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Schweizer Dschihadist:innen seit sechs Jahren ohne Verfahren in Syrien im Gefängnis

Mann in Gefängniskleidung mit einer Augenbinde.
Das Team der RTS-Sendung "Temps Présent" konnte mit den Schweizer Dschihadisten, die in Nordostsyrien inhaftiert sind, sprechen. Temps Présent, RTS

Im Nordosten Syriens hat ein Team der Sendung "Temps Présent" des Westschweizer Fernsehens RTS drei Schweizer Dschihadisten in Gefängnissen aufgespürt. Sie sind unterernährt und werden seit sechs Jahren ohne Gerichtsverfahren festgehalten. Im Lager Roj traf das Team auch eine Frau aus Lausanne und ihre siebenjährige Tochter.

Serena (Aliasname), eine 36-jährige Frau aus Lausanne, und ihre siebenjährige Tochter sind im Lager Roj eingesperrt, das von kurdischen Truppen bewacht wird. Sie leben in Zelten und ohne Strom aufgrund der türkischen Bombenangriffe, die seit einigen Monaten verstärkt auftreten.

“Das letzte Mal waren die Bomben wirklich sehr nah, sie schlugen 6-7 Mal an derselben Stelle ein, der Himmel war völlig orange”, erzählt Serena. Weil ihre Tochter wegen ihrer blonden Haare von den anderen Kindern belästigt wurde, hat sie das Mädchen aus der arabischsprachigen Schule des Lagers genommen und unterrichtet sie so gut es geht auf Französisch.

Allerdings besitzt sie nur ein einziges Schulbuch. Die Frau aus Lausanne macht sich Sorgen um ihre Tochter, die unter Mangelerscheinungen und Zahnproblemen leidet, weil sie nicht ausreichend versorgt wird. “Sie ist schwer krank geworden. Ich dachte, es sei die Cholera. Aber hier gibt es keine Ärzte.”

Sehen Sie die ganze Reportage hier (auf Französisch):

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Keine Rückführung erwachsener Frauen

Im Gegensatz zur Mehrheit der westlichen Staaten weigert sich die Schweiz, Mütter mit ihren Kindern zurückzuführen (siehe Kasten). Bern bot Serena an, dass ihre Tochter zurückkehre, aber ohne sie.

“In einem gewissen Alter wird sie das vielleicht wollen, aber im Moment spüre ich das nicht von ihr, und für mich wäre es tatsächlich sehr hart, von ihr getrennt zu sein. Denn sie ist ein kleiner Sonnenstrahl in diesem Ozean der Finsternis. Alle Länder haben repatriiert und wir sind immer noch hier.”

Die Lausannerin versucht durchzuhalten. “Für die Kleine kann ich mich nicht unterkriegen lassen. Man versucht, ein bisschen auszublenden, sonst wird man verrückt.” Von ihrem Ehemann Aydin B, der seit 2018 inhaftiert ist, hat sie nichts gehört.

Das Gefangenenlager Camp Roj in Nordsyrien, eine Frau mit einem Kind
Samira aus Belgien läuft durch das Lager Roy in Nordsyrien. Keystone/Copyright 2019 The Associated Press. All rights reserved.

Unterernährung und Tuberkulose

Das Team von “Temps Présent” konnte auch mit zwei Schweizer Dschihadisten, einem Genfer und einem Waadtländer, sprechen, die von den kurdischen Streitkräften festgehalten werden.

Sie sind von der Aussenwelt abgeschnitten und haben von den Schweizer Behörden nichts gehört. Sie sind dünn und unterernährt.

“Alle sind schwach”, sagt Aydin B. “Ich versuche zu laufen, aber ich bin schnell müde. Wenn du psychisch schwach bist, ist es vorbei. Die Leute, sie hören auf zu essen, sie hören auf zu trinken und langsam sterben sie.”

Die Männer sind zu 25-30 Personen pro Zelle in Gefängnissen eingesperrt, in denen eine Tuberkulose-Epidemie herrscht.

“Im Gefängnis ist zuletzt ein Katarer gestorben, ein Schwede ist gestorben, ein Däne ist gestorben, ein Bahrainer ist gestorben (…)”, erklärt der 34-jährige Damien G.

Auch sechs Jahre nach der Niederlage der Gruppe Islamischer Staat sind die Schweizer, wie die meisten Ex-Dschihadisten, noch nicht vor einem Gericht gestanden.

Die Kurden sind überfordert

Die Kurden, die seit 2018 mit der Bewachung von fast 70’000 Dschihadist:innen und ihren Familien beauftragt sind, sagen, sie seien bei der Bekämpfung der Tuberkulose-Epidemie machtlos.

“Unsere Mittel sind unzureichend. Unsere Region wird belagert und wir haben Schwierigkeiten, Medikamente gegen Tuberkulose zu bekommen”, erklärte Khalid Al-Rammo, Mitverantwortlicher der Abteilung Justiz und Reformen der Autonomen Verwaltung Nordostsyrien (AANES), gegenüber “Temps Présent”.

Trotz der Ansteckungsgefahr müssen sich 30 Männer eine Zelle teilen, ohne warmes Wasser und manchmal, wegen der türkischen Bombardements, ohne Strom.

Als autonomes Gebiet in den Händen der syrischen Kurd:innen wird die Region im Norden von der Türkei und im Süden von Syrien unter Baschar al-Assad bedroht. Seit letztem Herbst bombardiert die Türkei Kraftwerke und Raffinerien. Sie nimmt auch kurdische Militärs und Funktionäre ins Visier.

Seit dem Sieg über Daesh verwalten die Kurden riesige Lager und rund 15 Gefängnisse. Sie werden dabei von den Herkunftsländern der Häftlinge finanziell unterstützt. Grossbritannien hat beispielsweise Millionen von Dollar in das “Panorama”-Gefängnis investiert, doch für die Kurd:innen reicht die Hilfe nicht aus.

Die Kurd:innen haben dem Team von “Temps Présent” mündlich das Ergebnis ihrer Ermittlungen mitgeteilt, Informationen, die unmöglich zu überprüfen sind.

Daniel D., 30 Jahre alt, radikalisiert sich im Alter von 18 Jahren. Im Jahr 2015 verlässt er Genf, um sich Daesh anzuschliessen. Den Kurden zufolge wird er Kämpfer, Scharfschütze und bewirbt sich für ein Selbstmordattentat im Irak, das schliesslich nicht stattfindet. Er wird 2019 verhaftet, als er versucht, seine Frau und seine Tochter aus dem Lager Al-Hol zu befreien.

Der Genfer befindet sich seit fünf Jahren im Gefängnis. Mit der Erklärung, dass er “nicht die Fassung dafür habe”, wollte er nicht mit dem Team von “Temps Présent” sprechen.

Damien G. ist 34 Jahre alt. Er stammt ursprünglich aus Algerien und wurde im Alter von einem Monat von einer Waadtländer Familie adoptiert. Als junger Erwachsener, der süchtig nach Videospielen ist, reist er 2014 nach Syrien. Nach Angaben der Kurden stand er französischen Kämpfern nahe und erlangte Funktionen in der Polizei und der Armee des IS. Er kämpfte bis zum Ende, bis der Daesh im Dorf Baghouz besiegt wurde.

Aydin B., 30 Jahre alt. Wurde in einem anderen Gefängnis als die beiden anderen inhaftiert, die Kurden konnten nicht viel gegen ihn finden. Der Lausanner wurde im Internet rekrutiert und radikalisiert und schloss sich 2015 mit seiner Frau dem IS an. Kurz nach seiner Ankunft kam es zu einer Ernüchterung, und das Paar versuchte, in die Schweiz zurückzukehren, was ihm jedoch nicht gelang.

Aydin B. behauptete stets, nicht gekämpft zu haben, eine Information, die nicht überprüfbar ist. In einer Notiz des IS wird erwähnt, dass Aydin B. ein Problem darstellt, da er sich weigert zu kämpfen. Ende 2017, als er eine mittlerweile neun Monate alte Tochter hat, bezahlt das Paar einen Schlepper, um in die Schweiz zu gelangen. Dieser aber verrät sie und übergibt sie den Kurden.

“Wir haben Zehntausende von Märtyrern geopfert, wir haben dafür gekämpft, dass eure Länder, auch die Schweiz, in Frieden leben können. Wir müssen kooperieren”, sagt Siyamend Ali, Medienverantwortlicher der Volksschutzeinheiten (YPG) und Kommandant der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF).

Im Nordosten Syriens häufen sich die Spannungen. Die Kurd:innen werden seit Jahren von ihren syrischen und türkischen Nachbar:innen angegriffen. Sie fordern die internationale Gemeinschaft auf, ihrer Verantwortung gerecht zu werden, ihre Staatsangehörigen vor Gericht zu stellen und zurückzuführen.

“Bisher hat die internationale Gemeinschaft jedoch noch nicht reagiert”, sagt Badran Cia Kurd, der bis zu diesem Frühjahr für die auswärtigen Angelegenheiten der Autonomen Verwaltung Nordostsyrien mitverantwortlich war.

“Diese Haltung ist nicht unverantwortlich. Die Länder haben weder die Entscheidung getroffen, sie zurückzuführen, noch die Idee unterstützt, ein Tribunal einzurichten, um sie vor Gericht zu stellen. Sie wollen einfach so weitermachen wie bisher. Wenn aber keine umfassende Lösung gefunden wird, die auch ein Tribunal einschliesst, wird die Situation noch gefährlicher werden.”

Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Fionnuala Ni Aolain, bis 2023 UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte und Terrorismusbekämpfung, schätzt, dass bis zu 75% der Häftlinge in der Region an Tuberkulose erkranken könnten. Unterernährt und unbehandelt beträgt das Risiko, zu sterben, 50 Prozent.

“Diese Männer befinden sich in einer Todesfalle”, sagt Ni Aolain, die im Sommer 2023 die kurdischen Gefängnisse besuchte. Die zentrale Frage ist, ob dies beabsichtigt ist, ob es eine bewusste Entscheidung ist, eine bestimmte Gruppe von Häftlingen auszuhungern und nicht zu behandeln. Ich denke, dass das Vorgehen damit in die Kategorie der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit fällt. Die Staaten, die das unterstützen und ihre Bürger:innen nicht zurückführen, tragen die rechtliche Verantwortung für diese Verbrechen.”

Darüber hinaus ist es rechtswidrig, Menschen willkürlich auf unbestimmte Zeit ohne Gerichtsverfahren festzuhalten.

Die Verpflichtungen der Schweiz

Auf die Frage nach den Verpflichtungen der Schweiz gegenüber ihren Staatsangehörigen antwortet Fionnuala Ni Aolain ohne Umschweife: “Die erste Verpflichtung besteht darin, konsularische Unterstützung zu leisten. Die zweite Pflicht ist es, dafür zu sorgen, dass ihre Staatsangehörigen in Haft gut behandelt werden. Und schliesslich haben sie die Pflicht, die Männer nach Hause zu bringen. Die Vorstellung, dass diese einfach dahinsiechen und sterben könnten und dass dies das Problem lösen würde, ist grundsätzlich nicht mit dem Völkerrecht vereinbar. Die Staaten haben keine freie Wahl, welchen ihrer Staatsangehörigen sie helfen müssen.”

“Wir als humanitäre Helfer haben den Eindruck, dass es vielen Staaten recht ist, wenn man die Situation im Nordosten Syriens vergisst”, sagt Fabrizio Carboni, IKRK-Direktor für den Nahen und Mittleren Osten.

Aber indem man eine Situation vergesse, löse man die Probleme nicht. In dieser Region gibt es eine Situation, die uns in den Händen explodieren könnte, mit humanitären Folgen, die einfach nur dramatisch sind.”

Das EDA reagiert auf die Kritik

Auf Anfrage von “Temps Présent” wussten Yvonne Rohner, die Leiterin des konsularischen Schutzes, und Nicolas Bideau, der Sprecher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), nichts von den Haftbedingungen.

Insbesondere nicht, dass in den Gefängnissen Tuberkulose und Unterernährung herrschen. “Jetzt, da wir es wissen, können wir bei den kurdischen Behörden intervenieren und fragen, ob sie etwas tun können”, antwortete Rohner.

Der Sprecher des EDA Nicolas Bideau.
Der Sprecher des EDA Nicolas Bideau. KEYSTONE

Auf die Frage nach dem fehlenden konsularischen Schutz zugunsten der Inhaftierten weist Nicolas Bideau jegliche Kritik zurück. “Die Sicherheit des Staates, die Sicherheit der Bevölkerung hat Vorrang vor diesen Einzelfällen. Der Bundesrat hat entschieden. Man will nicht, dass der Staat diese Leute in die Schweiz zurückbringt, weil sie eine Gefahr für die Bevölkerung darstellen. Also werden sie in der Situation, in die sie sich selbst gebracht haben, tatsächlich sich selbst überlassen. Der konsularische Schutz ist sehr klar: Er soll sicherstellen, dass diese Menschen unter mehr oder weniger menschenwürdigen Bedingungen leben und die Möglichkeit haben, sich zu verteidigen, das ist, was wir tun.”

In Wirklichkeit hat nur der Genfer Daniel D. einen Anwalt, und dieser hatte keinen Einfluss auf seine Haftbedingungen.

Zahnprobleme sollen gelöst werden

Yvonne Rohner, die über die gesundheitlichen Probleme der siebenjährigen Lausannerin informiert worden war, erklärte gegenüber RTS, sie habe im Vorfeld des Interviews mit Serena telefonieren können und dass die Zahnprobleme des Mädchens gelöst würden.

Ansonsten erinnerte die Beamtin daran, dass es nach wie vor die Politik des Bundesrates sei, die Rückführung von Erwachsenen, einschliesslich Müttern, abzulehnen.

“Der Bundesrat sieht vor, dass man bei Minderjährigen, die nichts mit der Entscheidung ihrer Eltern zu tun haben, in diese Regionen zu gehen, eine Einzelfallprüfung vornehmen kann. Ich bin mir sicher, dass, wenn die Mutter damit einverstanden wäre, das Kind gehen zu lassen, man sie zurückholen könnte, damit sie hier zur Schule gehen kann und die Betreuung bekommt, die sie braucht.”

“Es ist hart und am härtesten ist die Situation der Kinder”, so EDA-Sprecher Nicolas Bideau. “Sie haben nichts getan, sie haben um nichts gebeten”.

Im Namen ihrer eigenen Sicherheit und um zu verhindern, dass sie zu Kämpfern werden, nehmen die Kurden den Müttern die Jungen weg, wenn sie 12 Jahre alt sind. Nachts dringen Angehörige der Spezialeinheiten in die Zelte in den Lagern von Roj und Al-Hol ein und bringen diese Jugendlichen gewaltsam weg, um sie zunächst in so genannte “Entwaffnungszentren” zu bringen.

Das Team von “Temps Présent” hatte Zugang zu einem dieser Zentren, Houry, das es im Jahr 2019 besuchte. Fünf Jahre später fand es einige der Jugendlichen wieder, die es damals interviewt hatte, darunter den 20-jährigen Sulay Su aus Trinidad und Tobago. Der junge Mann hat nie gekämpft, aber sein Land, das sich gegenüber den Forderungen nach Rückführung taub stellt, verdammt ihn zu einer düsteren Zukunft.

Die Kurden verlegen die älteren Jugendlichen in Erwachsenengefängnisse, um Platz für die jungen Leute aus den Lagern zu schaffen. Diese Aussicht erschreckt Sulay: “Ich habe niemandem etwas getan. Aber es kümmert niemanden, was mit mir geschieht. Für mich ist es vorbei, weisst du. Wenn sie mich wegen meines Alters ins Gefängnis stecken, werde ich dann für immer dort bleiben? Ich versuche wirklich, durchzuhalten, aber mental ist es sehr anstrengend.”

“Man kann nicht Hunderte und Tausende von Kindern auf unbestimmte Zeit inhaftieren”, sagt Fionnuala Ni Aolain aufgebracht, die bis 2023 UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte und Terrorismusbekämpfung war.

Nichts von dem, was diesen Jungen widerfahre, entspreche der Kinderrechtskonvention. “Solange die Regierungen nicht ihrer Verantwortung nachkommen und sie nach Hause bringen, werden diese Kinder von der Wiege bis zur Bahre in Haft bleiben.”

“Die Zahl der Kinder in den Lagern ist sehr hoch und das Umfeld in den Lagern ist extrem: Jeden Tag gibt es Morde”, rechtfertigt sich Khalid Al-Rammo, Co-Leiter der Justiz- und Reformabteilung der kurdischen Autonomieverwaltung (AANES).

“Die Anwesenheit von Kindern im Gefängnis ist zwar kritisierbar, aber wir haben keine andere Möglichkeit. Wir haben nicht die Mittel, um ein neues Jugendzentrum zu bauen”.

“Temps Présent” hat die Behörden von Trinidad und Tobago vergeblich um eine Stellungnahme gebeten.

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