Trotz fehlendem Konsens beim Schweizer Ukraine-Gipfel: «Erste Schritte Richtung Frieden»
84 der rund 100 Staaten und Organisationen, die an der Ukraine-Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock teilgenommen haben, haben sich auf eine Abschlusserklärung geeinigt. Die Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd räumte jedoch ein, dass man sich nicht darüber einigen konnte, wie und wann Russland einbezogen werden sollte.
«Die Abschlusserklärung sendet ein starkes Signal, dass Veränderungen notwendig sind. Es gibt gemeinsame Ideen für einen fairen und dauerhaften Frieden», sagte Amherd in ihrer Rede am Sonntag zum Abschluss der zweitägigen Konferenz in der Zentralschweiz.
Als Beispiele nannte sie die Sicherung von nuklearen Anlagen, die Ernährungssicherheit und den Zugang der Ukraine zu ihren Häfen sowie die Freilassung aller Kriegsgefangenen, zudem auch die Rückkehr der aus der Ukraine deportierten Kinder.
Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni bezeichnete diese drei Themen als «Mindestvoraussetzungen» für Verhandlungen mit Russland und spielte damit darauf an, auf viele andere Bereiche an, in denen die Differenzen von Kiew und Moskau schwieriger zu überwinden sein werden.
Zu den teilnehmenden Ländern, die das AbschlusscommuniquéExterner Link nicht unterzeichnet haben, gehören Saudi-Arabien, Indien, Südafrika, Thailand, Indonesien, Mexiko und die Vereinigten Arabischen Emirate. Brasilien, das auf der Teilnehmendenliste als «Beobachter» aufgeführt war, konnte als solcher ebenfalls nicht unterschrieben.
In der Abschlusserklärung heisst es, dass die UN-Charta und die «Achtung der territorialen Integrität und Souveränität … als Grundlage für die Erreichung eines umfassenden, gerechten und dauerhaften Friedens in der Ukraine dienen können und werden».
Amherd sagte, die Tatsache, dass die «grosse Mehrheit» der Teilnehmenden dem Abschlussdokument zugestimmt habe, zeige, was Diplomatie erreichen könne.
«Ein Zeugnis für die Schweizer Diplomatie»
Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, sagte, es sei «ein Zeugnis für die Fähigkeiten der Schweizer Diplomatie, dass es ihr gelungen ist, rund 100 Länder und internationale Organisationen auf höchster Ebene zusammenzubringen».
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski begrüsste die «ersten Schritte in Richtung Frieden» am Treffen und erklärte, das gemeinsame Communiqué sei «offen für den Beitritt aller, die die UN-Charta respektieren».
Die ersten Reaktionen waren jedoch eher gedämpft. «Die Erwartungen an das Treffen mit 57 Staats- und Regierungschefs waren bescheiden – und sie wurden eher unter- als übertroffen», meint Sebastian Ramspeck, Internationaler Korrespondent von SRF.
«Besonders enttäuschend für die Schweiz als Gastgeberin: Es gibt vorerst keinen Folgegipfel in einem anderen Gastland. Ob der Bürgenstock-Gipfel einen Friedensprozess angestossen hat, ist daher mehr als fraglich.»
Russland, das nicht eingeladen war und deutlich gemacht hatte, dass es nicht teilnehmen wollte, bezeichnete den Gipfel als Zeitverschwendung und legte stattdessen konkurrierende Vorschläge vor. China war ein weiterer bemerkenswerter Abwesender.
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Ist der Frieden in der Ukraine also näher gerückt? Ja, gemäss Ursula von der Leyen. «Echter Frieden ist für die Ukraine näher gerückt.» Sie betonte jedoch, dass ein echter Frieden nicht in einem Schritt erreicht werden könne. Der Weg dorthin erfordere Geduld und Entschlossenheit. «Es wird ein Prozess sein», sagte sie nach den Gesprächen.
«Keine Friedensverhandlungen»
«Es waren keine Friedensverhandlungen, weil Putin es mit der Beendigung des Krieges nicht ernst meint. Er besteht auf Kapitulation, er besteht darauf, dass ukrainisches Territorium abgetreten wird – sogar Territorium, das heute nicht besetzt ist», so von der Leyen.
Zu den Erwartungen für den Gipfel sagte der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer am Samstag: «Das Entscheidende ist, dass wir alle hergekommen sind, dass wir miteinander reden, dass viele verschiedene Nationen und Kontinente miteinander reden… Das ist das Wesentliche an dieser Konferenz. Frieden und Friedensprozesse brauchen Zeit, wir arbeiten Millimeter für Millimeter».
Teil des diplomatischen Tauziehens auf dem Gipfel war es, in der Abschlusserklärung ein Gleichgewicht zwischen einer unmissverständlichen Verurteilung der russischen Invasion in der Ukraine und einer Formulierung zu finden, die eine möglichst breite Unterstützung findet.
Analyst:innen hatten vorhergesagt, dass die zweitägige Konferenz wahrscheinlich wenig konkrete Auswirkungen auf die Beendigung des Krieges haben würde, da Russland nicht eingeladen war – das Land, das den Krieg ausgelöst hat und ihn fortführt. Sein wichtigster Verbündeter, China, das nicht am Gipfel teilnahm, und Brasilien, haben gemeinsam versucht, alternative Wege zum Frieden zu finden.
Treffen für Aussenminister:innen
Auf dem Treffen wurde auch versucht, den Krieg wieder ins Rampenlicht zu rücken, während der Konflikt im Nahen Osten, nationale Wahlen und andere Probleme die weltweite Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Der kanadische Premierminister Justin Trudeau war das einzige Staatsoberhaupt der G7, das an beiden Tagen der Konferenz teilnahm. US-Vizepräsidentin Kamala Harris, der französische Präsident Emmanuel Macron und der japanische Premierminister Fumio Kishida gehörten zu denjenigen, die die Konferenz nach wenigen Stunden wieder verliessen. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz flog am Sonntagmorgen zurück nach Berlin. Dennoch setzten die Delegationen ihre Gespräche fort.
Am Sonntag erklärte Trudeau, Kanada plane, in den kommenden Monaten ein Treffen der Aussenminister:innen zu veranstalten, um die Arbeit an den humanitären Folgen des Krieges in der Ukraine voranzutreiben.
Trotz dieser positiven Äusserungen bestehen weiterhin erhebliche Differenzen. Der nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, wies am Sonntag einen von Putin vorgelegten Friedensvorschlag als unannehmbar zurück und erklärte, die Erfüllung der Moskauer Forderungen würde Kiew noch anfälliger für weitere Aggressionen machen.
«Die Ukraine muss nicht nur das Gebiet aufgeben, das Russland derzeit besetzt hält, sondern auch weiteres souveränes ukrainisches Territorium», sagte Sullivan. Er wies darauf hin, dass Kiew im Rahmen des russischen Vorschlags auch zur Entwaffnung verpflichtet wäre.
«Keine verantwortungsbewusste Nation kann sagen, dass der Vorschlag eine vernünftige Grundlage für den Frieden ist. Er widerspricht der UN-Charta, er widerspricht der grundlegenden Moral, er widerspricht dem gesunden Menschenverstand», sagte Sullivan.
Putin seinerseits schliesst Gespräche mit der Ukraine nicht aus, aber er schliesst aus, mit dem derzeitigen ukrainischen Präsidenten zu sprechen. «Wolodimir Selenski ist nicht die Person, mit der man eine Vereinbarung schriftlich festhalten kann, weil diese Festlegung de jure unrechtmässig ist», sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow laut der russischen Nachrichtenagentur Tass am Sonntag. «Putin lehnt jedoch nichts ab. Er lehnt die Möglichkeit von Verhandlungen nicht ab, wie es die Verfassung des Landes vorsieht», so Peskow weiter.
Und wie geht es weiter? Selenski sagte am Sonntag, dass auf die Konferenz in der Schweiz bald ein zweites Treffen folgen sollte. Solche Vorbereitungen würden nur Monate und nicht Jahre dauern, sagte er und fügte hinzu, dass einige Staaten bereits ihre Bereitschaft zur Ausrichtung eines solchen Gipfels signalisiert hätten. In der Abschlusserklärung ist keine Rede von einer Folgekonferenz.
Übertragung aus dem Englischen: Janine Gloor
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