Warum Japan die Todesstrafe beibehält – aber sie immerhin in Frage stellt
Japan gehört mit den Vereinigten Staaten zu den wenigen OECD-Länder, welche die Todesstrafe beibehalten haben. Der japanische Strafrechtsexperte Makoto Ida erklärt, warum das Land trotz internationalem Druck bei der Todesstrafe bleibt.
In den letzten zehn Jahren hat Japan über 90 Menschen hingerichtet. Das Land gehört mit den USA zu den wenigen Demokratien und Industrieländern, die die Todesstrafe anwenden.
Die grosse Mehrheit der Japaner:innen befürwortet die Todesstrafe als letztes Bestrafungsmittel. Die Schweiz und die Europäische Union haben von Japan mehrfach die Abschaffung der Todesstrafe gefordert.
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Bei der Todesstrafe kennt die Schweiz keine Neutralität
Dass Japan die Todesstrafe bald abschafft, ist sehr unwahrscheinlich. Doch immerhin ist eine Debatte entstanden, seit eine Arbeitsgruppe des japanischen Anwaltsverband im November 2024 ihren Expertenbericht veröffentlicht hatte.
Denn die Empfehlung der Expert:innen lautet, dass das System der Todesstrafe in der jetzigen Form nicht fortbestehen kann. Im Bericht werden die Hauptprobleme in den Bereichen Gefahr von Fehlurteilen, Opferperspektive, Hinrichtungsverfahren und Offenlegung von Informationen aufgezeigt.
Der Bericht fordert von Regierung und Parlament ein öffentliches Gremium, das diese Fragen gründlich untersucht und konkrete Vorschläge für eine Reform zur Abschaffung oder Sistierung der Todesstrafe vorlegt.
Im Gespräch mit SWI swissinfo.ch erklärt Makoto Ida, der Vorsitzende der Gruppe und Professor der Chuo University Law School, die Überlegungen der Expert:innen, die Situation in Japan und warum das Land die Todesstrafe bis heute beibehält.
Makoto Ida, geboren 1956, ist seit 2016 Professor an der Chuo University Graduate School of Law. Der Strafrechtsexperte war Mitglied des japanischen Wissenschaftsrats, Vorstandsmitglied der japanischen Vereinigung für Strafrecht und Mitglied des Legislativrats.
Er hat an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln promoviert und wurde von der Universität des Saarlandes sowie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Er wurde 2015 mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland und 2023 mit der Medaille am Bande in Purpur ausgezeichnet.
SWI swissinfo.ch: Der Bericht Ihrer Arbeitsgruppe kritisiert die Todesstrafe als schädlich für das nationale Interesse Japans. Was bedeutet das?
Makoto Ida: Es geht um das internationale Image Japans. Wenn sich Japan zum Beispiel kritisch zu Menschenrechtsfragen in anderen Ländern äussert, könnte die andere Seite reagieren mit: «In Ihrem Land gibt es noch die Todesstrafe.»
Das schmälert Japans Glaubwürdigkeit und schwächt seine Stimme in globalen Diskussionen über Menschenrechte. Der Ruf Japans wird geschädigt, wenn es als zweit- oder drittklassiges Land in Bezug auf Menschenrechtsstandards wahrgenommen wird.
In Europa ist der Glaube tief verwurzelt, dass der Staat niemals ein Menschenleben nehmen sollte, egal unter welchen Umständen. Aus meiner Sicht unterscheidet sich das japanische Bewusstsein für Menschenrechte in dieser Hinsicht deutlich von dem europäischen.
Wenn in Japan über die Menschenrechte von Tätern diskutiert wird, gibt es immer Gegenargumente: «Was ist mit den Menschenrechten der Opfer?»
Es ist nicht einfach, dies mit einer einzigen, einfachen Phrase wie «Menschenrechtsgarantien» zu beantworten und die Abschaffung der Todesstrafe zu erreichen.
Stattdessen wären viele Menschen wahrscheinlich überzeugter gegen die Todesstrafe, wenn man sie fragen würde, ob es in Ordnung ist, Menschen jahrzehntelang unter grausamen Bedingungen einzusperren. Wir sollten dies konkreter diskutieren.
Die Schweiz und die EU haben Japan wiederholt aufgefordert, die Todesstrafe abzuschaffen. Wird der Druck aus dem Ausland Wirkung zeigen?
Wohl kaum dafür, die Todesstrafe direkt abzuschaffen, aber es könnte allenfalls zu einer Verlangsamung der Hinrichtungen führen. In Südkorea zum Beispiel ist die Todesstrafe zwar noch in Kraft, aber Hinrichtungen werden dort nicht mehr vollstreckt. Dies könnte ein möglicher Ansatz sein, den Japan in Betracht ziehen könnte.
Im Oktober wurde Iwao Hakamada, der seit 1968 wegen mehrfachem Raubmord in der Todeszelle sass, in einem Wiederaufnahmeverfahren für unschuldig befunden und freigesprochen. Rückt mit Hakamadas Fall die Abschaffung der Todesstrafe näher?
Ich glaube nicht, dass dieser Fall ein entscheidender Faktor sein wird. Manche Jurist:innen und Teile der Bevölkerung scheinen der Meinung zu sein, dass der Freispruch nur erfolgte, weil die Beweislage unzureichend war – und nicht, weil eine unschuldige Person zu Unrecht verurteilt wurde.
Auch die Generalstaatsanwältin hat öffentlich erklärt, dass sie den Freispruch nicht akzeptieren könne.
Bei dem Treffen der Arbeitsgruppe wurde viel Zeit darauf verwendet, Massnahmen für die Opfer zu erörtern.
Japan befindet sich heute in einer Ära, die sich auf die Opfer konzentriert. Es gibt eine absolute Mehrheit für die Todesstrafe, angetrieben durch die Gefühle der Hinterbliebenen: Wenn mein Familienmitglied getötet wird, sollte der Täter natürlich mit dem Tod bestraft werden.
Die Todesstrafe darf jedoch nicht auf diesen Gefühlen fussen. Doch wir müssen sie einbeziehen, wenn wir einen Fahrplan für die Abschaffung der Todesstrafe erstellen.
In Japan wird die Opferhilfe in erster Linie von der Polizei und der Staatsanwaltschaft geleistet. Die Einrichtung unabhängiger Organisationen, wie die schwedische Agentur für Verbrechensopfer,Externer Link könnte für Japan von Vorteil sein, da sie unabhängig von den Ermittlungsbehörden Unterstützung bietet.
Die Schweiz kennt die lebenslängliche Verwahrung. Der Bericht Ihrer Arbeitsgruppe schlägt auch vor, die Todesstrafe durch eine lebenslängliche Strafe ohne Bewährung zu ersetzen.
In Japan ist die lebenslange Freiheitsstrafe de facto bereits zu einer echten lebenslangen Haftstrafe geworden. Für mich sollte vielmehr diskutiert werden, wie Massnahmen ergriffen werden können, um schwere Verbrechen wie die Vorfälle der Aum-Sekte im Vorfeld zu verhindern.
Die japanische Gesetzgebung geht hart gegen bereits begangene Verbrechen vor, ist aber im Vergleich zu Ländern in Europa und den USA weniger wirksam bei der präventiven Verhinderung abscheulicher Verbrechen.
Europa ist – jedenfalls für mein Empfinden – eine Überwachungsgesellschaft und ergreift harte Massnahmen. Die Behörden können Gespräche und E-Mails abhören, um Beweise zu sammeln, noch bevor ein Verbrechen begangen wird, wenn ein Verdacht besteht.
In Deutschland zum Beispiel gibt es die Sicherheitsverwahrung. Personen, bei denen als wahrscheinlich gilt, dass sie erneut schwere Verbrechen begehen, können lebenslang eingesperrt werden.
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Was heisst «lebenslänglich» im Schweizer Strafrecht?
Sind Sie selbst gegen die Todesstrafe?
Die Todesstrafe muss abgeschafft werden, auch wenn die Gefahr eines Anstiegs der Kriminalität besteht. Der Rechtsstaat erlaubt es uns nicht, alles zu tun, was wir wollen, nur weil es effektiv erscheint.
In Japan ist nur sehr wenig darüber bekannt, wie die Hinrichtungen durchgeführt werden. Welche Verbesserungen würden Sie in Hinblick auf die Transparenz wünschen?
Das Justizministerium vertritt offiziell den Standpunkt, dass solche Informationen nicht veröffentlicht werden können, weil es sich um persönliche Daten handelt.
Wir empfehlen jedoch, dass zumindest die Umstände von Hinrichtungen und die Gründe für eine länger dauernde Inhaftierung davor veröffentlicht werden sollten, ohne dass Personen identifiziert werden.
Ohne Transparenz können wir nicht einmal beurteilen, ob zum Beispiel das Erhängen eine angemessene Hinrichtungsmethode ist.
Die Abschaffung der Todesstrafe wurde weltweit durch politische Initiativen vorangetrieben. In japanischen politischen Kreisen verlaufen die Diskussionen aber sehr langsam.
Ein Parlamentarier, der gegen die Todesstrafe ist, sagte zu mir: «Wenn ich mich in meinem Wahlkreis für die Abschaffung der Todesstrafe einsetze, werde ich sofort Tausende von Stimmen verlieren.»
Die Todesstrafe ist für die japanischen Bürger normal. Darum haben die Politikerinnen und Politiker das Gefühl, dass sie sich nicht öffentlich für die Abschaffung positionieren können.
In einer kürzlich durchgeführten UmfrageExterner Link in der Schweiz gaben 20% der Befragten an, dass sie die Wiedereinführung der Todesstrafe unterstützen würden.
Auch in Deutschland zeigen Meinungsumfragen, dass 20% bis 30% die Todesstrafe befürworten. Doch in Japan sind 80% dafür. Trotzdem sollte eine Diskussion stattfinden.
In Japan hat der Oberste Gerichtshof 1948 entschieden, dass die Todesstrafe verfassungsgemäss ist. Sie vertreten hingegen den Standpunkt, dass die Todesstrafe gegen die Verfassung verstösst.
Ich bin der Meinung, dass die Verfassung ein historisches Dokument ist, das im Wandel der Zeit natürlich unterschiedlich interpretiert werden kann. Die japanische Verfassung sollte nicht auf die Auslegung von 1946 festgelegt werden, als sie in Kraft gesetzt wurde.
Bestrafung dient der Aufrechterhaltung der Geltung der Strafrechtsnormen, das heisst, einem öffentlichen Interesse. Aber ist es dann in Ordnung, Menschen, die nicht sterben wollen, zum Wohle der Gesellschaft und des Landes zu töten? Meines Erachtens entspricht dies nicht den Grundgedanken der geltenden Verfassung.
Japan hat eine höhere Hürde für eine Verfassungsreform als die Schweiz. Ist es möglich, die Todesstrafe abzuschaffen, ohne die Verfassung zu ändern?
Die Verfassungswissenschaft ist sich inzwischen einig, dass die Verfassung die Abschaffung der Todesstrafe nicht verbietet. Eine Änderung des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung ist ausreichend.
Glauben Sie, dass Japan die Todesstrafe in naher Zukunft abschaffen wird?
Unwahrscheinlich. Ein mögliches Szenario wäre eine De-facto-Aussetzung der Todesstrafe für etwa 20 Jahre. Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass das Land ohne sie auskommen kann, könnte Japan zur Abschaffung übergehen.
Editiert von Benjamin von Wyl
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