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Urteil in Genf: Der Schweizer Erwin Sperisen ist mitschuldig an Hinrichtungen in Guatemala

Sperisen stand bereits zum vierten Mal in Genf vor Gericht.
Erwin Sperisen wurde in Genf bereits zum vierten Mal vor Gericht angeklagt. Er behauptet, unschuldig zu sein und sieht sich als Opfer eines Justizirrtums. Keystone / Martial Trezzini

Der ehemalige Chef der guatemaltekischen Nationalpolizei war an Hinrichtungen in einem Gefängnis in der Nähe der guatemaltekischen Hauptstadt beteiligt. Dies befand das Genfer Appellationsgerichts und verurteilte Erwin Sperisen zu 14 Jahren Haft. Die Verteidigung will – zum wiederholten Mal ‒ in Berufung gehen.

Das Genfer Appellations- und Revisionsgericht hat den schweizerisch-guatemaltekischen Doppelbürger der Mittäterschaft an der geplanten Tötung von sieben Insassen des Gefängnisses Pavón im September 2006 für schuldig befunden.

Im bereits vierten Prozess gegen Sperisen in Genf ‒ in einem Fall mit einer ausufernden juristischen Vorgeschichte ‒ stellte das Gericht fest, dass Sperisen Kenntnis von dem Mordkommando hatte, das die Häftlinge tötete und den Schauplatz der Hinrichtungen manipulierte.

Das Gericht bestätigte, dass vor dem Angriff auf das Pavón-Gefängnis durch die Polizeikräfte eine Liste der zu eliminierenden Häftlinge erstellt worden war, damit ein spezielles Kommando, das Erwin Sperisen bekannt war und ihm nahestand, die Exekutionen durchführen konnte.

Mit anderen Worten: Die Theorie einer Konfrontation zwischen Häftlingen und Sicherheitskräften, die bereits vom Bundesgericht (der höchsten gerichtlichen Instanz der Schweiz) in einer der mehr als 20 Beschwerden der Verteidigung zurückgewiesen wurde, wurde erneut verworfen.

Gemäss dem Genfer Appellationsgericht gehörte auch Javier Figueroa, Sperisens rechte Hand, der von einem Gericht in Österreich in allen Punkten freigesprochen worden war, zum Kommando. In den Augen der Richter ist die Passivität des ehemaligen Polizeichefs angesichts der Aktionen des Kommandos «unvereinbar mit einer Funktion mit hoher Verantwortung». Sperisen wird daher als Komplize dieser Taten angesehen.

Das Gericht stellte fest, dass es trotz der schwierigen Sicherheitslage in Guatemala zu dieser Zeit nicht möglich war, die Handlungen des Polizeichefs zu rechtfertigen.

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Erwin Sperisen wegen Beihilfe zu Mord zu 14 Jahren Haft verurteilt

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Genfer Berufungs- und Revisionsstrafkammer hat Erwin Sperisen der Beihilfe zum Mord an sieben Häftlingen in Guatemala schuldig gesprochen. Sie verurteilte den ehemaligen Chef der guatemaltekischen Polizei am Donnerstag zu 14 Jahren Haft.

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Das Gericht vertrat die Auffassung, dass der Angeklagte eine härtere Strafe als 14 Jahre Haft verdient hätte.Es entschied sich aber wegen des Verstosses gegen das Beschleunigungsgebot – dass also Gerichtsentscheide innert nützlicher Frist erfolgen müssen – gegen eine Erhöhung des Strafmasses. Die Ereignisse selbst liegen unterdessen 18 Jahre zurück.

Erwin Sperisen, der mehr als elf Jahre lang seiner Freiheit beraubt war (durch Untersuchungshaft, Gefängnis und Hausarrest) und damit die nötigen 2/3 der Haftstraffe bereits verbüsst hat, verliess den Justizpalast als freier Mann.

«Akt der Gerechtigkeit»

Iduvina Hernández, Journalistin und Direktorin der Vereinigung für das Studium und die Förderung der Sicherheit in der Demokratie (SEDEM), bezeichnet das Urteil für die guatemaltekische Gesellschaft und für die Opfer als «wichtigen Akt der Gerechtigkeit, denn niemand sollte seines Lebens beraubt werden, weil jemand anderes die Macht eines Regierungsamtes hat und über die Waffen dazu verfügt.»

«Jeder Mensch hat einen fairen Prozess verdient, wie ihn Erwin Sperisen in der Schweiz bekommen hat. Und die gegen ihn verhängte Strafe ist im Grunde ein Akt der Gerechtigkeit für die betroffenen Menschen», sagte sie.

Für Hernández besteht kein Zweifel daran, dass es sich bei der Operation, an der Sperisen beteiligt war, um einen Streit um die Kontrolle der Macht zwischen Banden handelte, «eine davon mit dem Titel der Sicherheitsbehörden in Guatemala».

TRIAL International, eine NGO, die Straflosigkeit bei internationalen Verbrechen bekämpft und Opfer bei ihren Rechtsansprüchen unterstützt, erklärte ein einer MedienmitteilungExterner Link: «Dieses Urteil zeigt einmal mehr, dass Täter schwerer Verbrechen – egal wie hoch ihre Position ist und egal wie viel Unterstützung sie noch viele Jahre später geniessen – für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden können.»

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Unzulänglichkeiten im Schweizer Justizsystem

Aber auch in der Schweiz könnten aus diesem Fall Lehren gezogen werden. Die erste: Es ist klar geworden, dass es sich nicht um einen Fall im Rahmen der universellen Gerichtsbarkeit handelte, sondern um ein Verfahren gegen einen Schweizer Bürger – der nicht ausgeliefert werden kann, wie es der guatemaltekische Staat beantragt hatte.

Zweitens, dass nicht alle Schweizer Rechtsexpertinnen und -experten der Meinung sind, dass ein Genfer Gericht befugt und in der Lage sein können, die Schuld von Verbrechen festzustellen, die 10’000 Kilometer entfernt begangen wurden.

Christian-Nils Robert, Honorarprofessor an der Universität Genf, lieferte in einem Gastbeitrag Externer Linkin der Tribune de Genève eine seiner Meinung nach «kurze Bestandsaufnahme der Justizfehler, die von den Genfer Gerichten in anklagender Arroganz begangen wurden». Darunter fielen «die Verweigerung von Sachverständigengutachten zu bestimmten mehr als zweifelhaften Beweisen“ im Fall Sperisen und «ein offensichtlicher Interessenkonflikt auf Ebene der Staatsanwaltschaft».

Robert bezieht sich auf die Schweizerische Strafprozessordnung (StPO). Diese sieht vor, dass der mit der Durchführung eines zweitinstanzlichen Verfahrens betraute Richter auch über die in dieser Berufungsphase gestellten Entlassungsanträge entscheidet. In diesem Zusammenhang entschied der Präsident des Genfer Appellationsgerichts 2017 über ein Gesuch um die sofortige Freilassung von Sperisen.

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Genau in diesem Punkt – und nur in diesem Punkt – entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht in Strassburg im Juni 2023 in einem Berufungsverfahren, dass zwei Sätze, welche die Gerichtsvorsitzende zur Begründung ihrer Weigerung, Sperisen freizulassen, zitierte, kein faires Verfahren ermöglichten. Sie lauteten: «Es liegen genügend Anschuldigungen vor, um eine plausible Verurteilung in Aussicht zu stellen» und «Elemente des Strafregisters sprechen weiterhin für eine Schuld».

Die Richterin wurde von ihrem Amt entbunden, aber das Problem der Doppelrolle bleibt bestehen, da sie gesetzlich vorgeschrieben ist. Stéphane Grodecki, Jurist und Dozent für Rechtswissenschaften an der Universität Genf, gehört ebenfalls zu den Expertinnen, die diese Rollenkombination kritisieren und eine vollständige Trennung dieser Funktionen fordern, wie die Justizjournalistin Fati Mansour von Le Temps in einem ArtikelExterner Link festhält.

«Der Hauptverantwortliche, das heisst der Einzige, der für die Verurteilung der Schweiz durch Strassburg verantwortlich ist, ist der Gesetzgeber und nicht die Richterin. Anstelle des Medienrummels, der auf die Verurteilung des Falles Sperisen durch Strassburg folgte, hätte man den Gesetzgeber, d.h. die Schweizer Politik, daran erinnern müssen, dass man nicht eine Architektur beschliessen kann, die gegen die Europäische Menschrechtskonvention verstösst, und dann die Richterin kritisieren, die sie anzuwenden hat.»

Was nach einer prozessrechtlicher Detaildiskussion für Expertinnen und Experten klingt, ist gerade insofern wichtig, als die guatemaltekische Presse, wie aus einem ArtikelExterner Link der República hervorgeht, nicht verstanden hat, dass sich das Strassburger Urteil in keiner Weise auf die im Prozess gegen Erwin Sperisen ausgewerteten Beweise bezieht.

Diese Beweise wurden am Donnerstag in Genf erneut bestätigt.

«Die Schweiz hat in der globalen Vorstellung eine makellose Gerichtsbarkeit. Diese Vorstellung ist aber weit weg von der Wirklichkeit: Politiker, Staatsanwälte, Richter und NGOs arbeiten zusammen, um die ideologische Agenda der Linken voranzutreiben», heisst es in einem Gespräch zwischen Rodrigo Arenas, Chefredakteur von República, und Alejandro Palmieri, politischer Redakteur der ZeitungExterner Link.

Die Kritik stützt sich auf die Tatsache, dass in anderen Ländern die Richter:innen keiner politischen Partei angehören dürfen, während in der Schweiz das Gegenteil der Fall ist. Warum das so ist, ist hier erklärt: 

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Richter am Gängelband der Parteien

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht In der Schweiz ist eine Parteizugehörigkeit faktisch Voraussetzung zur Richterwahl. Und Richter müssen ihren Parteien sogar Geld abliefern.

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Als weit ausgebaut im Schweizer Recht gelten die Berufungsrechte. Erwin Sperisen wird erneut davon Gebrauch machen. Er beteuert weiterhin seine Unschuld und verlangt vom Schweizer Staat 8 Millionen Franken Schadenersatz. Geschlossen ist die Akte Sperisen also noch nicht.

Lesen Sie auch unseren Artikel über das Weltrechtsprinzip, das wieder an Bedeutung gewinnt:

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Editiert und aus dem Spanischen übertragen von Marc Leutenegger

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