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Völkermord in Ruanda: Schweiz zeigte Kluft «zwischen Worten und Taten»

Bild des Genozids in Ruanda
Thanushiyah Korn argumentiert, dass Geberländer wie die Schweiz nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs 1990 "Sanktionen oder klare Bedingungen" für die Hilfe hätten stellen und "Druck auf das Regime" hätten ausüben können. Der Völkermord von 1994 ist auf dem Bild "Rwanda 1994" des kamerunischen Künstlers Barthelemy Toguo dargestellt, das 2018 an der Art Basel gezeigt wurde. Keystone / Georgios Kefalas

Die Schweiz war zur Zeit des Genozids 1994 eine wichtige Akteurin der Entwicklungszusammenarbeit in Ruanda. Die Historikerin Thanushiyah Korn erklärt, wie diese Beziehung aussah und ob die Schweiz mehr hätte tun können, um die Gewalt zu verhindern, die über 800'000 Menschen das Leben kostete.

Ruanda wurde 1963, nur ein Jahr nach seiner Unabhängigkeit, zum ersten Schwerpunktland der Schweizer Entwicklungshilfe. Während 30 Jahren investierte die Schweiz 353 Millionen Franken in bilaterale und multilaterale Projekte in dem kleinen afrikanischen Land.

Nach dem Völkermord an der Volksgruppe der Tutsi, der von Hutu-Extremisten des damaligen Regimes inszeniert wurde, sah sich die Schweiz 1994 mit schwierigen Fragen zur Verantwortlichkeit der Geldgeber:innen konfrontiert.

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) gab eine Studie über das Schweizer Entwicklungsengagement in Ruanda in Auftrag, die von einem ehemaligen hohen Beamten, Joseph Voyame, geleitet wurde.

Der Bericht von 1996 entlastete die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), indem er auf die Unvorhersehbarkeit und das Ausmass der Ereignisse verwies, obwohl er auch feststellte, dass die Deza es versäumt hatte, politische Massnahmen zu ergreifen, als die Spannungen Anfang der 1990er-Jahre eskalierten.

Seither hat die Deza ihre Politik geändert und verfolgt die Veränderungen im politischen, sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und humanitären Umfeld der Länder, in denen sie tätig ist, sehr genau. Dies sei eine der wichtigsten Lehren aus Ruanda, erklärt die Deza gegenüber SWI swissinfo.ch.

Die Historikerin Thanushiyah Korn von der Universität Basel und dem Institute for European Global Studies untersucht derzeit das Schweizer Engagement in Ruanda für ihre Dissertation über die Rolle der internationalen Geber:innen bei der Vorbereitung des Genozids.

SWI swissinfo.ch: Ruanda wurde einst als die «Schweiz Afrikas» bezeichnet. Welche Gemeinsamkeiten gab es zwischen den beiden Ländern, als die Schweiz als Entwicklungshelferin eintraf?

Thanushiyah Korn: Es gab mehrere Gründe, warum die Schweiz Ruanda als Schwerpunktland wählte. Es gab sogar eine Liste mit Vor- und Nachteilen.

Thanushiyah Korn
In ihrer Dissertation untersucht Thanushiyah Korn die Entwicklungspraktiken internationaler Geberländer, darunter auch der Schweiz, und argumentiert, dass diese während des gesamten Konflikts aktiver Teil der Gesellschaft waren, die Ruanda prägte. T. Korn / Universität Basel

Zu den Vorteilen gehörten das angenehme Klima, die französische Sprache und die geringe Grösse des Landes. Es war auch gebirgig – einige der Landschaften erinnerten [die Schweizer:innen] an die Schweiz.

Die Bevölkerung galt als fleissig. Auch die Schweiz sah sich selbst als ein Land mit fleissigen Bäuerinnen und Bauern. Und der damalige ruandische Präsident, Grégoire Kayibanda, war ein bescheidener Mann.

All dies passte in das Bild eines Landes ohne viel Industrie, das Schweizer Hilfe brauchte und das man mit Schweizer Knowhow gestalten konnte, wie [der Historiker] Lukas Zürcher in seinem Buch [Schweiz in Ruanda, 1900-1975] schreibt. Teil des Traums war, dass Ruanda eine «Schweiz Afrikas» werden könnte.

Wie war das Verhältnis zwischen Geber:innen und Empfänger:innen?

Gemäss dem Voyame-Bericht haben Belgien, Frankreich und Deutschland mehr Geld in das Land gesteckt [als die Schweiz], aber im Verhältnis zur Bevölkerungszahl war der Beitrag der Schweiz recht hoch. Die Schweizerinnen und Schweizer waren der Meinung, dass die Hilfe den Menschen zugute kommen und sich vor allem auf die Ärmsten auswirken sollte.

Es gab zwei Ströme: einerseits Entwicklungsprojekte in den Bereichen Landwirtschaft, Bildung und Forstwirtschaft sowie Hilfe bei der Gründung von Genossenschaften und Volksbanken, andererseits die Entsendung von Schweizer Berater:innen an den ruandischen Präsidenten.

Damals hatte die Schweiz ein technokratisches Verständnis von Entwicklung, wonach man mit viel Geld und technischem Knowhow einem Land helfen kann, sich zu entwickeln, ohne sich in die Politik einmischen zu müssen – man kann neutral bleiben, aber dennoch dem Präsidenten nahe sein und ihn beraten.

Ursprünglich sollten die Fachleute den Präsidenten nur in wirtschaftlichen Fragen beraten, aber – und das steht im Voyame-Bericht – die Praxis war nicht geregelt.

Die Beratenden konnten frei entscheiden, wie nahe sie dem Präsidenten stehen wollten. Sie hatten also ein gewisses Potenzial, Einfluss auf die Innenpolitik auszuüben.

Der Voyame-Bericht hält fest, dass die Deza vor dem Genozid nicht auf Warnzeichen für wachsende ethnische Spannungen reagierte. Warum, wo doch die Schweizerinnen und Schweizer der ruandischen Führung so nahe standen?

Charles Jeanneret war von 1982 bis 1993 Berater des Präsidenten. Er entwickelte eine gewisse Loyalität zu Präsident Juvénal Habyarimana.

Aus einer Notiz des Aussenministeriums über Jeannerets Besuch in Ruanda 1993 geht hervor, dass er wiederholt seine Unterstützung für den Präsidenten zum Ausdruck brachte, selbst nach Ausbruch des Bürgerkriegs [zwischen der Hutu-geführten Regierung und der hauptsächlich aus Tutsi bestehenden Ruandischen Patriotischen Front (RPF)].

Habyarimana argumentierte, es handle sich um einen zwischenstaatlichen Krieg [zwischen Uganda und Ruanda], und er verteidige sein Land. Jeannerets Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit des Präsidenten wirkte sich auf die Schweizer Wahrnehmung des Konflikts aus.

Als neutrale Akteure glaubten die Schweizerinnen und Schweizer auch nicht, dass es ihnen zustehe, zu einem internen Konflikt Stellung zu nehmen. Aber wenn man anfängt, viel Geld zu investieren und eine enge Partnerin zu werden, ist es selten möglich, neutral zu bleiben.

Die Deza war bereits in den Jahren 1963-1964 und in den 1970er-Jahren mit Gewalt konfrontiert. Die Schweiz hat diese Gewalt nicht unterstützt. Doch in beiden Fällen sei die Zusammenarbeit ohne neue Auflagen oder offene Regimekritik weitergeführt worden, sagt Zürcher,.

Dies gilt auch für den Bürgerkrieg von 1990, obwohl ein Telegramm des damaligen Schweizer Botschafters zeigt, dass in der ruandischen Armee ein gewisses Bewusstsein für extremistisches Gedankengut vorhanden war. Hochrangige Armeeangehörige erklärten, der Krieg sei ein «Tutsi-Problem», das «beseitigt» werden müsse.

Im März 1992 wurden in [dem ostruandischen Bezirk] Bugesera mehr als 300 Tutsi getötet. Die Deza nahm das ernst. Die Schweiz und andere Länder trafen sich mit Habyarimana, um ihre Besorgnis über die politische Gewalt gegen die Tutsi-Bevölkerung auszudrücken.

Die Schweiz forderte sogar die Einhaltung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Zwischen Worten und Taten der Schweiz besteht jedoch eine Ambivalenz.

Denken Sie, dass die Schweiz etwas hätte tun können, um weitere Gewalt zu verhindern?

Das ist wirklich schwer zu sagen. Was wir sagen können, ist, dass die Schweiz eine langjährige Partnerin Ruandas war; sie hatte über ihren Berater enge Beziehungen zum Präsidenten.

Sie hat dem Regime Millionen von Franken an öffentlicher Hilfe zukommen lassen. Und Geld ist bekanntlich eine mächtige Sache. Wenn man das Geld kürzt oder die Hilfe an Bedingungen knüpft, kann man etwas bewirken.

Die Schweiz hat 1991 das Strukturanpassungsprogramm [wirtschaftspolitische Reformen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds] mit einem bilateralen Beitrag von zehn Millionen Franken unterstützt.

Ruanda hat von diesem Programm profitiert. Dieses Geld ermöglichte es dem Land, sich zu militarisieren und Waffen zu importieren, obwohl das Abkommen klar festlegt, dass diese nicht für militärische Zwecke verwendet werden dürfen. Diese Militarisierung ermöglichte das Ausmass der Verbrechen von 1994.

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Einige argumentieren, das sei auf ein Versagen der Aufsicht zurückzuführen. Ein Gebertreffen 1992 in Genf zeigt jedoch, dass man sich der Höhe der Militärausgaben bewusst war.

Dennoch akzeptierten die Geber:innen die Erklärung Habyarimanas, er müsse sein Land verteidigen, und hofften, dass die Militärausgaben nach dem Ende des Krieges sinken würden.

Das hätte auch anders laufen können. Man hätte Sanktionen verhängen oder die Hilfe an klare Bedingungen knüpfen und Druck auf das Regime ausüben können.

Wie war es möglich, dass Geberländer wie die Schweiz das damalige ruandische Regime so falsch einschätzten?

Die Geberländer glaubten, dass Ruanda ein Modellstaat für Entwicklung durch Liberalisierung sein könnte – der neoliberale Glaube, dass es für alle Lösungen eine universelle technische Lösung gibt und die politische Realität keine Rolle spielt.

Auch die Gewalt wurde von Anfang an falsch interpretiert. Ein Jahr vor dem Genozid erklärte ein Schweizer Diplomat dem Aussendepartement, es gebe einen individuellen, leidenschaftlichen Hass unter den Ruander:innen.

Diese Darstellung beruhte auf kolonialen Vorstellungen und rassistischen Stereotypen über Afrikaner:innen – sie seien impulsiv und gewaltbereit.

Man ging davon aus, dass es sich um Einzelfälle von Gewalt handelte und nicht um strukturelle oder organisierte Gewalt. Ich glaube, das hat die Aktionen damals stark beeinflusst.

Als Schweizerin möchte ich einen kleinen Beitrag zur Aufarbeitung der Rolle der Schweiz in Ruanda und des Genozids leisten. Viele Aspekte sind noch nicht aufgearbeitet worden.

Der Voyame-Bericht wurde 1996 verfasst – zu nahe am Genozid. Es wäre gut gewesen, zum 30. Jahrestag des Völkermords einen neuen Bericht [über das Schweizer Entwicklungsengagement in Ruanda] zu verfassen, mit allen heute verfügbaren Quellen.

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger

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