Sie, dass es eine Möglichkeit gibt, auch die Massaker der Hamas in Israel vor dem Gerichtshof zu verhandeln? Warum hat z.B. kein anderer Mitgliedstaat der Konvention nach den Massakern vom 7. Oktober Klage eingereicht?

Meiner Meinung nach muss man zwischen mehreren Dingen unterscheiden. Offensichtlich handelt es sich bei dem Angriff vom 7. Oktober um einen kriminellen Angriff. Er richtet sich hauptsächlich gegen die Zivilbevölkerung und ist als solcher somit ein Kriegsverbrechen.

Der Angriff ist aufgrund seiner Planung, der Zahl der Opfer und der Vorgehensweise wahrscheinlich auch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Handelt es sich um Völkermord? Meiner Meinung nach auf keinen Fall. Er hat nicht die Dimensionen eines Völkermords.

Eine Frau mit Bildern von Menschen, die von der Hamas als Geiseln verschleppt wurden.
Eine Frau mit Bildern von Geiseln, die von der Hamas verschleppt wurden. KEYSTONE/Copyright 2024 The Associated Press. All rights reserved.

Die Situation ist seit mehreren Jahren Gegenstand von Ermittlungen vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), bei dem erst kürzlich wieder neue Beschwerden eingegangen sind. Der Fall wird also unter strafrechtlichen Gesichtspunkten behandelt. Haftbefehle könnten sich gegen alle Beteiligten richten, insbesondere gegen die Urheber des Angriffs vom 7. Oktober, gegen Hamas-Führer oder israelische Führer.

Auch aufgrund der humanitären Lage im Gazastreifen?

Die humanitäre Situation im Gazastreifen stellt auch hier eindeutig ein Kriegsverbrechen dar, denn die zivilen Opfer sind eindeutig nicht nur Kollateralschäden. Dieser massiv unverhältnismässige Ansatz von Angriffen auf Zivilisten, mit dem versucht wird, die Hisbollah im Norden des Landes an der libanesischen Grenze und die Hamas im Gazastreifen zu entmutigen, ist eine relativ alte Interventionsdoktrin der israelischen Armee. Handelt es sich auch hier um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Meiner Meinung nach zweifellos.

Ist der IGH ebenso wie der Internationale Strafgerichtshof in der Lage, seine Untersuchungen durchzuführen und Zeug:innen auf beiden Seiten zu befragen, oder kann er nur die Fakten feststellen?

Die Prozesse sind sehr unterschiedlich. Der Internationale Gerichtshof wird nicht auf eigene Faust ermitteln. Er hat weder das Personal noch die Kompetenzen, um dies zu tun. Er wird die Parteien lediglich anhören. Südafrika, das den Fall eingebracht hat, wird dem Gerichtshof das Material vorlegen, das es selbst zusammengestellt hat. Die israelische Seite wird ihrerseits ihre eigenen Beweise einbringen. Die anderen Staaten können weitere Belege vorbringen, um dem Gerichtshof zu helfen, den Sachverhalt zu verstehen und zu entscheiden.

Anders verhält es sich mit dem Internationalen Strafgerichtshof. Wir befinden uns in einem System, das sich dem angelsächsischen Strafrechtssystem annähert, mit der Staatsanwaltschaft, der Position der Verteidigung und der Position der Opfer.

Eine Frau in einem Zelt aus einer Plastikplane
Eine geflohene Palästinenserin im südlichen Gaza. KEYSTONE/Copyright 2023 The Associated Press. All rights reserved.

Südafrika behauptet, dass Israel Geburten in Gaza erschwert und die Bevölkerung absichtlich aushungert. Israel wiederum betont, dass Südafrika versucht, den Gerichtshof zu täuschen. Auf Wunsch der Hamas werde versucht, sich von Mordvorwürfen freizusprechen und Israel das Recht auf Selbstverteidigung zu verweigern. Was denken Sie?

Im Hinblick auf die Frage der Fertilität spricht man von dem Verbrechen des Völkermords, wenn die Absicht besteht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten. Diese Absicht betrifft eine Reihe von Verbrechen, die in Artikel 6 des Römischen Statuts oder in der Völkermordkonvention aufgelistet sind.

Dies betrifft die Geburtenkontrolle oder Massnahmen, die darauf abzielen, Geburten innerhalb einer Gruppe zu verhindern. Ein weiterer möglicher Akt des Völkermords ist die Unterwerfung der Zielbevölkerung unter Existenzbedingungen, die zur vollständigen oder teilweisen Zerstörung der Gruppe führen sollen. Das ist es, was heute im Gazastreifen im Grunde genommen zur Debatte steht.

Das heisst, Sie haben eine palästinensische Bevölkerung, die hinter unüberwindbaren Zäunen eingeschlossen ist, die in keine Richtung fliehen kann, weder nach Israel, das fast den gesamten Zaun kontrolliert, noch nach Ägypten, das seine Grenzen geschlossen hat.

Wenn die Zivilbevölkerung keinen Zugang zu Wasser, Strom, Treibstoff, Medikamenten und humanitärer Hilfe hat – und das ist einer der Punkte, auf denen der Internationale Gerichtshof besteht –, dann werden tatsächlich unhaltbare Lebensbedingungen für die Zivilbevölkerung in Gaza herbeigeführt.

Dies könnte potenziell einen Fall von Völkermord darstellen, wenn diese Handlungen absichtlich und mit dem Ziel unternommen werden, die Palästinenser als nationale, rassische, ethnische oder religiöse Gruppe zu zerstören.

Ein weiterer Punkt Ihrer Frage ist die Selbstverteidigung. Diese ist im internationalen Recht üblich. Sie wird sogar von der Charta der Vereinten Nationen als die Ausübung eines vollkommen legitimen Rechts anerkannt. Worum geht es dabei? Es geht darum, einen aktuellen oder drohenden Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren. Es ist völlig legitim, dass Israel den Angriff vom 7. Oktober zurückschlägt, d. h. dass es dafür sorgt, dass die Angreifer gestoppt und möglicherweise sogar eliminiert werden.

Was hier nicht legitim ist und keine Form der Selbstverteidigung sein kann, ist die völlig unverhältnismässige Dimension der Reaktion und die Tatsache, dass sie sich hauptsächlich gegen Zivilisten richtet.

Jedes Mal, wenn der Begriff Verhältnismässigkeit auftaucht, antwortet Israel, dass die Verhältnismässigkeit in dieser Logik darin bestanden hätte, 1200 Zivilisten in ihren Häusern zu töten, schwangere Frauen und ihre ungeborenen Kinder, also zu wiederholen, was die Hamas am 7. Oktober getan hat.

Was bedeutet Verhältnismässigkeit? Die Verhältnismässigkeit wird unter Berücksichtigung der gesamten Umstände beurteilt. Dass ein Angreifer auf der einen Seite eine schwangere Frau getötet hat, setzt einen nicht ins Recht, dasselbe auf der anderen Seite zu tun. Ist es verhältnismässig, in ein Haus einzudringen, in dem Geiseln festgehalten werden, um sie zu befreien? Ja. Darf man dafür eine ganze Stadt und ihre Bevölkerung zerstören? Nein.

Editiert von Virginie Mangin/sj, aus dem Französischen übertragen von Marc Leutenegger

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