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Viele offene Fragen nach Einschränkung von Schutzstatus S

Aufräumen nach Bombenangriff in der Ukraine
Ein Feuer brach in einem zerstörten Gebiet aus, nachdem die russischen Streitkräfte am 20. Dezember 2024 eine Reihe von Raketenangriffen auf Kiew in der Ukraine gestartet hatten. Anadolu / Danylo Antoniuk

Die vorgeschlagenen Änderungen des Schutzstatus S für ukrainische Flüchtlinge in der Schweiz stossen auf Kritik und lassen Zweifel an ihren praktischen und humanitären Auswirkungen aufkommen.

Im Dezember 2024 beschloss das Schweizer Parlament, den Schutzstatus S für ukrainische Flüchtlinge zu verschärfenExterner Link. Dieser besondere Status soll nicht mehr für alle Ukrainer:innen gelten, sondern nur noch für solche, die aus Gebieten stammen, die durch Russland besetzt sind oder in denen Kampfhandlungen stattfinden.

Der S-StatusExterner Link ist seit März 2022 in Kraft und ermöglichte bis anhin rund 66’000 Schutzsuchenden aus der Ukraine ein beschleunigtes Asylverfahren mit vorübergehendem Aufenthaltsrecht. Staatsbürger:innen aus der Ukraine sind dadurch von langwierigen Verfahren ausgenommen und erhalten einen schnelleren Zugang zu Wohnraum, finanzieller Unterstützung und medizinischer Versorgung.

Sie dürfen ohne Wartezeit einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Zudem ist die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln im jeweiligen Wohnkanton kostenlos.

Der S-Status wurde in der Schweiz 1998 eingeführt (als Reaktion auf die Fluchtbewegungen im Zuge der Balkankriege), kam jetzt aber erstmals zur Anwendung – für ukrainische Flüchtlinge. Andere Flüchtlinge oder Migrant:innen müssen einen F-Status beantragen. Das jeweilige Verfahren ist langwieriger und der Status wesentlich restriktiver.

Der Entscheid des Schweizer Parlaments, die Schraube für ukrainischen Flüchtlinge anzuziehen, erfolgte nach einer langen Debatte im Parlament und unter Nichtregierungsorganisationen – notabene gegen den Widerstand der Regierung. Der Bundesrat hatte die zugrunde liegende MotionExterner Link zur Ablehnung empfohlen.

Die Umsetzung der neuen Regeln wirft viele Fragen auf, etwa diejenige, wie ein Kriegsgebiet in einem Land definiert wird, in dem die meisten Städte regelmässig beschossen werden.

Zudem stellt sich das Problem, ob die unterschiedliche Kategorisierung von Flüchtlingen aus ein und demselben Land diskriminierend ist und möglicherweise die Rechtsgleichheit verletzt.

Unterschiedliche Massstäbe

Die neuen Regeln wurden von einigen Medienschaffenden und Politiker:innen angeregt, die gewisse Gebiete der Ukraine für sicher halten. Sie sind der Meinung, dass nicht alle Anträge von Geflüchteten gleichbehandelt werden sollten.

«Die Rechte von Geflüchteten gemäss S-Status sorgen regelmässig für Spannungen und Diskussionen», sagt Cesla Amarelle, Professorin für öffentliches Recht und Migrationsrecht an der Universität Neuenburg.

«Diese Rechte sind in hohem Masse hybrid und stellen in gewisser Weise eine Art Bevorzugung für bestimmte Flüchtlinge dar.» Asylsuchende mit F-Status haben deutlich weniger Rechte als solche mit S-Status.

Die Situation nach einem russischen Raketenangriff in Kiew.
Die Situation nach einem russischen Raketenangriff in Kiew. Ukrinform / Nurphoto / Serhii Chuzavkov

Die von SVP-Ständerätin Esther Friedli eingereichte Motion wurde sowohl von den Mitte-Rechts-Parteien als auch von einigen Parlamentariern der Mitte und FDP unterstützt.

«Wir wollen die Schweiz für die echten Flüchtlinge aufnahmefähig erhalten. Deshalb wollen wir Unterschiede je nach Herkunftsgebiet einführen. Wer in Lviv lebt, ist nicht mit den gleichen Kriegsfolgen konfrontiert wie die Menschen in den östlichen Gebieten», sagte Peter Schilliger von der FDP-Fraktion in der Debatte im Nationalrat.

Der nahe der polnischen Grenze gelegene Ort Lviv (früher Lemberg) steht zwar nicht dauerhaft unter russischem Beschuss, ist aber von GranateneinschlägenExterner Link nicht verschont geblieben. Ist diese Stadt daher nicht als Kriegsgebiet einzustufen? Schilliger antwortete nicht auf eine Anfrage von SWI swissinfo.ch.

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Umsetzung der Regeln unklar

Gemäss den neuen Regeln haben Personen keinen Anspruch mehr auf den S-Status, die in Gebieten unter ukrainischer Kontrolle leben, in denen keine aktiven Kriegshandlungen stattfinden.

Es ist zudem vorgesehen, arbeitslose ukrainische Flüchtlinge stärker zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu drängenExterner Link, indem Integrationsmassnahmen wie das Erlernen der ortsüblichen Landessprache zur Pflicht gemacht werden. Wer sich nicht an die Weisungen hält, ist von Sanktionen bedroht. Diese könnten auch Kürzungen der Sozialhilfe bedeuten.

Die Regierung prüft derzeit, wie die vom Parlament angenommene Motion umgesetzt werden kann. Es ist noch nicht klar, wann die Änderungen in Kraft treten werden.

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) erklärt auf Anfrage, «dass sich für Geflüchtete aus der Ukraine, die in der Schweiz vorübergehenden Schutz erhalten haben und im Besitz des S-Status sind, vorerst nichts ändern wird».

Nina Schläfli
Nina Schläfli Keystone / Alessandro Della Valle

Viele offene Fragen

Die neuen Regeln betreffen sowohl die nationale Sicherheit der Schweiz als auch die humanitären Verpflichtungen des Landes.

Sie haben sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Schweiz eine Debatte ausgelöst, insbesondere darüber, wie sie sich in die allgemeinen europäischen Migrationstrends einfügen.

Nina Schläfli, Nationalrätin von der linken Sozialdemokratischen Partei, stimmte gegen die neuen Regeln. Ihre Hoffnung ist, «dass alle Flüchtlinge in der Schweiz Schutz finden können».

«Die Entscheidung, einigen Menschen diesen Schutz-Status zu verweigern, widerspricht dem Selbstverständnis der Schweiz und dem Engagement für den Frieden in der Ukraine. Als neutrales Land sind unsere Unterstützungsmöglichkeiten für Länder, die sich im Krieg befinden, begrenzt. Umso mehr sollten wir uns in den Bereichen engagieren, in denen wir wirklich helfen können», meint sie.

Im November 2024 verzeichnete die Schweiz 2’325 Asylgesuche, was einem Rückgang von 26 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht.

Afghanistan war das Hauptherkunftsland, gefolgt von der Türkei, Algerien und Marokko. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat im Jahr 2024 25’884 Gesuche registriert, gegenüber 27’980 im Jahr 2023. Davon waren 356 Zweitgesuche und 1969 Erstanträge.

Das SEM hat 2859 Anträge bearbeitet und etwas mehr als einen Viertel genehmigt. Zudem verliessen 859 Personen ohne Aufenthaltsrecht die Schweiz.

Was ist ein sicheres Gebiet

Die wichtigste Frage, die sich durch die neuen Regeln ergibt, ist die Frage, wie ein Kriegsgebiet überhaupt definiert wird in einem Land, das sich im Krieg befindet.

Und wie könnten sich diese Einschränkungen auf die Rechte und den Schutz von ukrainischen Flüchtlingen auswirken, die nicht mehr für den S-Status in Frage kommen?

«Der Bundesrat muss festlegen, welche Regionen als ’sicher› gelten: Das wird schwierig werden», sagt Cesla Amarelle.

Der Schweizer Journalist und Kriegsberichterstatter Kurt PeldaExterner Link, der für die Gruppe CH Media (Aargauer Zeitung) aus der Ukraine berichtet, ist hingegen der Ansicht, «dass Sirenengeheul noch kein Fluchtgrund ist».

Es gebe gute Gründe, den Schutzstatus S für Menschen aus der Ukraine einzuschränken. Die Schweiz müsse sich mehr auf ihre Hilfe im humanitären Bereich konzentrieren.

Daniel Gerny von der Neuen Zürcher ZeitungExterner Link (NZZ) bezeichnete den Parlamentsentscheid in einem Kommentar hingegen als Fehler: «Der Kurswechsel ist unausgegoren und in der Praxis nur schwer umsetzbar. Zudem schadet er dem internationalen Ansehen der Schweiz.»

Der zuständige Bundesrat und Justizminister Beat Jans begründete am 2.Dezember im Parlament die ablehnende Haltung der Schweizer Regierung: «Diese Motion verkennt die Sicherheitslage in der Ukraine; sie untergräbt die europäische Solidarität und spielt damit Russland in die Hände. Sie belastet unser Asylsystem, ohne ihr Ziel zu erreichen.»

Monika Bickauskaite-Aleliune
Monika Bickauskaite-Aleliune zVg

Die in London wirkende politische Beraterin Monika Bickauskaite-Aleliune, die bereits für das Legatum Institute und beim German Marshall Fund tätig war, sagt: «Die neuen Schweizer Regeln sind problematisch, da die Ukraine insgesamt unter dem Krieg Russlands leidet.»

Und weiter: «Russland hat in diesem Jahr zwölf Grossangriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur verübt. Viele osteuropäische Länder nehmen trotz begrenzter Kapazitäten doppelt so viele Geflüchtete auf wie die Schweiz und tragen eine viel grössere Last», sagt sie. Polen beherbergt nach UNO-Angaben fast eine Million Flüchtlinge.

Bickauskaite-Aleliune zieht eine Parallele zum Zweiten Weltkrieg, «als die Neutralität der Schweiz und ihre restriktive Einwanderungspolitik verheerende Folgen für die Juden hatten, die vor der Verfolgung durch die Nazis flohen». Heute habe die Schweiz die Chance, einen anderen Weg einzuschlagen.

Kriegsgebietstourismus für Schweizer Politiker

«Der Schweizer Ansatz ist sicherlich diskriminierend», sagt seinerseits Dmytro Nykyforov, ein ukrainischer Anwalt aus Kiew in einem Gespräch via Zoom.

Als Beispiel führt er einen Mann an, der am Tag des Interviews, dem 20. Dezember, bei einem Bombenanschlag in Kiew ums Leben kam. Insgesamt wurden 12 Menschen verletzt, von denen sechs ins Spital eingeliefert werden mussten.

Auch Wohnhäuser, Bürogebäude, ein Hotel und eine Heizungsanlage wurden beschädigt, so dass 630 Gebäude, medizinische Einrichtungen und Schulen ohne Heizung sind.

David Sakvarelidze
David Sakvarelidze zVg

Kiew steht weiterhin unter der Kontrolle der ukrainischen Regierung, so dass Flüchtlinge aus der ukrainischen Hauptstadt nach den neuen Regeln nicht für den S-Status in Frage kämen.

der ukrainische Politiker David Sakvarelidze
Der ukrainische Politiker David Sakvarelidze, ein ehemaliger Staatsanwalt und Rechtsanwalt, lebt in Kiew und richtet einen offenen Aufruf an Schweizer Politiker:innen. «Der Ort, der heute von den russischen Bomben getroffen wurde, ist ein zentraler Ort in Kiew», sagt er gegenüber swissinfo.ch. «Ich schlage vor, dass Schweizer Politikerinnen und Politiker in meine Wohnung kommen und sehen, wie es dort aussieht.» Dmytro Nykyforov

Im Januar 2023 startete Nykyforov das Projekt War ToursExterner Link (Militärtourismus) in der Ukraine mit dem Ziel, das Bewusstsein für die Folgen des Krieges in seinem Land zu schärfen.

«Ich möchte alle Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die dieses Gesetz verabschiedet haben, zu einer Tour durch Charkiw einladen, damit sie sehen können, wie die Menschen in einer aktiven Kampfzone leben», sagt er und verweist auf die zweitgrösste Stadt der Ukraine.

«Wir laden sie auch zu einer Tour durch Kiew ein, damit sie den Unterschied spüren und hinterfragen, ob das Leben in den Grossstädten wirklich so friedlich ist, wie es aus dem Ausland erscheinen mag.»

Der Politiker David SakvarelidzeExterner Link, ein ehemaliger Staatsanwalt und Rechtsanwalt, lebt ebenfalls in Kiew und richtet ebenfalls einen offenen Aufruf an Schweizer Politiker:innen.

«Der Ort, der heute von den russischen Angriffen getroffen wurde, ist ein zentraler Ort in Kiew», sagt er gegenüber swissinfo.ch. «Ich schlage vor, dass Schweizer Politiker:innen zu mir kommen und in meiner Wohnung wohnen, um zu sehen, wie es dort ist.»

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Editiert von Virginie Mangin/ts, Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob

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