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So überwacht China die tibetischen und uigurischen Minderheiten in der Schweiz

Ein Mann vor einer Tibet-Flagge
Tibetische Demonstration vor dem UNO-Sitz in Genf, 10. März 2021. Keystone / Martial Trezzini

Ein neuer wissenschaftlicher Bericht im Auftrag der Schweizer Regierung zeigt auf, wie China Tibeter:innen und Uigur:innen in der Schweiz einschüchtert. Noch ist offen, was aus den Erkenntnissen folgen wird.

Es ist weltweit ein Novum: Erstmals hat eine Landesregierung wissenschaftlich untersuchen lassen, ob und wie sehr Exilgemeinschaften im eigenen Land von Überwachung oder Einschüchterung durch China bedroht sind. Mit dem Forschungsbericht beauftragt hat die Schweizer Regierung Professor Ralph Weber und sein Team am Europainstitut der Universität Basel.

Im Zentrum dieser StudieExterner Link stehen Eingriffe in Grundrechte und die systematische Druckausübung auf die tibetische und die uigurische Gemeinschaft in der Schweiz, die dem chinesischen Parteistaat zugeordnet werden können, von 2000 bis heute. Dabei interessierten sowohl versuchte als auch tatsächlich erfolgte Eingriffe.

Der Bericht kommt zum eindeutigen Schluss: Angehörige der tibetischen und uigurischen Diaspora werden in der Schweiz von Akteuren der Volksrepublik China überwacht, bedroht und teilweise unter Druck gesetzt, um sie zur Rückkehr in chinesisches Staatsgebiet zu bewegen. Diese sogenannte transnationale Repression kann sich laut der Studie unterschiedlich äussern, etwa durch Drohanrufe aus der Volksrepublik China mit der Aufforderung, die eigene Gemeinschaft zu bespitzeln, oder dem Hinweis auf die Sicherheit von Familienmitgliedern, die noch in China leben.

Ein Mann mit einer blauen Maske
Demonstration vor dem Olympischen Museum in Lausanne anlässlich des Beginns der Olympischen Winterspiele in Peking, 3. Februar 2022. Afp Or Licensors

Vor allem Mitglieder der tibetischen Gemeinschaft haben auch das Gefühl, dass die Schweizer Behörden sie in ihren Grundrechten beschneiden. Etwa wenn Kundgebungen vor dem Schweizer Bundeshaus eingeschränkt werden oder durch eine immer restriktivere Asylpraxis. Davon seien nicht nur politisch exponierte Personen betroffen. Die Wissenschaftler:innen stützen sich dabei unter anderem auf 60 von ihnen geführte Interviews.

«Als beauftragter Wissenschaftler bin ich ergebnisoffen an die Fragestellung herangegangen», sagt Studienautor und China-Experte Ralph Weber. «Wir wollten die Fakten zeigen. Im Nachhinein kann ich sagen, dass Ergebnisse in dieser Richtung erwartbar waren.»

Um möglichst evidenzbasiert vorzugehen, haben Weber und sein Team im Vorfeld zahlreiche internationale Studien und Fälle zu Repression an Tibeter:innen und Uigur:innen zusammengetragen. Mit dieser Grundlage haben sie Hypothesen zu möglichen Grundrechtseinschränkungen in der Schweiz abgeleitet und überprüft. Wie in anderen europäischen Ländern seien auch in der Schweiz «dutzende Nachrichtendienstangehörige» der Volksrepublik China aktiv. Sie tarnen sich dabei, unter anderem «als Botschafts- oder Konsulatsmitarbeiter».

Auch Beispiele von Druckausübungen auf Schweizer Behörden seitens der Volksrepublik China werden im Bericht genannt. Inwiefern diese erfolgreich sind, lasse sich nicht abschliessend beurteilen. Trotzdem kommt die Studie zum Schluss, dass sich lokale Behörden oft weniger einschüchtern lassen, als das auf nationaler Ebene der Fall sei.

Eine Folge dieser transnationalen Repression durch China ist gemäss Weber auch, dass sie das Vertrauen in den Exilgemeinschaften untergräbt und zu einer Spaltung führen kann. «Wir stellen fest, dass aus der tibetischen Gemeinschaft in der Schweiz zahlreiche Personen einen starken Verdacht gegenüber anderen Diaspora-Mitgliedern hegen, für ‹die Chinesen› zu arbeiten.» Das Misstrauen sei dabei insbesondere gross gegenüber jenen, die erst kurz in der Schweiz sind, da sie noch Familie im Tibet haben und daher anfälliger für Druckversuche seien.

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Wie wird die offizielle Schweiz auf den Bericht reagieren?

«Unser Forschungsbericht soll dieses Misstrauen auf keinen Fall weiter befeuern», betont Weber. Die ausgeübten Druckversuche seitens China würden ohnehin bereits ein Klima der Angst unter den Betroffenen auslösen. Es sei wichtig, anzuerkennen, dass die Sachlagen oft komplex sei und verschiedene Akteure mit allerlei Motivationen mitspielen. Weber sagt: «Kontakte zu chinesischen Behörden sind keineswegs ein Beleg dafür, dass man vereinnahmt ist oder gar Spitzeltätigkeiten ausübt.»

Weber sieht auch die Schweiz gefordert. Zwar nimmt der Bundesrat in einem Bericht Externer LinkStellung zu den Ergebnissen der Studie. Darin verurteilt er die Verletzung der Grundrechte der Exilgemeinschaften deutlich und listet auch geplante Massnahmen auf, zum Beispiel eine sorgfältigere Auswahl von Dolmetscher:innen im Asylverfahren. In der Vergangenheit gab es Vorwürfe, dass sich unter den Dolmentschenden Spitzel befinden könnten. Ebenfalls sollen alle Stellen auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene sensibilisiert werden, damit sie solche Aktivitäten identifizieren und darauf reagieren können.

Der Bundesrat bleibt aber vage im Hinblick darauf, wie die Schweiz gedenkt, China mit den Befunden zu konfrontieren. Er verweist lediglich auf den Menschenrechtsdialog, den die Schweiz seit 1991 mit China unterhält. Dieser steht jedoch oft unter Kritik, nur als Feigenblatt zu dienen. Weber findet, hier stelle sich auch die Frage, welche Rolle die Schweizer Behörden einnehmen sollen. «Von Betroffenen wurde wiederholt berichtet, dass Grundrechte wie die freie Meinungsäusserung zunehmend für wirtschaftliche Interessen beschnitten werden», sagt Weber. «Das sollte uns als liberale Demokratie schon besorgen.»

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SWI / Kai Reusser

Eine Studie mit «brisantem Inhalt»

Die Studie hat eine lange Vorgeschichte: Der Auftrag geht zurück auf eine Petition der Organisation Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz (GfbV) von 2018, die einen Bericht forderte, ob in China unterdrückte Völker hierzulande in ihren Grundrechten beschnitten werden. In der Folge beauftrage die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats den Bundesrat, einen detaillierten Bericht über die Situation der Tibeter:innen und Uigur:innen in der Schweiz zu unterbreiten.

Für die GfbV sind die vom Bund vorgeschlagenen Massnahmen nicht konkret genug. So fordert die NGO in einer Mitteilung etwa, dass die Schweiz eine klare Definition transnationaler Repression verabschiedet und entsprechende rechtliche Grundlagen schafft, um sie wirksam zu bekämpfen. Weiter fordert sie auch eine Melde- und Schutzstelle und den Einbezug der Betroffenen in politischen Entscheidungsprozessen. Zudem müsse die Schweizer Regierung die Fälle öffentlich machen und Täter:innen konsequent ausweisen.

Die Schweiz ist keineswegs ein Einzelfall. Transnationale Repression nimmt weltweit zu. Beschleunigt wurde das Phänomen in den letzten Jahren durch die Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Die Uigurin Zumretay Arkin, Vize-Präsidentin des Welt-Uiguren-Kongress in München, sagt auf Anfrage: «Praktisch jeder Exil-Uigure, jede Exil-Uigurin, hat irgendeine Form der Unterdrückung durch die chinesische Regierung erlebt. Von Anrufen der chinesischen Polizei und Versuchen, internationale Reisen zu blockieren, bis hin zu Inhaftierung, Verhaftung oder Abschiebung nach China.»

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Ein Problem sei, dass sich die betroffenen Personen bereits zu sehr daran gewöhnt hätten und wenig dagegen auflehnten. «Für viele ist es längst Normalität, ausspioniert zu werden, dass es kaum jemandem in den Sinn kommt, dies zu melden», so Arkin. Dass die Polizei nicht sensibilisiert sei in der Thematik und die Beweislage oft sehr schwierig, trage ebenfalls dazu bei.

David Missal von der Tibet-Initiative Deutschland bestätigt diese Erfahrung. Neben den Diaspora-Gemeinschaften müsse man unbedingt die Politik für das Thema gewinnen: «Bislang gibt es keine politische Antwort auf die Problematik», sagt er. «Wir würden uns wünschen, dass es staatliche Anlaufstelle für Betroffene von transnationaler Repression gibt, die auch psychologische und rechtliche Unterstützung bietet.» Ausserdem bräuchte es laut Missal für Deutschland eine von der Regierung beauftragte wissenschaftliche Studie wie sie jetzt in der Schweiz erschienen ist.

Lange Dauer, einmaliges Vorgehen

Das rechnet auch Studienautor Ralph Weber der Schweiz hoch an: «Dass ausgerechnet die Schweizer Regierung, die für ihre zurückhaltende Position gegenüber China bekannt ist, eine solche Studie in Auftrag gibt, finde ich schon bemerkenswert.»

Mit der Veröffentlichung liess sich die Schweizer Regierung allerdings Zeit. Die Studie ist bereits seit April 2024 fertig, ihre Veröffentlichung wurde wiederholt verzögert. Ralph Weber sagt dazu nur: «Ich kann mir vorstellen, dass es ein speziell sensibler Bericht ist und auf Verwaltungsseite ein paar Fragen aufgeworfen hat, die man detailliert anschauen wollte.» Gemäss Recherchen der Tamedia-Zeitungen war man sich bei den Behörden nicht einig, wie mit dem «brisanten Inhalt» der Studie umgegangen werden soll.

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Nun kommt die Veröffentlichung für die Schweiz zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt: Dieses Jahr feiern die Schweiz und die Volksrepublik China das 75-jährige Bestehen ihrer bilateralen Beziehungen. Ausserdem ist die Erneuerung des Freihandelsabkommen geplant. Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrates hatte bereits im Vorhinein gefordert, die Erkenntnisse aus dem Bericht in die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen einfliessen zu lassen. Im Bericht des Bundesrates steht im Hinblick darauf allerdings nichts.

Dass aus den Forschungsergebnissen jetzt auch Taten folgen, sei man nicht zuletzt den Betroffenen schuldig, findet Ralph Weber. Dazu gehöre auch, das Thema in die öffentliche Debatte einzubeziehen und sich gegen Repression auszusprechen. Weber sagt: «Viele der Befragten sind müde, immer wieder Auskunft zu ihrer Lage zu geben und zu sehen, dass doch nichts passiert.»

Das chinesische Aussenministerium weist den Bericht des Bundesrates zurück, der nahelegt, dass China in der Schweiz lebende Tibeter und Uiguren unterdrücke. Es spricht von «falschen Informationen».

Ein Sprecher des chinesischen Aussenministeriums sagte am Donnerstag, 13. Februar 2025, an einer Medienkonferenz, die Schweizer Regierung sei verpflichtet, «die grundlegenden Interessen und wichtigsten Anliegen Chinas zu respektieren und damit aufzuhören, falsche Informationen an die Aussenwelt zu verbreiten».

Es handle sich um tatsachenwidrige «politische Manipulation in Bezug auf die Tibet- und die Xinjiang-Frage», sagte der Sprecher laut einem Bericht der Nachrichtenagentur AFP ausserdem.

Quellen: SDA/AFP

Editiert von Benjamin von Wyl

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