Ukrainischer Aussenminister Dmytro Kuleba sieht für die Schweiz «Raum für weitere Massnahmen»
Im Exklusivinterview mit SWI swissinfo.ch spricht der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba über die bevorstehende Friedenskonferenz in der Schweiz, die Verhandlungen mit Russland und die Rückführung von Waisenkindern in die Ukraine.
SWI swissinfo.ch: Die Schweizer Behörden haben im Rahmen der Sanktionsmassnahmen russische Vermögenswerte eingefroren. Was sollte Ihrer Meinung nach in Zukunft mit diesen Guthaben in der Schweiz geschehen, ohne dass das Recht auf Privateigentum verletzt wird?
Dmytro Kuleba: Wir wissen, dass es unwahrscheinlich ist, dass Russland freiwillig für die verursachten Kriegsschäden aufkommen wird. Deshalb arbeiten die demokratischen Länder der Welt an der Schaffung eines universellen Entschädigungsmechanismus.
Und wir sind nach wie vor der Meinung, dass Vermögenswerte, die von Partnerstaaten im Rahmen von Sanktionen eingefroren wurden, zur Finanzierung von Entschädigungszahlungen verwendet werden sollten.
Dabei geht es sowohl um souveräne Vermögenswerte eines Staates, der gegen das Völkerrecht verstösst, als auch um Vermögenswerte von Einzelpersonen, die das Vorgehen des Aggressors unterstützen.
Ich möchte betonen, dass das geltende Völkerrecht eine notwendige Rechtsgrundlage für die Beschlagnahme eingefrorener russischer Vermögenswerte bietet.
So erlauben beispielsweise die UNO-Artikel über die Verantwortlichkeit von Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen aus dem Jahr 2001 eine solche Gegenmassnahme als Reaktion auf eine Aggression. Auch führende internationale Fachleute auf diesem Gebiet haben die Rechtmässigkeit eines solchen Vorgehens bestätigt.
Wir begrüssen die konsistente Sanktionspolitik der Schweiz. Nach unseren Informationen hat die Schweiz rund 15 Milliarden US-Dollar an russischen Vermögenswerten blockiert – sowohl private als auch staatliche.
Wir haben bereits das Beispiel Belgiens gesehen, das Zinserträge aus eingefrorenen Geldern verwendet. Das könnte auch für die Schweiz ein erster Schritt sein. Letztlich fordern wir die Verwendung aller beschlagnahmten und eingefrorenen russischen Vermögenswerte.
Gegenwärtig hat die Schweiz 7,5 Mrd. Franken an Vermögenswerten sanktionierter russischer Personen eingefroren, was lediglich fünf Prozent der auf 150 Mrd. Franken geschätzten russischen Gelder in der Schweiz entspricht.
Wir glauben, dass es für die Schweiz Raum für weitere Massnahmen gibt. Solche Massnahmen vermitteln die Botschaft, dass Aggression inakzeptabel ist und dass sich alle an die Regeln halten müssen. Dies wird eine starke Abschreckung für jedes Land sein, das versucht ist, eine bewaffnete Aggression zu starten.
Ist eine Rückkehr der 65’000 ukrainischen Geflüchteten in der Schweiz denkbar? Welche Voraussetzungen müssten dafür erfüllt sein?
Die gross angelegte Aggression Russlands gegen die Ukraine hat zur vorübergehenden Vertreibung von Millionen ukrainischer Bürger:innen geführt, vor allem von Frauen, Kindern und älteren Menschen.
Wir sind allen unseren ausländischen Partnerländern, einschliesslich der Schweiz, für ihre effiziente Zusammenarbeit auf staatlicher Ebene bei der Unterstützung der Ukrainer:innen im Ausland dankbar.
Dazu gehören die Anpassung interner Verfahren, die Vereinfachung der Migrationsbestimmungen, die Bereitstellung finanzieller und medizinischer Hilfe sowie die Lösung von Fragen der vorübergehenden Unterbringung.
Einer der Gründe, warum wir unsere Partner bitten, der Ukraine zusätzliche Luftverteidigungskapazitäten zur Verfügung zu stellen, ist, dass dies den Schutz unserer Städte verbessern und die Menschen zur Rückkehr bewegen wird.
Das wiederum wird die ukrainische Wirtschaft stärken, unser Land autarker machen und unsere Abhängigkeit von ausländischer Hilfe verringern.
In den ersten Kriegstagen wurden Kinder aus dem Waisenhaus von Mariupol in die Schweiz evakuiert. Heute leben viele ukrainische Kinder im Ausland. Es sind nicht nur Kinder, die mit ihren Eltern geflohen sind, sondern auch Waisen und Kinder ohne elterliche Fürsorge. Glauben Sie, dass diese in die Ukraine zurückkehren können?
Millionen von jungen Ukrainer:innen wurden vertrieben. Daten vom Beginn des Kriegs bis Mitte März zeigen, dass die russische Armee 535 ukrainische Kinder getötet hat, 1254 weitere wurden verletzt.
Erst kürzlich wurden bei einem einzigen russischen «Shahed»-Drohnenangriff auf ein Wohnhaus in Odessa fünf Kinder getötet: Der dreijährige Mark, die vier Monate alte Tymofiy, die sieben Monate alte Liza mit ihren Eltern Oleh und Tetyana, der zehnjährige Serhiy und seine siebenjährige Schwester Zlata.
Russische Truppen entführen auch ukrainische Kinder in den besetzten Gebieten, bringen sie gewaltsam nach Russland, erzählen ihnen, ihre Eltern hätten sie verlassen, und geben sie zur Adoption und «Umerziehung» an russische Familien.
Wir wissen von mindestens 20’000 zwangsverschleppten Kindern. Wir arbeiten unermüdlich daran, unsere Kinder zu retten, Familien wieder zusammenzuführen und ihnen auf jede erdenkliche Weise zu helfen.
Wir begrüssen alle internationalen Bemühungen, ihnen zu helfen und diejenigen, die nach Russland zwangsdeportiert wurden, zurückzubringen. Wir sind der Schweiz dankbar, dass sie Kinder aus dem Waisenhaus von Mariupol aufgenommen hat.
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Vor dem Tod von Alexei Nawalny in einem russischen Gefängnis haben einige EU-Staats- und Regierungschefs darauf gedrängt, mit Wladimir Putin über Frieden zu verhandeln und den Krieg zu beenden. Was halten Sie von diesem Druck, zu verhandeln?
Die Ukraine will den Frieden mehr als jedes andere Land der Welt – aber nicht um jeden Preis. Wir brauchen einen echten, gerechten und dauerhaften Frieden, der auf den Prinzipien der UNO-Charta und ihrer praktischen Umsetzung beruht.
Wir setzen uns für die so genannte Friedensformel ein, welche die territoriale Integrität der Ukraine wiederherstellt.
In der vorangegangenen Phase des Kriegs, von 2014 bis 2022, haben die Ukraine und Russland rund 200 Verhandlungsrunden in verschiedenen Formen abgehalten.
In dieser Zeit wurden 20 Waffenstillstandsabkommen geschlossen, die alle sofort von Russland gebrochen wurden.
Wohin hat uns das geführt? Zum 24. Februar 2022, als Russland den Friedensprozess zunichtemachte, indem es sich einseitig von den Minsker Vereinbarungen zurückzog und eine verheerende Invasion in der Ukraine startete. Warum sollte irgendjemand glauben, dass die Umsetzung einer ähnlichen Strategie heute zu anderen Ergebnissen führen würde?
«Ein Diktator, der seine politischen Gegner ermordet, ist kaum ein glaubwürdiger Verhandlungspartner»
Russland hat in der Vergangenheit immer wieder Abkommen gebrochen. Moskau imitiert die Diplomatie nur, um abzulenken und zu täuschen, und bietet damit Deckung für neue Aggressionen und Massenmorde.
Zudem ist ein Diktator, der seine politischen Gegner ermordet, kaum ein glaubwürdiger Verhandlungspartner. Auch jetzt zeigt Moskau keine echte Bereitschaft, sich auf sinnvolle Friedensgespräche einzulassen.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat die Friedensformel vorgeschlagen, die der einzige realistische und wirksame Plan zur Wiederherstellung eines umfassenden, gerechten und dauerhaften Friedens in der Ukraine und der globalen Sicherheit ist.
Der ukrainische Präsident hat im November 2022 bei einem G20-Treffen seinen Friedensplan vorgestellt. Hier ist eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte:
1. Strahlenschutz und nukleare Sicherheit, besonders im Zusammenhang mit Europas grösstem Atomkraftwerk in Saporischschja, das nun unter russischer Kontrolle steht;
2. Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit mit Schwerpunkt auf der Sicherung der Getreideexporte der Ukraine in arme Länder;
3. Energiesicherheit, mit Schwerpunkt auf Preisbeschränkungen für russische Energieressourcen;
4. Freilassung aller Gefangenen und Deportierten, einschliesslich der Kriegsgefangenen und der nach Russland deportierten Kinder;
5. Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine, die Russland gemäss der UNO-Charta anerkennen muss;
6. Abzug der russischen Truppen und Einstellung der Kampfhandlungen zur Wiederherstellung der Staatsgrenzen der Ukraine;
7. Schaffung von Gerechtigkeit durch die Einrichtung eines Sondertribunals zur Verfolgung russischer Kriegsverbrechen;
8. Schutz der Umwelt;
9. Vermeidung einer weiteren Eskalation des Konflikts und Aufbau einer Sicherheitsarchitektur im euro-atlantischen Raum, die Garantien für die Ukraine bietet;
10. formelle Anerkennung des Kriegsendes, einschliesslich einer von allen beteiligten Parteien unterzeichneten Dokumentation.
Viele EU-Diplomat:innen sagen, Europa sei wirtschaftlich stark, aber es fehle an einer kohärenten Diplomatie als Gruppe. Was erwarten Sie heute von Europa im Allgemeinen und der Schweiz im Besonderen, um die Ukraine zu unterstützen?
Seit 2022 hat die EU eine bemerkenswerte Entschlossen- und Entschiedenheit an den Tag gelegt. Die Schweiz hat Massnahmen ergriffen, die sie vor dem Krieg nie für möglich gehalten hätte. Unsere europäischen Partnerländer, die Schweiz eingeschlossen, haben uns also in vielerlei Hinsicht positiv überrascht.
Aber wir müssen noch mehr tun, um die Ukraine dem Sieg näher zu bringen, um den Frieden in der Ukraine wiederherzustellen und um den Frieden in Europa zu erhalten.
Wir sind dankbar, dass die Schweiz in ihrer Aussenpolitischen Strategie 2024-2027 die Ukraine zu einem Schwerpunktland in der Region erklärt hat. Dieses Dokument bietet eine klare Vision und einen politischen Rahmen für das Engagement der Schweiz in der Ukraine.
Ich gehe davon aus, dass die geplante Bereitstellung von 1,8 Milliarden Franken bis 2028 nur ein erster Schritt zur Straffung der zusätzlichen multidimensionalen Hilfe ist, und begrüsse die laufende Diskussion über ein wegweisendes Unterstützungspaket.
Erfüllt die Hilfe der Schweiz Ihre Erwartungen?
Es ist auch wichtig, die wachsende Rolle der Schweiz bei der Minenräumung Externer Linkin der Ukraine hervorzuheben. In diesem Zusammenhang wurde der Beitrag von 15,2 Millionen Franken für die Minenräumung im Jahr 2023 sowie die Zusage von weiteren 100 Millionen Franken für die Jahre 2023-2027 sehr geschätzt.
Russland führt diesen Krieg, weil wir uns entschieden haben, unsere Identität und das Recht, unsere eigene Wahl zu treffen, nicht aufzugeben.
Nach einem Jahrzehnt des Überlebenskampfs ist kein Platz mehr für Emotionen; wir können diesen Krieg nur überstehen, wenn wir den Kampf gewinnen. Und dieser Kampf ist zu gewinnen, vorausgesetzt, die Ukraine erhält rechtzeitig und ausreichend Unterstützung.
Deshalb schätzen wir alle Anstrengungen unserer Freunde und Partnerländer, auch der Schweiz, die zur Wiederherstellung einer auf Regeln basierenden internationalen Ordnung und zur Sicherung eines gerechten Friedens in der Ukraine beitragen.
Zwei Jahre nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine: Hat sich Ihr Blick auf die Schweizer Neutralität verändert?
Wie für andere neutrale Länder wie Österreich, Irland und andere, welche die Ukraine unterstützen, bedeutet die Neutralität der Schweiz keine Gleichgültigkeit. Das ist für uns das Wichtigste.
Wir schätzen es sehr, dass die Schweiz trotz ihrer aktiven Neutralität einen Weg gefunden hat, sich auf die Seite der Ukraine zu stellen – auf die Seite des Völkerrechts, der Gerechtigkeit und der Rechtsstaatlichkeit.
Sei es, indem sie sich den EU-Sanktionen gegen Russland angeschlossen oder sich aktiv am Wiederaufbau der Ukraine beteiligt hat, dass sie humanitäre Hilfe leistet, die ukrainische Friedensformel vorantreibt und sich bereit erklärt hat, dieses Jahr einen globalen Friedensgipfel auszurichten.
Sie sprechen von der geplanten Friedenskonferenz in der Schweiz. Wie beurteilen Sie diese Initiative?
Wir sind Bundespräsidentin Viola Amherd und der Schweiz dankbar dafür, dass sie einmal mehr eine echte Führungsrolle in den Friedensbemühungen übernimmt und sich bereit erklärt hat, dieses bedeutende, historische Ereignis auszurichten.
Dieser Entscheid stärkt zweifellos die Autorität und den Einfluss der Schweiz auf internationaler Ebene.
Der Weltfriedensgipfel wird Staats- und Regierungschefs aus aller Welt zusammenbringen, denen das Völkerrecht, der Frieden und die Sicherheit am Herzen liegen.
Ich möchte Ihre Leser:innen daran erinnern, dass mehr als 140 Länder in der UNO-Generalversammlung für die Resolutionen zur Ukraine gestimmt haben. Diese Resolutionen verurteilen die russische Aggression und fordern Moskau auf, seine Militäraktionen einzustellen und seine Truppen aus dem ukrainischen Hoheitsgebiet innerhalb der international anerkannten Grenzen abzuziehen. Der Internationale Gerichtshof hat verbindliche Anordnungen erlassen, die das Gleiche fordern.
Mit anderen Worten: Drei Viertel der Länder der Welt, die alle Kontinente und Regionen vertreten, verurteilen die illegale Aggression und fordern Russland auf, die Ukraine zu verlassen.
Russland wird den Willen der weltweiten Mehrheit nicht ignorieren können, wenn wir alle mit einer starken Stimme sprechen.
Das Interview wurde in schriftlicher Form geführt.
Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger
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